„El Greco malt den Großinquisitor“

Eine rekonstruierende Re-Lektüre

Andreas Mertin

Das Böse bannen

1936 erschien ein Text von Stefan Andres, den man ohne Mühe auch auf die Zeitumstände und die nationalsozialistische Diktatur beziehen kann, die alles kontrollierende Macht, die jeden vernichten wollte, der andersartig und anders denkend war.

„Uns scheint, daß der Name eines Menschen das Böse nicht bannen kann, wie Wir zur Zeit in allen Ländern Europas sehen. Im Namen des Menschen wird der Hochmut und daraus der Irrtum und daraus die Zwietracht ... beschworen“.[1]

Dennoch durfte das Buch erscheinen, wohl deshalb, weil den Nationalsozialisten die Kritik an der katholischen Kirche wichtiger war, als die Übertragung auf die Verhältnisse im „3. Reich“.


Die Erzählung selbst ist schnell paraphrasiert: Der in Toledo lebende Maler El Greco bekommt vom Großinquisitor Kardinal Fernando Niño de Guevara den Auftrag, ein Porträt des Geistlichen herzustellen. Es ist der gleiche Inquisitor, der für die Aburteilung und Verbrennung des Bruders seines Freundes, des Arztes Cazalla verantwortlich ist. El Greco reist von Toledo nach Sevilla, um den Kardinal zu malen. Während der Sitzungen erleidet dieser eine Gallenkolik und lässt deshalb den Arzt Cazalla rufen, damit er ihn heile. Damit ist die Herausforderung beschrieben, vor der die Handlungsfiguren stehen: soll El Greco das Porträt malen und wenn ja, wie? Was ist die Wahrheit der Malerei? Und soll Cazalla ausgerechnet jenen Mann behandeln, der seinen Bruder hat töten lassen? Und wenn ja, wie? Was ist die Wahrheit der Medizin?

Das im Zentrum stehende Gemälde gibt es tatsächlich, wie auch alle anderen Gemälde in der Erzählung. Das 171x108 cm große Ölbild wurde um 1600 vermutlich in Toledo geschaffen und befindet sich heute im Metropolitan Museum of Art in New York.[2] El Grecos Signatur des Gemäldes findet sich auf dem zerknitterten Blatt auf dem Boden vor dem Großinquisitor.

Vor-Bilder

Es ist wahrscheinlich nicht das erste Werk, auf dem El Greco einen Kardinal in dieser Art porträtiert. Von 1572 aus seiner Zeit in Rom stammt das Greco zugeschriebene und von der Konzeption her verwandte Bildnis des Charles de Guise, Kardinal von Lothringen, das heute im Dogenpalast in Venedig hängt.

„Der sitzende Kardinal hält mit seiner rechten Hand ein Buch offen, in dem das Entstehungsjahr und das Alter des Dargestellten angegeben sind. Der Papagei im Fenster soll die Ambition des Kardinals auf das Amt des Papstes aufzeigen.“[3]

Auf einem posthumen Stich des Jahres 1579 ist der Papagei dezent durch ein offenkundig weniger verfängliches Kruzifix ersetzt.[4] Dieses Bild entfaltet aber keinesfalls jene Ambivalenz der Macht, die die Darstellung des Fernando Niño de Guevara auf dem Bild von 1600 auszeichnet, die es unabhängig von der psychologischen Studie von Stefan Andres hat.

Als Ideenlieferanten für Grecos Werkkonzeption wird u.a. ein Porträt des Papstes Paul III. von Tizian von 1546 angegeben (Abb. unten links), aber ich finde Raffaels etwas frühere Darstellung des Papstes Leo X. mit den Kardinälen Gulio de‘ Medici und Luigi de‘ Rosso von 1518/19 (Abb. unten rechts) ebenso naheliegend.

Macht-Darstellung

Alle diese Bilder handeln explizit von der Macht, zum Teil sogar vom Nepotismus, vor allem aber von der Inszenierung der Macht, von der Durschaubarkeit der Macht, vom künstlerischen Widerstand gegen die Macht und nicht zuletzt auch von der ästhetischen Dekonstruktion der Macht (jenes Motiv, auf das Stefan Andres in seiner Erzählung so viel Wert legt). Um  Macht geht es nicht nur, aber auch, wenn wir auf die scharlachrote bzw. kardinalrote Farbe blicken. Seit dem 11. Jahrhundert hat die Kirche ihre höchsten Würdenträger mit dieser Farbe ausgestattet und seit 1295 müssen nach einem Erlass des Papstes Bonifatius VIII. – jenem Papst, der seinen Vorgänger Coelestin V. zum ‚freiwilligen‘ Amtsverzicht überredet hat – alle Kardinäle diese rote Farbe tragen. Symbolisch soll die Farbe sicher an das Blut der Märtyrer erinnern und ebenso die Kardinäle an ihre notwendige Opferbereitschaft.

