Ein theologischer Spaziergang über die d(13)

1 – Das Fridericianum

Andreas Mertin

01 – Am Anfang

Man kann die dOCUMENTA(13) auch im Rahmen eines theologisch interessierten Spaziergangs begehen. Viele der ausgestellten Werke schaffen Querverbindungen zur jüdisch-christlichen Erzählwelt, denen man nachspüren kann. Im Folgenden will ich einen solchen Lektüreversuch unternehmen. Er setzt einen anderen Spaziergang, bei dem man sich den Werken ohne eine solche Fokussierung angenähert hat, voraus. Ich beginne den Spaziergang mit dem seit der ersten documenta im Jahr 1955 zentralen Ort, dem Fridericianum.

Das Fridericianum war nicht nur eines der ersten der Öffentlichkeit zugänglichen Museen der Welt, sondern nach 1945 auch der Ort, an dem über die freie Kunst und ihre Bedeutung für die Gesellschaft nachgedacht wurde. Anders als die Biennale in Venedig, die aufgrund ihrer Historie durch das nationale Pathos der ausstellenden Länder kontaminiert ist, war die documenta von Anfang an ein Symbol für die Freiheit und gegen staatlich verordnete Kunst.

Zugleich war und ist die documenta - und in ihrem Zentrum das Fridericianum - der Ort der kritischen Selbstreflexion von Kunst: Was ist eigentlich Bildende Kunst? Welche Bedeutung hat sie? Welche Bedeutung hat sie heute noch? Welche Bedeutung hat sie wieder bekommen? Wer das Fridericianum während der documenta betritt, erhofft sich Antworten auf diese Fragen - auch dann, wenn er zu den konkret gegebenen Antworten im Widerspruch steht. "Kunst ist Gemeindebildung durch Differenzerzeugung" - äußerte der Kunstwissenschaftler Bazon Brock während der documenta IX. Und das ist einsichtig, sagt und will doch jedes Kunstwerk letztlich nichts anders als das Absolute: "Du sollst keine anderen Kunstwerke haben neben mir".

02 – Säuselnder Wind

Traditionell öffnet sich das Fridericianum für den Besucher mit weit geöffneten Schwingen, ähnlich dem Angelus Novus von Paul Klee aus dem Besitz von Walter Benjamin. Man betritt das Gebäude und hat rechts und links des Eingangsquadrats zwei Flügel, die in der Geschichte der documenta oftmals die Hauptwerke der Ausstellung enthielten. Und in der gegenüberliegenden Rotunde war oft auch der intellektuelle Schlüssel zur Ausstellung zu finden bzw. das reflektierende Haupt des Kunstkörpers repräsentiert. Wer nicht zum ersten Mal die documenta besucht, kommt mit dieser Erwartung ins Fridericianum, es ist sozusagen der vorgegebene Erwartungshorizont gegenüber der documenta und ihrem Zentrum. Es ist auch die Herausforderung an die jeweilige künstlerische Leitung der documenta, dieses Zentrum zu gestalten.

Wer 2012 diesen bedeutungssschwangeren Ort der documenta betritt, stößt in den parallelen ersten drei Räumen und auch den beiden sich jeweils anschließenden auf scheinbar NICHTS. Es sind leer geräumte Flächen, White Cubes in einem elementaren Sinne: Weiße, helle Räume, lichtdurchflutet, geradezu auf die Präsentation des Absoluten wartend.[1]

Und doch sind die Räume nicht leer. Zwar sind sie optisch weitgehend frei, aber doch nicht sinnlich leer. Vielmehr werden sie von einem Wind erfüllt, der - ja nachdem, wo man sich gerade befindet - mal stärker und mal schwächer scheint. Die Quelle des Windes bleibt dabei verborgen. Man geht durch die fünf Räume und spürt dem Windhauch nach, so wie man den Wind auf der Haut spürt.

Man fühlt sich quasi an die Erzählung von der Gottesbegegnung des Elia in 1. Könige 19. 8ff. erinnert:

8 Und er stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb. 9 Und er kam dort in eine Höhle und blieb dort über Nacht. Und siehe, das Wort des HERRN kam zu ihm: Was machst du hier, Elia? 10 Er sprach: Ich habe geeifert für den HERRN, den Gott Zebaoth; denn Israel hat deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Propheten mit dem Schwert getötet und ich bin allein übrig geblieben, und sie trachten danach, dass sie mir mein Leben nehmen. 11 Der Herr sprach: Geh heraus und tritt hin auf den Berg vor den HERRN! Und siehe, der HERR wird vorübergehen. Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem HERRN her; der HERR aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der HERR war nicht im Erdbeben. 12 Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der HERR war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. 13 Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging hinaus und trat in den Eingang der Höhle.

Der biblische Text ist ein wichtiges Dokument zum Verständnis der jüdisch-christlichen Religion und ihres Gottesbildes. Nicht in der Überwältigung durch eine unbegriffene Natur, nicht im größen- oder zahlenmäßig Erhabenen, nicht im Schrecken der Katastrophen zeigt sich Gott, sondern im kaum Wahrnehmbaren, im Zurückgenommenen. Martin Buber übersetzt die entscheidende Wendung mit „einer Stimme verschwebenden Schweigens“. Im Neuen Testament wird es dann heißen: er zeigt sich "in der Niedrigkeit der Magd". Zugleich spiegelt sich in dem Text etwas von der Herausgehobenheit der besonderen Situation, von der Differenz zum Alltag.

