The Return of Religion?

Besprechungen ausgewählter Videoclips XXXIV

Andreas Mertin

White Rabbits - I'm not me (2012)

Es war vermutlich letztlich nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Musikvideos auftauchen würden, in denen Mormonen als Handlungsträger agieren. Und ebenso erwartbar war, dass dabei in irgendeiner Form auf Mitt Romney angespielt werden würde. Die Frage war eigentlich nur: wie würde das geschehen?

Im Videoclip der amerikanischen Rockband White Rabbits zu ihrem Stück „I’m not me“ aus dem Album „Milk Famous“ sehen wir zwei mal zwei Mormonen durch eine Vorstadt ziehen und Menschen missionieren, bis sie ihr Tagwerk hinter sich gebracht haben und sich gemeinsam auf den Heimweg machen.

Dieser Weg führt sie an einer Bahnlinie entlang an Containern vorbei, wo sie dann auf einen Haufen Müll bzw. scheinbar weggeworfener Kleidungsteile und Konsumgüter stoßen. Beim Näherkommen bzw. Vorbeigehen sieht es dann plötzlich so aus, als ob sich der Müllhaufen bewegt, aber vielleicht auch, dass sich jemand oder etwas in dem Müllhaufen bewegt.

Von dem Müllhaufen geht eine Art Irritation für die vier jungen Männer aus, so dass sie sich ihm nach und nach zuwenden und beginnen, den Müll zu durchsuchen. Stück für Stück tragen sie den Haufen ab und stoßen nicht nur auf Abfall, sondern auch auf Gebrauchselemente des täglichen Lebens, z.B. eine Zahnbürste.

Und sie finden eine Maske mit dem Konterfei des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney - mitten im Müll. Auch diese Maske wird beiseite gelegt und die Suche fortgesetzt – ohne dass man wüsste, wonach eigentlich genau gesucht wird.

Immer wieder wechselt der Kamerablick sekundenlang ins Innere des Müllhaufens und beobachtet von dort aus die Protagonisten. Dann kehrt die Perspektive aus dem Haufen wieder zurück und wir sehen gerade noch einen Fuß verschwinden, als ob jemand sich ins Innere des Mülls zurückziehen würde.

Schließlich ist fast alles abgetragen und es bleibt ein räudiges Stück Fell übrig, das sich aber weiterhin zu bewegen scheint. Es lag unter all dem Müll und die vier jungen Männer zögern, dieses Fell aufzudecken. Als sie es dann doch schlussendlich umdrehen, ist außer ein paar blubbernden weißen Schaumblasen nichts mehr zu erkennen: alles hat sich ins Nichts aufgelöst: I’m not me.

Diese Inversion der Schaumgeburt der Venus hinterlässt die Betrachter ratlos: was ist hier geschehen, auf wessen Spuren hat man hier im Müll gewühlt und warum ist vom Gegenstand der Suche aber auch rein gar nichts mehr übrig geblieben?

Am Ende sitzen die vier Missionare ratlos am Tisch eines kleinen Fastfood-Restaurants und sinnen darüber nach, was ihnen gerade in der Peripherie der Stadt geschehen ist. Eine Antwort auf ihre Frage erhalten sie nicht.

Alles Weitere obliegt nun der Deutungsarbeit des Betrachters. Aber man gewisse Indizien bedenken. Ob zur Zeit des Videodrehs Mitt Romneys Äußerungen über die 47% Amerikaner als Sozialparasiten bekannt war (47 Prozent der Amerikaner seien abhängig vom Staat, würden keine Einkommensteuer zahlen und deshalb Barack Obama unterstützen), ist nicht ganz klar. Das Musikstück der White Rabbits erschien schon Anfang des Jahres 2012 (hat aber auch keine Bezüge zur visuellen Narratio des Clips), das Musikvideo feierte dagegen erst Anfang Oktober Premiere. Romneys Fauxpas wurde dagegen Mitte September öffentlich. Das ist zeitlich etwas knapp. Eher schon kann man eine grundsätzliche Bezugnahme auf die von Romney beabsichtigten Kürzungen der staatlichen Transferleistungen für Geringverdiener und Arme unterstellen, die seit dem Frühjahr bekannt sind.