Auf Raffaels Kunstwerk Anfang des 16. Jahrhunderts erscheint das auch dramatisiert im Bild dargestellt, denn mit Hilfe einer Lupe liest und meditiert Leo X. gerade eine Prachtbibel mit Passionsdarstellungen. Unter anderem sind die Kreuzigung und die Kreuzabnahme Christi erkennbar. Der abgebildete Leo X. ist aber auch ein gutes Beispiel dafür, wie wenig Anspruch und Wirklichkeit übereinstimmen. Der zweitgeborene Sohn Lorenzo de‘ Medicis sollte schon als Kind zum Erzbischof erhoben werden, was nur daran scheiterte, dass der alte Erzbischof noch gar nicht verstorben war. Noch bevor er acht war, wurde er Domherr von Florenz, mit 14 Jahren sogar Kardinal. Mit 16 nahm er 1492 an seinem ersten Konklave teil. 1513, mit 37 Jahren, wurde er schließlich zum Papst gewählt, wobei er nach der Papstwahl erst zum Priester und dann zum Bischof geweiht werden musste, da er bis dahin überhaupt kein Geistlicher war. Für den Neubau des Petersdoms intensivierte er den Ablasshandel, was dann zur Gegenreaktion Martin Luthers und damit zur Reformation führte. Von den Anliegen der Reformation hat dieser Papst sicher wenig verstanden, von der Macht umso mehr.  

Nicht anders verhält es sich mit dem zweimal von Tizian porträtierten Papst Paul III. Er hat den später grassierenden Kardinalnepotismus zur Institution gemacht. Als zweiter Sohn einer Landadelsfamilie wurde ihm von der Familie ein Platz in der Kurie gekauft. „Papst Alexander VI., der ein Verhältnis mit Alessandro Farneses Schwester Giulia hatte, ernannte ihn auf Grund der Einwirkung Giulias im Jahr 1493 zum Kardinaldiakon und Generalschatzmeister der römischen Kirche ... Mit der Geliebten seiner Jugendzeit, Silvia Ruffini, zeugte Kardinal Farnese in der Zeit vor seiner Priesterweihe eine Tochter (*1500) und zwei Söhne. Diese ließ er päpstlich legitimieren, um die eigene Familie vor dem Aussterben zu bewahren.“[5] Obwohl aussichtsreicher Konkurrent in der Papstwahl des eben vorgestellten Leo X. wurde er erst dessen Nach-Nachfolger im Jahr 1534 im Alter von 66 Jahren. Im gleichen Jahr ernannte er zwei seiner Enkel zu Kardinälen.

Auf Tizians Bild von 1546 (das erste hatte er vermutlich 1543 bei einem kurzen Treffen in Bologna gemalt) sehen wir Paul II. mit zwei seiner Enkel, links den Kardinal Alessandro Farnese, rechts den Herzog Ottavio Farnese. Das Bild ist offenkundig unfertig, so fehlt nicht nur die rechte Hand des Papstes, sondern auch andere Partien des Bildes sind erst angezeichnet. Über die Gründe der Nicht-Fertigstellung gibt es nur verschiedene Spekulationen, die vom Dissens mit dem Auftraggeber über die Machart des Bildes bis zum Wechsel der politischen Konstellationen reichen. Die Machtstellung des Papstes wird aus der Haltung des Herzogs deutlich, die bereits errungene Macht des Kardinals im Hintergrund aber ebenso – er gehört zu den Strippenziehern der damaligen Kirchengeschichte.