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RYAN GANDER, 1976 in Großbritannien geboren, dem wir diese Inszenierung des säuselnden Windes auf der dOCUMENTA(13) verdanken, gibt ihr den Titel: I Need Some Meaning I can Memorise [The Invisible Pull]. Ja, wir brauchen Bedeutung, um etwas sinnenhaft und sinnvoll zugleich erinnern zu können. Und vielleicht ist deshalb der erste Eindruck vieler Besucher dieses zentralen Ortes der documenta zunächst auch der horror vacui, das Entsetzen über die wahrgenommene Leere des Raumes und das empfundene Gefühl einer fehlenden Lehre des Raumes. Das soll Kunst sein? meint ja: Hat das denn Sinn? Man nimmt mit den Sinnen wahr: ein Frösteln, eine Kälte, ein überstrahlendes Weiß - möchte aber auch den Sinn wahrnehmen. Denn wie in der Religionsgeschichte lieben wir zunächst nicht nur jene Phänomene, die sich sinnlich vermitteln, sondern die darin auch Sinn vermitteln. Wenn aber die Abwesenheit präsent ist, fragen wir nach der Bedeutung: I Need Some Meaning I can Memorise. Ganders Arbeit provoziert, weil der Besucher sich scheinbar um das Wertvollste gebracht sieht: die sinnliche Präsentation der Fülle. Ironisch könnte man sagen: So muss es einem Katholiken oder Orthodoxen gehen, wenn er zum allerersten Mal einen reformierten Kirchenbau betritt. Ein physischer Schmerz, ein Entzug von der Droge Bild, die einen nach dem Sinn des Ganzen fragen lässt. Und dann spürt man das Innehalten und die Konzentration auf das Wesentliche.

03 - Am Anfang II

Am Rande des rechten Raumes in dieser Folge der White-Cube-Inszenierungen mit dem säuselnden Wind befinden sich drei kleine Arbeiten von JULIO GONZÁLEZ, die schon auf der II. documenta 1959 gezeigt wurden. Es ist die quasi Erinnerung an das, was vorher war, die Geschichte vor dieser Geschichte, eine Wieder-Holung. Denn Gonzales war bereits 1942, also vor der ersten documenta verstorben, die gezeigten Werke waren daher weniger Gegenwartskunst als vielmehr Voraus-Setzungen der zeitgenössischen Kunst. Auf der documenta 13 scheinen seine Arbeiten von der Leere des Raumes an den Rand gedrängt, fast beiläufig und doch stürzt man sich auf sie, weil sie das einzig visuell Präsente in den White Cubes sind. Julio González, Freund von Pablo Picasso, war auch auf der ersten und der dritten documenta vertreten. Er gilt als „Erfinder der Eisenplastik“ und Bildhauer der Abstrakten Kunst. Er lernte in der Autoindustrie das Autogenschweißen und wendete dies auf die Bildhauerei an.

04 - BRAIN

In der Rotunde, dem Kopf der Inszenierung, befindet sich eine Zusammenstellung von Werken, die den Titel BRAIN trägt und uns so darauf verweist, dass hier das Denkzentrum dieser documenta gezeigt wird. Der Zugang zu diesem inneren Zirkel ist reglementiert, aber es ist zugleich einsichtig durch eine Glasscheibe, die einen Text von Lawrence Weiner trägt: THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF THE MIDDLE OF. "Die Mitte von der Mitte von der Mitte von" bezeichnet zugleich das Staunen über die Vielfalt, die sich aus dem Kern entfaltet. Die Fragen, die hier thematisiert werden, lauten: Wie kommt etwas aus dem NICHTS zustande? Wie gewinnt Kunst ihre Form? Was unterscheidet den Zufallsfund der Natur von der Kreation des Menschen? Was trieb Menschen vor 4.000 Jahren an, Kunst zu schaffen? Wie hängt das eine Bild mit all den anderen zusammen? Warum ändert sich die Wertigkeit der Gegenstände und Materialien im Verlauf der Geschichte? Wie kann aus der Gewalt, wie aus der Zerstörung wieder etwas Positives, Wieder-Aufbau geschehen? Es geht um Collapse and Recovery.

In der Mitte dieses Reflexionszentrums befinden sich sechs Arbeiten von Giorgio Morandi (1890-1964), der schon auf den ersten drei documenta-Ausstellungen vertreten war. Von Morandi sind auch einige Objekte aus seinem Atelier zu sehen, u.a. Vasen, die er bemalte und dann in seinen Bildern malerisch aufnahm. Für Carolyn Christov-Barkagiev stehen „die Gemälde Giorgio Morandis für eine Form der Zurücknahme seiner selbst, die Machtverhältnisse durcheinander bringen kann, obwohl man sich machtlos fühlt.“ Das scheint mir durchaus eine Motivaufnahme aus der jüdisch-christlichen Tradition zu sein. Es geht um die Kraft, die in den Schwachen mächtig ist. Man sollte aber nicht nur die Arbeiten von Morandi bedenken, sondern auch den symbolischen Akt, den die künstlerische Leitung damit vollzieht. BRAIN ist ja quasi das persönliche Kabinett von Carolyn Christov-Bakargiev. Und ein Jahr zuvor hatte Bice Curiger, die schweizerische Kunsthistorikerin und Kuratorin, auf der von ihr geleiteten 54. Biennale in Venedig ebenfalls Werke eines berühmten kunstgeschichtlichen Klassikers ins Zentrum gestellt. Nur waren es bei ihr Arbeiten von Jacopo Tintoretto (1518-1594), einem Maler der Gegenreformation, die jeweils ein religiöses Geschehen künstlerisch mit Hilfe des Lichtes neu perspektivierten: die Erschaffung der Welt, das Abendmahl und die Rettung des Leichnams des Markus aus Alexandrien. Jedes Mal steht dabei dezidiert das Schicksal des Menschen und der Mensch selbst im Mittelpunkt (auch wenn bei der Erschaffung der Erde der Mensch nicht sichtbar ist, dafür Gott aber ebenbildlich dargestellt wird). In allen drei Werken ging es aber – neben der Wirkung des Lichts – auch um das menschliche Schaffen. Anders bei der dOCUMENTA(13). Hier haben wir sechs menschenleere Bilder vor uns, die auch das Schaffen thematisieren, den Menschen dabei aber zurücknehmen. Wie in der Gottesrede aus dem Wettersturm im Buch Hiob lautet die Botschaft: Nehmt euch als Menschen nicht so wichtig, denkt nicht immer anthropozentrisch. Ihr seid Teil der Schöpfung, aber nicht deren Krone. Ihr habt an den Chaoselementen ebenso Anteil wie an der Mühsal des Wiederaufbaus.