Die Regisseure Nat Livingston Johnson & Gregory Mitnick kommentieren ihren Clip auf ihrer Webseite etwas zurückhaltend so: “In our latest music video for White Rabbits’ “I’m Not Me”, the band plays a group of good boy canvassers who come upon a sentient pile of garbage and simply must get to the bottom of it.” Das ist etwas zu viel Zurückhaltung. Ich glaube zumindest nicht, dass man bestreiten kann, dass es sich bei den gezeigten Protagonisten um Mormonen und nicht nur um adrette Handlungsreisende handelt.

Besser ist da schon die Formulierung „a sentient pile of garbage” – ein lebender, ja empfindungsfähiger Haufen Müll, dem man auf den Grund gehen will, indem man sich ihm zuwendet. In einem gewissen Sinne erinnert die Szenerie an Martin Luthers Magnificat-Auslegung, gerade weil die vier Mormonen (wenn auch reichlich angewidert) das Gegenteil von dem tun, was Luther als für die Menschen typisch beschreibt:

„Das erfahren wir täglich, wie jedermann nur über sich (hinaus) zur Ehre, zur Gewalt, zum Reichtum, zur Gelehrsamkeit, zu gutem Leben und allem, was groß und hoch ist, hinstrebt. Und wo solche Menschen sind, denen hängt jedermann an, da läuft man (hin)zu, da dienet man gern, da will jedermann sein und der Höhe teilhaftig werden, so dass nicht umsonst so wenig Könige und Fürsten in der Schrift als fromm beschrieben sind. Umgekehrt will niemand in die Tiefe sehen, wo Armut, Schmach, Not, Jammer und Angst ist, davon wendet jedermann die Augen ab. Und wo solche Leute sind, davon läuft jedermann weg, da fliehet, da scheuet, da (ver)lässt man sie und denkt niemand (daran), ihnen zu helfen, beizustehen und zu machen, dass sie auch etwas sind. Sie müssen so in der Tiefe und niedrigen, verachteten Masse bleiben.“

Soweit Martin Luther 1521. Zur Ästhetik Gottes gehört demnach auch die „Verklärung des Gewöhnlichen“. Darum geht es allerdings im Video der White Rabbits in letzter Hinsicht nicht, eher schon um die Zuwendung zum im Alltag nicht Beachteten, zum dem, was wir „entsorgen“ oder „wegwerfen“. Der offene Ausgang – was haben wir eigentlich erwartet? – mit der Verstörung der Protagonisten ist dabei nicht schlecht. Er lässt Raum für eigene Vermutungen und Sinnzuschreibungen.


Alanis Morissette - Guardian (2012)


Gleich mehrere Sinnschichten bündelt meiner Ansicht nach Alanis Morissette in ihrem unter der Regie von Baris Aladaq entstandenen Musikvideo zu „Guardian“.

  • Zum einen ist der Clip unverkennbar eine Hommage an Wim Wenders „Himmel über Berlin“ (Wings of Desire), der 2012 25-jähriges Jubiläum feiert.
  • Zum zweiten ist es die Geschichte von drei Menschen, die ganz unterschiedlich Stress und Drangsal ausgesetzt sind: ein Mädchen beobachtet den Streit der Eltern, ein Junge wird von Mitschülern gemobbt und eine Mutter mit Baby wird von einem Mann verlassen. Alle drei blicken am Ende flehentlich wie um Hilfe oder Schutz bittend zum Himmel.
  • Zum dritten geht es textlich um eine Art unbedingte Zusage einer Mutter an ihr Kind. Das ist die biographische Komponente der Alanis Morisette.
  • Und viertens gibt es m.E. eine Sinnschicht, die religiöser Natur ist: Eine Zwiesprache mit Gott bzw. Jesus Christus, vielleicht sogar unter Bezugnahme auf Jesu Ringen im Garten Gethsemane: You, you who has smiled when you're in pain / You who has soldiered through the profane ...

Jenseits des Profanen, das ist vielleicht auch das generelle Moto des Clips, wobei die verschiedenen eingesetzten Bildebenen auch unterschiedlich stark sind. Die erzählten/gezeigten Geschichten sind am Besten, die mythologische Ebene mit dem Engel über Berlin fast schon zu konventionell. Die schwächste Bildebene ist sicher die, die Morisette und ihre Band beim Spielen des Songs zeigen. Mir ist nicht klar, warum so viele Bands glauben, auf derartiges In-Szene-Setzen nicht verzichten zu können. Faktisch ist es einfach nur banal – boring. Und gerade Alanis Morissette könnte als Schauspielerin – sie spielte u.a. Gott in DOGMA - doch so viel mehr leisten. Trotzdem ein interessanter und poetischer Clip.