Blicken wir noch kurz auf das dritte Gemälde – Grecos Darstellung des Charles de Guise aus dem Jahr 1572. Auch Charles de Guise (1524-1574) war ein zweiter Sohn einer adeligen Familie. Mit 14 Jahren zum Erzbischof von Reims ernannt, krönte er mit 23 Jahren Heinrich II. und wurde einen Tag später zum Kardinal ernannt. Auch er war dafür bekannt, dass er Verwandte auf einflussreiche Posten zu bringen suchte. Bei der Unterdrückung und Verfolgung der Hugenotten spielte er eine wichtige Rolle. Der Kunst und Kultur gegenüber war er aufgeschlossen und förderte sie.

Das Bild, das Greco von ihm zeichnet, ist eher beiläufig, das einzig Bemerkenswerte ist der Papagei. Dessen Brisanz wird erst verständlich, wenn man den Physiologus, eine gerade auch für die Kunst einflussreiche frühchristliche Naturlehre zu Rate zieht:

„Vom Papagei. Der Physiologus sagt von ihm, dass es einen Vogel namens Sittich gibt, klein wie ein Rebhuhn. Es kann die Stimmen des Menschen nachahmen, er spricht auch in gleicher Weise und unterhält sich wie ein Mensch. Der Heilige Basilius sagt: Ahme auch du, Mensch die Stimme der Apostel nach, die Gott priesen, und preise auch selbst, ahme den Wandel der Gerechten nach, damit du gewürdigt werdest, ihre lichtglänzenden Sitze zu erreichen.“[6]

Imitatio Christi um Papst zu werden – darum geht es. „Damit du gewürdigt werdest, ihre lichtglänzenden Sitze zu erreichen“ – als Greco den Kardinal malte, war dieser 48 Jahre alt, also durchaus Papabile, sollte dann aber doch nur noch zwei Jahre leben. Wenn Greco allerdings die Darstellungen von Tizian gekannt hat, dann hat er den Kardinal so porträtiert, dass dessen Machtintentionen für jeden mit der christlichen Symbolik Vertrauten erkennbar wurden.


Exkurs

Wirkungsgeschichtlich in einem doppelten Sinne müssen wir noch ein 50 Jahre später entstandenes Porträt-Gemälde berücksichtigen: Diego Velázquez Bild von Papst Innozenz X, eines der wichtigsten Papst-Porträts der Kunstgeschichte. Die Wikipedia fasst das zu Sehende so zusammen:

Der für seine realistischen Portraits berühmte spanische Maler Diego Velázquez malte 1650 in nur wenigen Sitzungen einen Pontifex, der alles andere als ein frommer und gütiger Kirchenvater war. Im Gegenteil lassen der misstrauische, durchdringende Blick und die zusammengepressten Lippen auf einen illusionslosen Machtpolitiker schließen. Der für seine Zornesausbrüche gefürchtete Papst soll es mit den Worten „troppo vero“ („allzu wahr“) kommentiert haben.

Hier wird die Außenfläche der Macht gezeigt, ihr Erscheinungsbild, mit dem die Öffentlichkeit eingeschüchtert werden soll.

Wirkungsgeschichtlich bedeutsam ist dieses Bild nicht nur, weil es zur Geschichte der kirchlichen Machtbilder gehört, sondern vor allem, weil der britische Maler Francis Bacon 1953 das Gemälde in seiner Studie nach Velazquez Porträt des Papstes Innozenz X wieder aufgriff, es dramatisierte und es zugleich in sein Gegenteil kehrte. Francis Bacon (1909-1992) ist sicher im Rahmen des 20. Jahrhunderts eine künstlerische Ausnahmeerscheinung, Bilder voller Leidenschaft und Gewalt, zugleich unauslöschbar eindrücklich wie etwa das Triptychon „Drei Studien zu Figuren am Fuße einer Kreuzigung“ von 1944. Nach 1950 setzt er sich in 45 Arbeiten mit dem Papstbild von Velazquez auseinander, indem er es z.B. mit dem Motiv des schreienden Kindermädchens aus Sergej Eisensteins Filmklassiker Panzerkreuzer Potemkin kombiniert.