In einen gewissen Sinne macht das Guiseppe Penone (*1947) deutlich, einer der wenigen berühmten lebenden Künstler der documenta. Von ihm gibt es im Brain eine Arbeit mit dem Titel Essere fiume 6 aus dem Jahr 1998, die aus einem Flussstein und einer von Penone angefertigten Kopie des Steins aus Carrara-Marmor besteht. Der Flussstein ist Teil der Natur, vom Wasser bearbeitet. Das Marmorobjekt ist ein Ergebnis menschlicher Aktivität, Versuch mittels künstlerischer Arbeit, das Werk des Flusses nachzubilden. Essere fiume / Seien Sie der Fluss.

Die baktrischen Prinzessinnen, mit 4000 Jahren die ältesten Objekte dieser documenta, werden uns als Metaphern vorgestellt, die zeigen, dass „verschiedene Bruchstücke als eine Einheit“ zusammengehalten werden können: „Das Fortbestehen der Gesamtheit ihrer kompakten und doch zerbrechlichen materiellen Gestalt ist auf die Hingabe und die Pflege angewiesen, die ihnen seit Jahrtausenden zuteil wurden.“[2] Ungeklärt ist, ob es sich um die Wiedergabe ihrer reichen Besitzerinnen handelt oder nicht doch um Abbilder von Gottheiten.[3] Theologisch fühlt man sich natürlich an die biblischen Terafim erinnert, jene kleinformatigen Objekte, die zumindest nach Genesis 31 entweder als Repräsentanten eines Familien- oder Hausgottes oder als vergöttlichte Ahnen zu interpretieren sind,[4] und im Alltag eine wichtige Funktion ausübten.

Ein anderer Teil der im BRAIN ausgestellten Objekte widmet sich dem Thema der Vernichtung und der Zerstörung bzw. der Verhinderung der Vernichtung, m.a.W. dem übergeordneten Thema dieser documenta: Collapse & Recovery.

Dazu zählt etwa die Arbeit des Mediziners und Malers Mohammed Yusuf Asefi (*1961), der zahlreiche Gemälde aus der National Gallery of Kabul und dem afghanischen Außenministerium vor der Zerstörung durch die Taliban gerettet hat, nicht zuletzt indem er sie als Landschaftsbilder übermalte. Als Künstler widmet ihm der Begleitband keine eigene Seite (anders als dem Philosophen Christoph Menke oder dem Pfarrer Korbinian Aigner), sondern zeigt nur eine kleine Landschaftsmalerei. Hier wäre ich neugierig gewesen, wie dieses Übermalung konkret funktioniert hat. Ähnliches ist ja aus manchen Legenden aus der Zeit des Nationalsozialismus bekannt, nur wüsste man einmal gerne konkret, wie das funktioniert.

Amüsant ist die Arbeit von Tamás St. Turba (*1944), der das tschechoslovakische Radio thematisiert, einen Ziegelstein, der nach dem Verbot von Radios durch die russischen Besatzer als Ersatz für die Kommunikation zum Einsatz kam (d.h. man hielt ihn ans Ohr als wenn es ein Radio wäre) und der trotz seiner Disfunktionalität vom Militär konsequent konfisziert wurde. Eine symbolische Geste, die sich gut in den Kontext anderer an symbolischen Gesten sich orientierenden Arbeiten auf der documenta(13) einordnet.

Oder die Fotografie von Vandy Rattana (*1980), der die Bombenteiche in Kambodscha aus dem Vietnamkrieg dokumentiert, ein Motiv, das mehrfach auf dieser documenta aufgegriffen wird.

Eva Brauns Puderdose: Nicht recht einleuchten will mir ein Ensemble von Arbeiten in diesem Raum, das ich geradezu als pervers empfinde. Ausgehend vom bekannten Metronom von Man Ray mit dem Auge am Pendel (Object to be destroyed / Object of Destruction / Indestructible Objekt) wird quasi eine Ereigniskette rekonstruiert bzw. ein fast magischer Zusammenhang insinuiert. Das Auge am Pendel des Metronoms ist von einem Bild der Freundin von Man Ray, Lee Miller. Diese war nun Kriegsberichterstatterin der Amerikaner am Ende des Zweiten Weltkriegs und an dem Tag, an dem Hitler sich tötete, in seiner Münchener Wohnung einquartiert. Dort ließ sie sich in der Badewanne mit allerlei privaten NS-Devotionalien aus dem Besitz Hitlers fotografieren und nahm diese anschließend mit. Fotos und Devotionalien werden nun auf der dOCUMENTA(13) ausgestellt. Ich kann mit dieser assoziativen Verknüpfung von Geschehnissen wenig anfangen. Das scheint mir eher auf dem Niveau von „Frau im Spiegel“ zu sein als ernsthaft „Collapse & Recovery“. Dass das Badetuch von Adolf Hitler und die Puderdose von Eva Braun als Devotionalien (was sollen sie sonst sein?) auf der gleichen documenta gezeigt werden, die auch die Arbeiten einiger Opfer der Konzentrationslager zeigt, scheint mir nur noch grauenhaft zynisch zu sein. Und was soll der mehrfach zu findende Hinweis, dass Lee Miller am gleichen Tag in seiner Münchener Wohnung war, an dem Hitler sich umbrachte? Will man uns ansinnen, dass dies mehr als bloßer Zufall war? Das hätte man sich sparen können.

05 - DOING & NOTHING I

Auf den ‚Schultern’ des von mir räumlich imaginierten "Engels der Geschichte" befinden sich jeweils Kunstwerke, deren Background der Betrachter im Kopf präsent haben muss, um sie zu verstehen, da sie auf historische Debatten anspielen und eher – wie viele andere Kunstwerke auf dieser documenta – konzeptuelle Werke sind.