Joseph Arthur - Yer only job (2012)

Weniger unmittelbares Indiz für eine Rückkehr von Religion in die popkulturelle Szene als vielmehr eine poetische Beschreibung von Freiheit ist dieses Lied von Joseph Arthur, das eigentlich für ein Kinderbuch geschrieben wurde. Deine einzige Aufgabe ist es, frei zu sein. Und das wird mit vielen Beispielen und in einnehmender Form vorgetragen. Kongenial ist aber auch die Umsetzung im Video, eine animierte Zeichnung im Fluss der Symbole – deutungsfähig und deutungsbedürftig, auf jeden Fall aber die Phantasie anregend – bei Kindern und Erwachsenen.

Religiös sind aber durchaus einige der Anspielungen im Bilderfluss des Clips, insofern die Himmelsleiter eines der grundlegenden religiösen Symbole ist, die Engel sowieso, aber auch der Tierfrieden nach der Überlieferung des Jesaja:

Kapitel 11, 6-8: Dann wird der Wolf beim Lamm als Flüchtling unterkommen, und der Leopard wird beim Böckchen lagern; Kalb, Junglöwe und Mastvieh leben zusammen, ein kleines Kind treibt sie. Kuh und Bärin werden weiden, gemeinsam werden ihre Jungen lagern, und der Löwe wird wie das Rind Stroh fressen. Der Säugling wird vergnügt an der Höhle der Kreuzotter spielen, und nach dem Loch der Giftschlange wird das Kleinkind mit seiner Hand patschen.

Kapitel 65, 24-25: So wird es sein: Bevor sie rufen, werde ich antworten, während sie noch reden, werde ich sie erhören. Wölfin und Lamm werden einträchtig weiden, der Löwe wird wie das Rind Stroh fressen, aber die Schlange: Staub ist ihr Brot. Niemand tut etwas Böses oder wirkt Verderben auf meinem ganzen heiligen Berg, spricht Gott.
(Übersetzuzng: Die Bibel in gerechter Sprache)

Es überrascht vielleicht nicht wirklich, dass eine Vielzahl der Motive dieses messianischen Tierfriedens nach Jesaja auch im Video von Joseph Arthur auftauchen.

In einem gewissen Sinne stellt sich sein Text aber auch als sprachliche Variation von 1. Korinther 13 dar, nur dass bei Paulus, der ansonsten ja gerne über die Freiheit redet, hier eben die Liebe beschrieben wird:

Wenn ich wie ein Mensch rede oder wie ein Engel und bin ohne Liebe, bin ich ein schepperndes Blech und eine gellende Zimbel. Und wenn ich die Gabe habe, die Zeichen der Zeit zu deuten, und alles Verborgene weiß und alle Erkenntnis habe und alles Vertrauen, so dass ich Berge versetzen kann, und bin ohne Liebe, dann bin ich nichts. Und wenn ich alles, was ich kann und habe, für andere aufwende und mein Leben aufs Spiel setze selbst unter der Gefahr, auf dem Scheiterhaufen zu enden, und bin ohne Liebe, hat alles keinen Sinn. Die Liebe hat einen langen Atem und sie ist zuverlässig, sie ist nicht eifersüchtig, sie spielt sich nicht auf, um andere zu beherrschen. Sie handelt nicht respektlos anderen gegenüber und sie ist nicht egoistisch, sie wird nicht jähzornig und nachtragend. Wo Unrecht geschieht, freut sie sich nicht, vielmehr freut sie sich mit anderen an der Wahrheit. Sie ist fähig zu schweigen und zu vertrauen, sie hofft mit Ausdauer und Widerstandskraft. Die Liebe gibt niemals auf.
(Übersetzuzng: Die Bibel in gerechter Sprache)

Bei Joseph Arthur heißt es:

But you got found freedom bee
Buzzing for eternity
And freedom is the light you see
Enlightened soul, turning key

Nicht nur als Kinderlied sehr zu empfehlen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/80/am416.htm
© Andreas Mertin, 2012