Die Farbe Rot

Insgesamt dürfte es bei allen in Betracht gezogenen Gemälden gerade auch um den erschreckenden Effekt des Rots gegangen sein, jenen, der dem Betrachter das Gericht ankündigt. Der Schriftsteller Leo Perutz hat in seinem Roman „Der Meister des Jüngsten Tages“ dieser Wirkung der Farbe Rot ein Denkmal gesetzt – ich habe an anderer Stelle des Magazins darauf hingewiesen. Er nannte diese Farbe Drommetenrot, eine Farbe von der man sagen kann, sie sei „die Farbe der Sonne am Tage des Jüngsten Gerichts, eine Farbe, die unmittelbar sinnlich affiziert und im Moment ihrer Erscheinung und keinesfalls erst vermittelt das Jüngste Gericht über den Wahrnehmenden bringt. Drommetenrot verweist nicht auf das Jüngste Gericht, es vollzieht das Jüngste Gericht selbst.“ Oder, wie es im Roman heißt:

„In diesem Augenblick erschien am Himmel ein ungeheures Meer von Glut, das loderte und brannte in einer Farbe, die ich nie zuvor gesehen hatte, und ich kannte ihren Namen, Drommetenrot hieß sie, meine Augen waren geblendet von dem Orkan der grauenvollen Farbe, Drommetenrot war ihr Name, und sie leuchtete dem Ende aller Dinge.“[7]

Es ist kaum ein Zufall, dass alle Künstler in der Gestaltung ihrer Porträts auf die Farbe Rot so viel Wert legen. Auf Weltgerichtsdarstellungen wie etwa bei Stephan Lochner aus dem Jahr 1435 ist es selbstverständlich Christus, der als Weltenrichter die Farbe Rot trägt und die Päpste als seine Stellvertreter sowie deren Stellvertreter vor Ort tun es ihm in den hier betrachteten Inszenierungen gleich. Hier schlägt die Macht unmittelbar visuell durch.

Die Inquisition

Der erzählerische Text von Stefan Andres ist natürlich vor allem eine psychologische Einfühlung in den Maler El Greco im Gegenüber zu einer als unerbittlich gezeichneten Institution. Er entstand nicht zuletzt unter dem Eindruck der Ereignisse am Anfang des 20. Jahrhunderts. Andres dramatisiert und spitzt zu. Über den von ihm gemalten Fernando Niño de Guevara wissen wir wenig, aber er gehört definitiv nicht in eine Reihe mit den bisher benannten kirchlichen Würdenträgern. 1541 in Toledo geboren wird er ‚erst‘ mit 55 Jahren 1596 zum Kardinal erhoben, 1600 wird er zum Großinquisitor ernannt und 1601 zum Erzbischof. Großinquisitor bleibt er aber nur bis zu seiner Absetzung 1602, Erzbischof bis zu seinem Tod 1609. Wir haben auf dem Gemälde also einen etwa 60 Jahre alten Mann vor uns, der zu dieser Zeit Leiter der Inquisitionsbehörde, vielleicht aber auch schon Erzbischof ist. Jedenfalls ist er auf dem Höhepunkt seiner Macht. Die Position des Großinquisitors gibt es in Spanien seit 1483. Anfangs ging es darum, Juden und Mauren zu ‚enttarnen‘, die nur scheinbar zum Christentum konvertiert waren. Es ist vielleicht nicht uninteressant, sich das Prozedere einmal zu vergegenwärtigen:

„Das Verfahren der Inquisition war auch in Spanien standardisiert: Angeklagte wurden zunächst verwarnt und nur dann verhört, wenn sie die Warnungen nicht beachteten. Die ersten Verhöre fanden durch Theologieprofessoren und Rechtsgelehrte statt. Als Beweise galten Zeugenaussagen bezüglich Beobachtungen und Charakter, öffentlichen Aussagen und mangelnder Frömmigkeit der Beschuldigten – großzügige Spenden an die Kirche waren dabei ein bewährter Weg, um Frömmigkeit zu beweisen. Gleichzeitig konnten Angeklagte mit solchen Spenden verhindern, dass ihr Vermögen eingezogen wurde, da es üblich war, deren Besitz bereits bei der Verhaftung einstweilig zu beschlagnahmen. Die Spanische Inquisition wandte die Folter an, wenn deutliche Hinweise auf die ‚Schuld‘ eines nicht geständigen Beschuldigten vorlagen. Eine von der Spanischen Inquisition oftmals angewandte Form der Zermürbung war die Vorenthaltung des eigentlichen Anklagegrundes bei gleichzeitiger Gefängnishaft. ...