Auf der vom Eingang gesehen rechten Seite befindet sich eine Dokumentation von Khaled Hourani, die zeigt, wie ein Werk von Pablo Picasso in der Westbank gezeigt wird. Das ist eine überaus dialektische Arbeit, denn sie zeigt nicht nur, auf welche Widerstände die Präsentation von Kunst in transnationalen Kontexten stoßen kann (man kann es nicht einfach von seinem Ursprungsort nach Ramallah fliegen), sondern sie lässt auch fragen, welchen Sinn es überhaupt macht, den Palästinensern ein Spitzenwerk der Westkunst als Vorbild zu präsentieren. Der internationale Stil und damit die eurozentristische Kunst als Norm? Nach der Logik des Engels der Geschichte in der Interpretation von Walter Benjamin gehört Picassos Werk vielleicht sogar eher zu den Trümmern der Geschichte, die auf das Zerbrechen der Weltbilder durch die ersten beiden Weltkriege reagiert.

Auf der vom Eingang gesehenen linken Seite befindet sich eine performative Arbeit von CEAL FLOYER (*1968), die sich der Annihilation nähert. Was bleibt, wenn fast nichts mehr übrig bleibt, wenn alles, was es bis dahin gab (an Sinn, an Text, an Geschichte, an Klängen, an Kontexten) ausgelöscht wird? Die Arbeit 'Til I Get It Right ist eine Klanginstallation aus dem Jahr 2005, die auf dem gleichnamigen Song von Tammy Wynette beruht. Ceal Floyer hat den Refrain des Liedes auf die Worte "I'll just keep on ........ 'Til I get it right" zusammengeschnitten und präsentiert sie uns nun in der Endlosschleife. Tammy Wynette (bekannt für ihr Lied "Stand by your man") ist schon im Original nur schwer erträgliche Countrymusic-Kost, im Zusammenschnitt wird es aber unerträglich penetrant und kippt dann ins ironisch-aufklärerische Format. Das vom Nichts überlagerte und ausgestrichene Dazwischen muss man sich wie bei einem Palimpsest mühsam rekonstruieren, man müsste sich etwa noch einmal den Originalsong auf Youtube anschauen, um zu wissen, was nun in dem kleinen Raum im Fridericianum davon übrig geblieben ist. Wie viel Wieder-Holung, wie viel Übung, wie viel Scheitern und wie viel Gleichförmigkeit ertragen wir?

06 - Bedtime Stories

Fast könnte man die Audio-Arbeit von John Menick (*1976) übersehen, die– direkt vor dem BRAIN platziert - uns ins Zwischenbewusste führt, eine Art erinnernde Gute-Nacht-Geschichte. Über den Künstler informiert die documenta, er produziere „Video- und Audioarbeiten und schreibt Essays und Romanliteratur. In seinen Werken tauchen immer wieder herumirrende Detektive, heuchlerische Geschichtenerzähler, heimatlose Dokumentarfilmer, verrückte Reisende und in Anstalten eingewiesene Kinoliebhaber auf.“ Eine nahezu biblische Narratio also, von umherziehenden Menschen, falschen Propheten und der Krise der Weisheit. Verwandt vielleicht auch mit Madonnas „Bedtime story“, in dem sie sich von den textorientierten Buchreligionen abwendet und den das Unbewusste ansprechende Naturreligionen zuwendet. Vor Ort aber hören wir nur Geräusche, die wir mit denen verbinden, die sich aus dem Ausstellungsbetrieb ergeben.

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Von den grundlegenden Inszenierungen im Erdgeschoss des Fridericianums ausgehend, kann man nun seinen Spaziergang ganz unterschiedlich fortsetzen, die Verknüpfungen so oder so anlegen. Ich skizziere meine Begehung so, wie ich sie real auch vorgenommen habe, aber es ließen sich selbstverständlich andere Logiken entwickeln.

07 – Zeichen der Hoffnung

Darf Kunst sich in symbolischen Gesten erschöpfen? Kann Kunst auf symbolische Gesten verzichten? Ist Kunst als Kunst nicht schon eine Art von symbolischer Geste? Diese Fragen stellt man sich im ersten Stock des Fridericianums, wenn man auf die Arbeiten von Korbinian Aigner (1885-1966) stößt und über sie nachdenkt. Es ist nicht die einzige Arbeit eines Theologen auf dieser documenta, aber seine theologische Existenz wird hier besonders herausgestellt. Korbinian Aigner, katholischer Pfarrer in Bayern, interessierte sich früh für den Obstanbau (die Pomologie) und geriet ebenso früh in den Gegensatz zum Nationalsozialismus. Ein beiläufiger Satz zur Rechtfertigung des Attentats von Georg Eisler auf Adolf Hitler brachte ihn ins Konzentrationslager u.a. in Dachau. Er wurde dort im Priesterblock untergebracht und musste landwirtschaftliche Zwangsarbeit leisten. Zwischen den Häftlingsbaracken pflanzte er Apfelbäume und züchtete neue Sorten, die bitter-zynisch so benannten KZ-1, KZ-2, KZ-3 und KZ-4. 1985 wurde die Sorte KZ-3 zum 100. Geburtstag des Priesters in „Korbiniansapfel“ umbenannt. Auf der dOCUMENTA(13) wurde jetzt nicht nur in einem symbolischen Akt ein Apfelbaum der entsprechenden Sorte angepflanzt, sondern auch eine Wand mit den Apfelbildern Aigners gefüllt.

Den Text der documenta dazu kann man getrost vergessen,[5] aber die Frage bleibt, wie sich an diesem Beispiel das Verhältnis von Kunst und symbolischem Gestus (theologisch würden wir sagen: Zeichenhandlung) bestimmen lässt. Waren die biblischen Propheten Künstler, wenn sie mit symbolischen Gesten gegen die Zustände im Lande protestierten? Muss ich Petrus als Künstler verstehen, wenn in seinem Schatten Wunder geschehen? Wenn Menschen unter unvorstellbar grauenhaften Bedingungen Kunstwerke schaffen, ändert das den Blick auf die Werke? Oder ist das zu formalistisch gefragt? In einer normalen Kunstausstellung würde man ohne Kenntnis des Schicksals des Priesters an diesen Bilder einfach vorbeigehen. Sie sind künstlerisch keinesfalls etwas Besonderes. Wenn ich aber den Kontext berücksichtige, werde ich dann nicht anekdotisch? Ja, mache ich nicht im Kern den Kontext zum Künstler?

Der Martin Luther zugeschriebene (aber bei ihm niemals nachgewiesene) Satz "Wenn ich wüsste, dass morgen der jüngste Tag wäre, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen", der faktisch erstmals 1944 zitiert wird, könnte ein Reflex auf die Geste des Korbinian Aigner sein. Zeichen setzen für die Hoffnung wäre dann das Thema. Meine Frage wäre aber, ob nicht alle Kunst ein Zeichen in diesem Sinne wäre. Oder ob man immer dieser intentional fokussierten Gesten bedarf. Entscheiden kann man diese Frage nicht so leicht. Vielleicht beruhigt es einen, dass schon Max Raphael die gleiche Frage am viel berühmteren Beispiel von Picassos „Guernica“ durchbuchstabiert hat.[6]

08 - Buch der Chronik

Mark Lombardi (1951-2000) präsentiert im gleichen Raum des Fridericianums großformatig so etwas wie die Rekonstruktion der Textur von Geschichte mittels einer Mindmap und des Zettelkastens - also etwas Ähnliches, was auch die Chronik-Bücher mit der jüdischen Geschichte vollziehen: Zusammenhänge erkennbar machen und Geschichte zu deuten. Man kann sich natürlich fragen, was diese Soziogramme mit Kunst zu tun haben, zumal die Kritik darauf beharrt, dass sie Widerspiegelung realer Verflechtungen seien und gerade nicht poetische bzw. rekonstruktive Logik. Geschichte ist aber immer gedeutete Geschichte und die ästhetische Aufbereitung der Zusammenhänge weist auch in diese Richtung. Ist es auch hier das Schicksal des künstlerischen Protagonisten, das die Auswahl begründet? Oder ist es die Semantik seines Werkes? Entscheidet dann nicht aber die politische Gesinnung über die Rezeption des Werkes? Wenn also der Iran auf der Biennale in Venedig Kunst ausstellt, die in die Ideologie des Staates passt, ist das dann nicht genauso legitim, wie die Vorgehensweise der documenta-Leiterin, die Werke ausstellt, die in ihre Ideologie passen? Diese Frage stellt sich nicht nur angesichts dieser Arbeit, sondern wiederholt auf der documenta. Letztlich ist es die alte Frage nach der engagierten Kunst.[7] Und offenbar ist sie weiterhin nicht befriedigend beantwortet.

09 – Atmosphären-Rettung

Und so wird auch vor dem Raum mit den beiden gerade erwähnten Kunstwerken fleißig unterschrieben, damit die Erd-Atmosphäre zum Welt(kultur)erbe wird. Vielleicht ist das dann doch der Punkt, wo die symbolischen Gesten sich in banaler Sinnlosigkeit erschöpfen. Hat man ein besseres Gewissen, wenn man derartiges brav unterschreibt? Ändert man etwas an der globalen Situation, wenn man das tut? Leistet man seinen Beitrag an der künstlerischen Verbesserung der Welt? Die Konzeptkünstlerin Amy Balkin (1967) ist es, die derlei Fragen Vorschub leistet. Ich finde diese Aktion persönlich etwas billig und effekthascherisch. Aber bitte, wer will kann ja unterschreiben.

10 – Fast wie bei Hosea

Das Innerste nach Außen kehren, das Intimste zur zeichenhaften Geste zu machen – das ist der methodische Kern des Buches Hosea, der die Reihe der Prophetenbücher der hebräischen Bibel eröffnet. Hosea interpretiert seine unglückliche Ehe als Symbol der Untreue Israels zu seinem Gott. Er erzählt Privatestes, um die Menschen zur Umkehr zu bewegen. Und man kann sich natürlich fragen: Will ich wissen, wie es um Hoseas Ehe und die Treue seiner Ehefrau steht? Kann er seine Kritik an Israel nicht direkt äußern?

Auch Ida Applebroog (*1929) macht Privates öffentlich und beansprucht damit mehr, als nur eine subjektive Indiskretion. Im Begleitbuch zur documenta lesen wir zu ihrer Kunst folgendes: „Im Mittelpunkt von Ida Applebroogs Werk steht die menschliche Gestalt mit all ihren Neurosen und in ihrer ganzen Vielschichtigkeit. Die Kuratorin Helen Molesworth bemerkte zu ihrer oft beunruhigenden Bilderwelt: »Ihre Sujets reichen von Galileos Tochter bis zur Geburt eines Kindes, von Familiendramen bis zu den Schwierigkeiten zwischenmenschlicher Verständigung.«“[8] Auf der documenta zeigt Applebroog persönliche Unterlagen, die seit 30 bis 40 Jahren von niemandem eingesehen wurden: „Die Installation besteht aus Offsetdruck-Reproduktionen zahlreicher privater Aufzeichnungen und Papiere, die an die Wände geheftet sind und in Stapeln bereitliegen; die Besucher können sie herunterreißen oder mitnehmen. Wie eine Gruppe surrealistischer Demonstranten werden sich während der Eröffnungswoche fünf Reklameträger Klappschilder mit Textauszügen umhängen und in Kassel umherlaufen.“[9] Das Private wird so symbolisch und bekommt durch die Sandwich-Menschen auch noch eine öffentliche Funktion.

11 – Von biblischen Plagen und anderem

Der Plage der Tsetsefliege widmet sich Pratchaya Phinthong (*1974). Er zeigt uns zwei scheinbar schlafende Fliegen auf einem Sockel unter einer Glasvitrine. Es handelt sich um ein fruchtbares Weibchen und ein steriles Männchen der Tsetsefliege. Thema der Arbeit ist die Verknüpfung der individuellen Betrachtung dieses Fliegenpaares mit der durch sie verursachten Plage in Afrika (Schlafkrankheit) und den verschiedenen Wegen, sie zu bekämpfen.