Die Todesstrafe kam für reuige, nicht rückfällige Häretiker nicht zur Anwendung. Unter den verschiedenen möglichen Strafen war Einzug von Vermögen ein häufiges Urteil, da sich die Inquisition durch das Eigentum der Ketzer finanzierte. Wenn ein Häretiker sich weigerte umzukehren, wurde er zur Exekution den königlichen Gerichten übergeben, was bei etwa zwei Prozent der Fälle geschah. Viele überführte Häretiker entkamen jedoch während der ersten Stadien der Untersuchung und wurden nur „in effigie“ (symbolische Verbrennung einer Strohpuppe) verbrannt. Viele ältere Darstellungen, die der Spanischen Inquisition allerhand Gräueltaten zusprachen, waren Propaganda religiöser und politischer Gegner Spaniens – insbesondere seit der Französischen Revolution. ...

Von den 44.647 bekannten Prozessen, die von der Spanischen Inquisition geführt wurden, führten 1,8 Prozent zu Todesurteilen (826 Personen) und weitere 1,7 Prozent (778 Personen) zur „Verbrennung in effigie“, da die Angeklagten unbekannten Aufenthalts waren.[8]

Es ist schnell einsichtig, dass das, was wir aktuell mit dem Wort „Inquisition“ verbinden und das, was damals wirklich etwa in Spanien passierte, sehr unterschiedliche Dinge sind und nur wenig miteinander zu tun hat. „Inquisition“ ist zu einem Sammelbegriff kirchlichen Schreckens geworden. Davon zehrt auch die Erzählung von Andres.

Die Erzählung

Von Anfang an charakterisiert Andres das Verhältnis von El Greco zum Großinquisitor anhand verschiedener Gemälde des Künstlers. Es beginnt mit der Darstellung des Martyriums des Hl. Mauritius und der thebäischen Legion, die El Greco 1580-82 im Auftrag Philipp II. für den Hochaltar in El Escorial gemalt hat.[9] Das Bild selbst stellt eine Wende im Werk von Greco dar, insofern er sich vom Naturalismus abwendet und spirituelle Phänomene zum Ausdruck zu bringen sucht. Das Martyrium steht plötzlich nicht mehr im Zentrum des Geschehens, sondern ist in die zweite Ebene verbannt, während im Vordergrund sich vier Häscher unterhalten und das auch noch im Stil einer Sacra Conversazione. Philipp II. gefiel das Bild ganz und gar nicht, weshalb es nicht auf dem Altar platziert wurde, aber immerhin Aufnahme in dessen Privatsammlung fand. Stefan Andres sinnt uns an dieser Stelle nun ein erstes Gespräch zwischen Greco und Fernando Niño de Guevara an, bei dem dieser sich vor allem mit der rechten unteren Ecke des Bildes beschäftigt. Dort findet sich El Grecos Künstlername in besonderer Form, wie Andres schreibt:

„Der Name steht auf einem Schildchen, zu dem eine Viper sich reckt, als wollte sie den Namen lesen; die gemalte Viper, die sich hinter einem Stein zu verbergen trachtet.“[10]

So jedenfalls liest es El Greco, der sein Namensschild als Schutz vor der Schlange deutet, während Fernando Niño de Guevara die Schlange als Bildhalter dechiffriert (worin er wohl Recht hat). Am Ende der Erzählung kommt Andres auf dieses Motiv noch einmal zurück, wenn er den Großinquisitor nun auf die Eherne Schlange Bezug nehmen lässt. Auf die Frage des Großinquisitors, ob er wieder eine Schlange mit Namensschilds vor dem Bildgeschehen platzieren wollte, lässt Andres El Greco antworten: „Nicht davor, darinnen fehlt sie, zwar fehlt sich nicht, Ihr seht es, doch ist sie nicht so aufgerichtet, wie jetzt in Euern Augen, Eminenz!“ Die Schlange, sie verkörpert sich im Großinquisitor. Dieser antwortet darauf: „Theodokopulos, wer sprach diese Worte: Gleich wie Moses die Schlange in der Wüste aufgerichtet hat — auch die Schlange bildet Christus vor, alles kann ihn vorbilden. Die von Schlangen gebissen sind, sollen durch das Bild von Schlangen geheilt werden."[11]

Wenn ich es Recht sehe, schlägt Stefan Andres an dieser Stelle vermutlich bewusst eine Volte, denn die Schlange ist das Signet des protestantischen Malers schlechthin, Lukas Cranach d. Ä. (1475-1553).

Auf dem von seinem Sohn 1555 vollendeten Altarbild „Christus am Kreuz“ in der Stadtkirche zu Weimar lässt Cranach Christi Blut direkt auf seinen Kopf spritzen, während über ihm die eherne Schlange aus der Wüstenerzählung platziert ist und so wie durch Zufall eine kleine Schlange sich über dem Haupt des Malers kringelt.

Während El Greco an die etwa 18 Jahre zurückliegende erste Begegnung mit Fernando Niño de Guevara zurückdenkt, trifft er auf den Arzt Cazalla, der gerade vom Totenbett Philipps II. zurückgekommen ist. Hier gibt es einen kleinen Anachronismus in der Erzählung, denn Philipp II. stirbt im September 1598 und Fernando Niño de Guevara wird erst 1600 Großinquisitor.

Cazalla und Greco führen jedenfalls im nächtlichen Toledo ein Gespräch über die Inquisition, die Wahrheit und den Glauben und machen dann einen Spaziergang zum Tejo-Ufer. Dort geraten sie in ein Gewitter, wobei ein Blitzschlag das nächtliche Toledo erleuchtet, ein Szenario, das Greco am nächsten Tag malt.[12]

Kurze Zeit später reist Greco nach Sevilla und beginnt das Portät des Kardinals. Das Gespräch zwischen beiden kommt gleich am Anfang auf das Gemälde Das Begräbnis des Grafen Orgaz, das wenige Schritte entfernt von El Grecos Haus und Atelier in der Iglesia de Santo Tomé hängt und aus der Zeit zwischen 1586 und 1588 stammt. Der Kardinal moniert die Ausführung:

„Wir vermissten freilich die fromme Bestürzung und den heiligen Schrecken auf Eurem Bilde. Ihr maltet oben einen offenen Himmel, stelltet Heilige unter Menschen, und nicht einmal ein Verwundern zeigen Eure versammelten Granden!“[13]

Dass der heilige Schrecken nicht nur künstlerisch zum Ausdruck kommt, ist dem Großinquisitor wichtig, aber Greco fürchtet sich (noch) nicht.

Der nächste Konflikt kommt, als der Kardinal sieht, dass El Greco nicht die kirchenzeitlich motivierten adventlich-violetten Farben, sondern rote verwendet. El Greco entgegnet:

„Ich male Eure Mozetta und das Birett rot, Eminenz, blutrot; und bleich Euer Gesicht; Kragen und Chorhemd weiß und dunkel den Grund, so wie Gott es mir befiehlt durch die Wahrhaftigkeit!"

Und der Kardinal fragt nach:

„Nach welcher Wahrhaftigkeit malt Ihr ein Violett rot und einen hellen Grund dunkel? ... Schwarz und rot, was enthüllt das?"

Und die klare Antwort von El Greco lautet:

„Feuer in der Nacht ... Sie (scil. die Kirche) ist ein blutiges Feuer geworden, Eminenz!“[14]

Wahrhaftigkeit in der Kunst fragt nicht nach Naturalismus oder mimetischer Wahrheit, denn Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern Kunst macht sichtbar (Klee).

Für den folgenden Nachmittag skizziert Andres einen heftigen Gewissenskonflikt des Künstlers: Soll er flüchten? Kann man überhaupt flüchten? Soll er alles zurücklassen, was er geschaffen hat? Was lässt ein Mensch überhaupt zurück? Vor dem Fenster seiner Zelle hört er währenddessen die Prozession der Inquisition vorbeimarschieren und imaginiert ihre Fahne mit den Worten misericordia et justitia – Barmherzigkeit und Gerechtigkeit.

Als er am nächsten Tag den Kardinal zur Fortsetzung der Porträtsitzung aufsucht, ist dieser erkrankt und fragt El Greco nun nach einem „guten Arzt“. Es ist wie eine erste Versuchungsszene. Was ist ein guter Arzt? Ein Arzt, den man überlebt. Aber was ist mit dem Arzt, der vielleicht der Beste ist, dessen Bruder man aber beim Autodafé hat verbrennen lassen? Jedenfalls soll El Greco seinen Freund Cazalla rufen. Als dieser kommt, streiten sie darüber, was man als vernünftige Menschen mit Inquisitoren machen sollte? Sie töten, wenn man die Gelegenheit dazu hat? El Greco aber meint:

„Wißt, es ist umsonst, die Inquisitoren zu töten. Was wir können, ist – das Antlitz dieser Ächter Christi festzuhalten!“[15]