Nun, die Tsetsefliege kommt m.W. in der Bibel nicht vor, wohl aber die großen Schwärme von Nilfliegen und die stechende Fliegen, die zu den ägyptischen Plagen gezählt werden. Während die dritte Plage die Stechmücke bezeichnet, handelt es sich bei der vierten Plage um die Hundsfliege (wohl eine Art der Lausfliege). Beide Arten „treten in großer Menge auf, umschwärmen und stechen Menschen und Tiere, saugen das Blut aus und verursachen z.T. erhebliche Schmerzen.“[10]

12 – Erinnerung / Spiel / Theater / Vergegenwärtigung

Wirklich dankbar bin ich Carolyn Christov-Bakargiev, dass sie uns noch einmal das Werk von Charlotte Salomon (1917-1943) in Erinnerung ruft. Ich habe die Arbeiten von Salomon für mich erst vor wenigen Jahren im jüdischen Museum Amsterdam entdeckt und war gerade auch was die künstlerische Form betrifft, außerordentlich beeindruckt. Diese fließende Verbindung von expressionistischer Form, textueller Anreicherung und existentieller Füllung ist beeindruckend, etwa wenn sie sich reflektierend auf dem Boden liegend malt und dazu schreibt: „Das sich eins fühlen mit dem Gegenstand den man darstellen soll ist beim singen wie auch bei allen anderen Künsten wichtig. Du siehst mich hier, also das Opfertier, das bereit ist sich schlachten zu lassen um besagte Sängerin wieder zu sich selber zurückzuführen.“

Die documenta zeigt eine Auswahl aus dem großen Zyklus „Leben? oder Theater?“ in leider etwas bedrängter Inszenierung. Hier hätte ich mir einen größeren Freiraum gewünscht, damit genau das auch realisiert werden kann, was Intention der Präsentation ist: nicht die Werke einer in Auschwitz Umgekommenen zu zeigen (also Autobiografie im Medium der Kunst), sondern existentielle Malerei auf der Grenze (also Kunstwerke im Medium der Biografie). Das ist nicht ganz leicht, weil man vom Leiden der Charlotte Salomon nicht abstrahieren kann (und auch nicht sollte), aber die Inszenierung im Fridericianum macht die Neu-Wahrnehmung als Kunst auch nicht gerade leicht. Zu dunkel ist das Ganze.

Und die Zusammenstellung der Arbeiten von Charlotte Salomon mit den Arbeiten von Anna Boghiguian (*1946) habe ich überhaupt nicht verstanden, zu unterschiedlich scheint mir der Ansatz und die formale Durchführung. Auch Boghiguians Arbeit ist beeindruckend, aber doch einer ganz anderen Art des künstlerischen Denkens verbunden. Und so bekommt der Raum einen depressiven Grundzug, der in dieser Form (der Perspektivierung auf Fatalität) nicht gut ist.

13 – Die ‚kulturelle Energie der Zeremonie’

Zwei australische KünstlerInnen zeigt der nächste Raum: Doreen Reid Nakamarra (1950-2009) und Warlimpirrnga Tjapaltjarri (*1958). Auf den ersten Blick könnte man die Bilder verwechseln. Tritt man aber näher heran, dann wird ihre unterschiedliche Arbeitsweise gerade auch in der Plastizität deutlich. Beides sind im engeren Sinne nicht figurative Arbeiten, sondern eher schon Abstraktionen bzw. Ornamente, hinter denen sich aber dennoch Erzählwelten und sogar ökonomische Kontrakte verbergen.

Zur Arbeit von Doreen Reid Nakamarra schreibt das documenta-Begleitbuch: „Die wogenden Formen der riesigen Ebene mit ihren von Süßgräsern bestandenen tali (Sandhügeln), aus der sich die dramatische Felsformation der Stätte erhebt, hallen in den zweifarbigen Gemälden nach, die ihren auf- und absteigenden Rhythmus in den für Nakamarra charakteristischen Zickzack-Kompositionen oder in an eine Fata Morgana erinnernden Streifenmustern aus alternierenden Farben einfangen. Ihre dreidimensionalen Energiefelder lassen unsichtbare Kräfte erahnen, die hier am Werk sind: die kulturelle Energie der Zeremonie oder die Naturgewalt, mit der der Wind die flüchtigen Muster in den Wüstensand zeichnet.“[11]

Und zur Arbeit von Warlimpirrnga Tjapaltjarri heißt es: „Im Mittelpunkt der Reihe von Gemälden Tjapaltjarris steht das allgegenwärtige Wüstenthema der Tingari und vor allem der Ort Marrawu, eine Lehmpfanne in der Nähe von Wilkinkarra (Lake Mackay) ... In Tjapaltjarris Gemälden wird die Macht der Tingari durch schillernde, mit Mustern bedeckte Felder angedeutet, die an die Wirkung des von Sand und Salz reflektierten Lichts denken lassen. Diese Gemälde fungieren als Eigentumsurkunden, die eine Zugehörigkeit zum Land kundtun, die für die Region um Kiwirrkurra im Jahr 2001 durch das australische Recht bestätigt wurde.“[12]

Es geht also zum einen um die „kulturelle Energie der Zeremonie“ und zum anderen um Landnahme und Sicherung vor Landraub. Die Arbeiten sind aber zugleich für einen europäischen Betrachter kaum lesbar oder übersetzbar. Für ihn sind es ornamentale Arbeiten, die an Teppichstrukturen oder grafische Muster erinnern. Es bedarf einer Einführung in die spezifische Eigenart dieser visuellen Kommunikation, um ihr wenigstens im Groben folgen zu können.