Es kommt dann zum verbalen Schlagabtausch zwischen dem Arzt und dem Kardinal, jeder für sich ein Meister – des Heilens und des Tötens im Dienste der Menschheit:

„Aber glaubt die heilige Inqisition, dass mit dem Leib die Stimmen verbrannt werden können?“

fragt  Cazalla. Und der Kardinal antwortet:

„Wir werden so oft Leiber verbrennen, als Stimmen gehört werden, die der Wahrheit widersprechen. Im übrigen wissen Wir, in welchem Maße das Feuer reinigt. Die Scheiterhaufen werden Leuchttürme der Wahrheit werden, denn die Stimmen verflüchtigen sich mit den Leibern: das ist die Erfahrung der heiligen Inquisition!“[16]

Am Anfang des folgenden Jahres beendet El Greco sein Porträt. Für ihn konzentriert sich jetzt alles nur noch auf die Frage, ob er den Schlangenblick des Großinquisitors eingefangen hat, um ihn der Nachwelt zu überliefern. Nicht an Fernando Niño de Guevara sollen sich die Menschen erinnern, nicht an den Kardinal oder späteren  Erzbischof, sondern nur an die Schlange der Inquisition. Ob das gelingt, weiß er nicht, es ist eine Frage der Rezeptionsgeschichte. In der Darstellung von Stefan Andres ist El Greco überzeugt, der Großinquisitor habe gesehen, dass wenigstens ein Mensch, der Maler El Greco, sein wahres Gesicht gesehen und gezeigt habe. Und so kommt es zu einem vielleicht etwas zu altersmilden Schluss:

„Er ist ein Heiliger um seiner Schwermut willen, ein trauriger Heiliger, ein heiliger Henker!“

spricht El Greco leise.

Von heiligen Henkern und Massenmördern

Und es dauert immerhin 353 Jahre bis ein anderer Künstler zeigte, dass hinter all diesen Männern auf ihren kunstvoll gedrechselten Stühlen, dass hinter all diesen Inszenierungen der Macht und der Androhung der Gewalt, doch nur das blanke Entsetzen steckt, der Schrecken, die Angst vor dem Anderen, dem Unvertrauten, dem Differenten, dem Abweichenden. Einer Angst, der man sich nur mit dem Zwang zur Konversion, mit Gewalt und Vernichtung erwehren kann, letztlich nur, indem man heiliger Henker wird.

So lange bis 1953 Francis Bacon seine schreiende Version von Velazquez Innozenz X. malte, so lange war El Grecos Bild eines Kardinals von 1600 das Sinnbild des Schreckens der Inquisition. Und es kam dabei ohne die Darstellung von Blut, von Gewalt oder Folter aus. Nur ein Blick auf einen Menschen – nur ein Blick eines Menschen.

Als Stefan Andres 1936 seine Erzählung schreibt, weiß er natürlich, dass El Grecos Gemälde das Sinnbild der personalen Vergegenwärtigung der Inquisition geworden ist – weit mehr als die späteren Bilder von Goya.

Zugleich befindet er sich mitten in einer Epoche, die das Prozedere der Inquisition nur noch in Ausnahmefällen anwenden wird und schon gar keine Barmherzigkeit und Gerechtigkeit kennen wird, weshalb sie in aller Regel die Menschen gleich internierte und vernichtete. 1936 wird Sachsenhausen errichtet, ein Jahr später Buchenwald. Die Verantwortlichen an der Spitze haben sich aber ebenso gerne von Künstlern porträtieren lassen und dabei auf Inszenierungen zurückgegriffen, die uns nun bekannt vorkommen.


Firnis

Religion – Macht – Kunst, das ist der Dreiklang, der in Stefan Andres Erzählung erklingt. Seine Geschichte ist modelliert als Einfühlungsästhetik in eine von ihm vorgenommene Konstellation, von deren wahren Umständen wir wenig wissen.

Die Kunst kommt dabei am besten weg – sie vermag die Macht so zu zeichnen, dass sie auf Dauer kenntlich und entlarvt wird. Man wird mit Recht bezweifeln können, ob das die ganze Wahrheit ist. Der Nationalsozialismus hat gezeigt, wie viele Künstler bereit waren, für Ruhm und Ehre andere zu denunzieren. Auch der Künstler El Greco hat schließlich mit der Inquisition zusammengearbeitet. Dennoch macht Kunst – in der Tradition von El Greco, Velazquez oder auch Frans Hals – sichtbar.

Die Macht – für die in der Erzählung zunächst Philipp II. ein Sinnbild sein mag – kommt funktional und zugleich tumb vor. Sie ist das, was Novalis der Aufklärung unterstellte, „eine ungeheure Mühle, vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein echtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle.“ Das ist vielleicht das Erschreckendste am Ende der Erzählung, dass die Macht weiter läuft, auch wenn sie nicht von der Religion geritten wird.

Die Religion hat im Rahmen der Erzählung eine Selbst-Gewissheit und Kälte, die einen erschaudern und erstarren lässt. Ja, auch der Großinquisitor hat in der Darstellung von Andres menschliche Züge, er kann sich in andere Menschen hineinversetzen, aber er hat überhaupt keine Empathie. Er ist ein reibungslos laufendes Teil der religiösen Funktionselite.

Die fortdauernde Wirksamkeit der Erzählung von Andres liegt vielleicht auch daran, dass sich an dieser Konstellation wenig geändert hat.


Postskriptum: Michael Triegel malt den künftigen Großinquisitor

Wie gehen heute Künstler mit derartigen Konstellationen um? In welcher Distanz wir zu den Zeiten eines Raffael, eines Tizian, eines El Greco oder eines Velazquez leben, kann man an den Artefakten derer ablesen, die gebeten wurden, das gleiche Sujet zu malen. Michael Triegel, der „Raffael des bayrischen Papstes“ hat nicht nur Benedikt XVI., sondern auch den heutigen Chef der Glaubenskongregation (der Nachfolgeinstitution der Inquisition), Gerhard Ludwig Müller, in seiner Funktion als Bischof von Regensburg gemalt. Triegel, der sich gerne über seine modernen Künstlerkollegen mokiert, weil sie angeblich das malerische Handwerk nicht mehr beherrschten, erweist sich mit diesem Bild als der modernste von allen. Er überholt die Kunst und nähert sie der Photoshop-süchtigen Regenbogenpresse an. Er zeigt Müller wie ein botoxgeschwängertes Hollywoodprodukt, aber nicht in kritischer Perspektive, also um seiner Wahrheit auf die Spur zu kommen, weil er dies seiner künstlerischen Wahrhaftigkeit schuldig wäre, nein, er malt ihn ganz im Stil eines Hofmalers. So ist Malerei im Dienste der Macht. Gott sei Dank hat Stefan Andres eine Erzählung geschrieben, die zeigt, dass es auch anders denkbar wäre.

Anmerkungen

[1]    Andres, Stefan (1951): El Greco malt den Großinquisitor. Mit Illustrationen von Heinrich Ilgenfritz. 42.-46. Tsd. München: List, S. 12.

[6]    Treu, Ursula (1998): Physiologus. Frühchristl. Tiersymbolik. 3. Aufl. Hanau: Artia-Verl.

[7]    Leo Perutz, Der Meister des Jüngsten Tages (1923). Reinbek bei Hamburg 1990, S. 161ff. Vgl. dazu Dietrich Neuhaus, Erinnerung und Schrecken. Die Einheit von Geschichte, Phantastik und Mathematik im Werk Leo Perutz'. Frankfurt u.a. 1984, insbes. S. 60ff.

[9]    In dieser Zeit arbeitet El Greco übrigens selbst aktiv als Übersetzer aus dem Griechischen an der Inquisition mit.

[10]   Andres, Stefan (1951): El Greco, a.a.O., S. 12.

[11]   Ebd., S. 59.

[12]   Ich bin mir allerdings unsicher, ob Grecos Bild nicht eine ideale Zusammenschau verschiedener Perspektiven auf Toledo vom anderen Tejo-Ufer ist. Wenn wir die Brücke links mit berücksichtigen kommen wir zu einem Punkt, an dem man die Kathedrale und das Schloss nicht sehen kann. Gehen wir zu jenem Punkt, der am Besten zu Kathedrale und Schloss passt, ist die Brücke nicht sichtbar.

[13]   Andres, Stefan (1951): El Greco, a.a.O., S. 29.

[14]   Ebd., S. 32.

[15]   Ebd., S. 42.

[16]   Ebd., S. 45.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/82/am430.htm
© Andreas Mertin, 2013