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Im zweiten Stock des Fridericianums, in dem ich nun den Spaziergang fortsetze, sind noch einmal sechs KünstlerInnen versammelt. Auf dieser Ebene finde ich die Zusammenstellung der künstlerischen Positionen noch schwieriger nachzuvollziehen. Wo sich im Erdgeschoss noch leicht eine plausible Textur erkennen lässt, ist dies im zweiten Stock schwieriger. In einem gewissen Sinne geht es vielleicht um Querverbindungen zwischen weit voneinander entfernt liegenden Orten und Regionen, um Ähnlichkeiten, die sich trotz allem auffinden lassen.[13]

14 – Friede den Hütten! Oder: Bitte mehr vom Hessischen Landboten!

Eine sehr beeindruckende Arbeit im zweiten Stockwerk ist die von Mariam Ghani (*1978). „A Brief History of Collapses“ aus den Jahren 2011-2012 zeigt uns die Gleichzeitigkeit und Differenz zweier Gebäude: der in Trümmern liegende Darulaman-Palast in Kabul und das renovierte Fridericianum in Kassel. Die Künstlerin verfolgt nun die Spuren in den Gebäuden, geht der Geschichte nach und erzählt selbst wiederum Geschichten, sie lässt Figuren auftauchen und wieder verschwinden. Beide Orte, so reklamiert das documenta-Begleitbuch, seien ursprünglich Symbole der Aufklärung und des Fortschritts gewesen. Das kann man so sehen, wenn man aus der Perspektive des Bürgertums denkt. Eine kurze Rückerinnerung an den hessischen Landboten allerdings, 50 Jahr nach Fertigstellung des Fridericianums publiziert, lässt diese Perspektive freilich etwas anders aussehen, auch wenn es sich nicht an die Landgrafschaft Hessen-Kassel, sondern an das Großherzogtum Hessen wandte: „Im Jahre 1834 siehet es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am fünften Tage und die Fürsten und Vornehmen am sechsten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: ›Herrschet über alles Getier, das auf Erden kriecht‹, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt. Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag: sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der Bauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme aber geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln. Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen.“[14] Georg Büchner ist es, der so schreibt, und diese Perspektive dürfte für viele Menschen in Kabul immer noch die vertraute sein. Und die Zukunft sollte bei den Hütten und nicht in den Palästen liegen.

15 – Gewalt

Direkt neben dem Raum mit der Arbeit von Mariam Ghani hängt eine einzelne Arbeit von Vann Nath (1946-2011) mit dem Titel „Interrogation at the Kandal Pagoda“ aus dem Jahr 2006. Vann Nath überlebte die Gräuel der Roten Khmer, weil er gezwungen wurde, Bilder ihres Führers Pol Pot zu malen. Nach seiner Befreiung malte er dann Bilder von den Morden, den Foltern und der Haftsituation in den Gefängnissen, denen 90% aller Künstler im Herrschaftsbereich der Roten Khmer zum Opfer fielen. Man entdeckt Parallelen zu Situationen in deutschen Konzentrationslagern, bei denen Juden in beschönigenden Propagandafilmen mitspielen mussten und anschließend umgebracht wurden (ein Tatbestand auf den Susan Philipsz mit ihrem documenta-Beitrag im Kulturbahnhof hinweist). Vann Naths Arbeit ist zunächst einmal ein Dokument – es dokumentiert den Terror, die Folter, die Einschüchterung, die Inhumanität. Es ist aber auch Geschichtsschreibung, insoweit es zeigt, wie wichtig der Bericht von den grauenhaften Ereignissen ist, dass man eben nicht vergessen darf (nicht nur, weil man es nicht kann, sondern auch, weil es für die kommenden Generationen so wichtig ist). Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ein einzelnes Bild das alles leisten kann, ob es mehr ist als eine hilflose symbolische Geste, aber der documenta-Leitung scheinen weitere Arbeiten nicht sinnvoll gewesen zu sein. Man findet aber über die Google-Bildersuche weitere Werke. Vermutlich würden mehrere Werke in einem Raum schnell in Ideologie umschlagen.

16 – nothing is what it seems

Verwandt und doch ganz anders ist die Arbeit des Amerikaners Llyn Foulkes (*1934). Im Begleitbuch lesen wir: „Sein spätes Meisterwerk The Lost Frontier (1997-2005), ein Diorama, an dem er acht Jahre lang in einem fortwährenden Schaffungs- und Zerstörungsprozess in seinem Atelier gearbeitet hat, gibt ein plastisches Bild vom Tod des amerikanischen Traums. Wir sehen den Künstler von hinten, wie er in eine apokalyptische Berglandschaft hinausblickt. Für Letztere brach er Stücke aus dem hölzernen Bildträger und baute verschiedene vorgefundene Gegenstände wie einen Fernseher, leere Bierflaschen und eine tote Katze ein. Die Szenerie von Los Angeles erscheint als riesiges und grenzenloses Brachland, das eine Autobahn durchschneidet. Von entscheidender Bedeutung ist die Beleuchtung dieser Arbeit, da die dreidimensionale Oberfläche Schatten wirft, die die Erscheinung des Gemäldes verändern können.“ Das Diorama, das sich von der Krippeninszenierung ableitet, hat leicht etwas Idyllisches. Das ist aber hier nicht der Fall. Llyn Foulkes unterläuft die Erwartung. Man könnte mit Madonnas Versen aus American life sagen: “I'd like to express my extreme point-of-view / I'm not a Christian and I'm not a Jew / I'm just living out the American dream / And I just realized that nothing is what it seems”. Eine Arbeit, die mich wirklich überrascht hat.

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Es bleiben noch zwei Räume, die man leicht übersehen kann, weil sie über die Seitentreppen des Fridericianums abwärts aus dem ersten Stock erschlossen werden müssen.

17 – Staub

„What Dust will Rise?“ heißt die Arbeit des Amerikaners Michael Rakowitz (*1973). Und er bezieht sich dabei auf ein afghanisches Sprichwort „Wie viel Staub kann ein einzelner Reiter schon aufwirbeln?“ Aber es ist eben nicht die Menge, die über die Wirkungsmacht des Staubs entscheidet, sondern seine Universalität. Die Inszenierung thematisiert die Arbeit an der Erinnerung, an der Vergegenwärtigung des Zerstörten, sei dieses das Buddha-Monument in Bamiyan in Afghanistan oder sei es die vernichteten Bücher im Kasseler Fridericianum. . Letztere rekonstruiert Rakowitz durch Nachbildungen aus Bamiayan-Stein. Deren Anfertigung stieß dann in Afghanistan noch einmal auf kulturelle Schranken. Das hat etwas und ist wirklich erkenntnisfördernd – wenn man es weiß.

Staub ist aber auch eine subversive Kategorie, wie in einem Briefwechsel um den theologischen Begriff des Staubs zwischen dem evangelischen Theologieprofessor Helmut Gollwitzer und der in Stammheim einsitzenden Terroristin Gudrun Ensslin deutlich wird: „Staub ist der mächtige Beton in unseren Städten, es ist aber auch in uns Staub, der sich empören wird.“[15] Staub ist vielleicht die mächtigste Substanz, weil sie in der Lage ist, überall aufzutauchen und präsent zu werden.

18 – Stell Dir vor es ist Krieg

Die Ausstellung von Werken von Salvador Dali (1904-1989) war eine Überraschung auf dieser documenta. Die erste documenta hatte demonstrativ darauf verzichtet, Dali in den Kanon moderne Kunst aufzunehmen. Auf der dritten documenta war eine Zeichnung von ihm gezeigt worden. Erst auf dieser documenta ist er mit zwei repräsentativen Werken vertreten – aber man weiß nicht recht, warum eigentlich. Sicher, inzwischen ist viel von der politischen Aversion gegen Dali verschwunden und seine Vorwegnahme der Kommerzialisierung des Kunstmarktes verziehen. Trotzdem ist die Entscheidung, ihn neben Morandi oder Gonzales zu zeigen, nicht wirklich einleuchtend. Man muss Dali nicht unterstellen, den Franco-Faschismus aktiv unterstützt zu haben, aber Widerstand gegen den Faschismus lässt sich ihm auch nicht attestieren. Dass es bedeutsam sei, dass im ausgestellten Werk „Le grand paranoiaque“ aus dem Jahr 1936(!) der Souverän als Handlungsfigur abwesend sei, vermag nun kaum zu überzeugen. Dass Dali sich später für die modernen Naturwissenschaften interessierte und diese mit theologischen Spekulationen verband, begründet auch nicht gerade plausibel seine Platzierung auf der dOCUMENTA(13)l

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Vorstehend wurden nicht alle Werke im Fridericianum vorgestellt. Es ist das Recht des theologischen Flaneurs, das eine in den Blick zu nehmen und das andere nicht. Ich setze meinen theologisch interessierten Spaziergang nun in der -> documenta-Halle fort.

 Anmerkungen

[1]    O'Doherty, Brian; Kemp, Wolfgang (1996): In der weißen Zelle. Inside the white cube. Berlin: Merve-Verl (Internationaler Merve-Diskurs, 190).

[2]    documenta und Museum Fridericianum (2012): Documenta 13. Katalog 3/3, das Begleitbuch: Hatje Cantz Pub, S. 40.

[3]    Vgl. http://www.louvre.fr/oeuvre-notices/statuette-composite-feminine

[5]    documenta und Museum Fridericianum (2012): Documenta 13. Katalog 3/3, das Begleitbuch: Hatje Cantz Pub, S. 34. Für Formulierungen wie „In diesem Licht betrachtet bilden Aigners KZ-Äpfel ein bewegendes Symbol für den Holocaust als den Sündenfall der Moderne.“ habe ich überhaupt kein Verständnis. Entweder ist das rein assoziatives Geschwafel oder eine ungeheure Zumutung. Denn: Was ist ein Symbol? In welcher Beziehung steht es zum symbolisierten Gegenstand? Und: Was bewirkt eigentlich der Sündenfall? Wenn nicht Freiheit - Autonomie des Menschen - Entdeckung des Geschmacksurteils ... Kann man ernsthaft vom Holocaust als dem "Sündenfall der Moderne" sprechen? Ich glaube eher, da hat jemand nicht richtig nachgedacht.

[6]    Raphael, Max (1984): Zwiespalt zwischen Inhalt und Form. Picasso: Guernica. In: Raphael, Max: Wie will ein Kunstwerk gesehen sein? The demands of art. Frankfurt am Main: Qumran, S. 231–302.

[7]    „Seit Sartres Essay ›Qu'est-ce que la littérature?‹ wird theoretisch weniger über engagierte und autonome Literatur gestritten. Aber die Kontroverse bleibt so dringlich, wie heute nur etwas sein kann, das den Geist betrifft und nicht das Überleben der Menschen unmittelbar.“ Theodor W. Adorno (2004): Engagement. Noten zur Literatur, Gesammelte Schriften 11, S. 409, Frankfurt: Suhrkamp.

[8]    documenta und Museum Fridericianum (2012): Documenta 13. Katalog 3/3, das Begleitbuch: Hatje Cantz Pub, S. 36.

[9]    Ebd.

[11]   documenta und Museum Fridericianum (2012): Documenta 13. Katalog 3/3, das Begleitbuch: Hatje Cantz Pub, S.112.

[12]   Ebd., S. 126.

[13]   Auf die Arbeit von Kader Attia gehe ich an dieser Stelle nicht ein, weil ich sie nicht wirklich verstehen kann. Und Formulierungen wie „Seine ... Installationen leben von der Spannung zwischen äußerlich-sinnlichem Reiz und kontroversen Inhalten und bedienen sich eines allegorischen Minimalismus, um die post-idealistische Geisteshaltung der globalisierten Welt zu hinterfragen“ sind für das Verstehen nicht wirklich hilfreich. Man liest es und ist verstimmt.

[15]   Negt, Oskar; Kluge, Alexander (1981): Geschichte und Eigensinn. 4. Aufl. Frankfurt a.M: Zweitausendeins. S. 1020.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/78/am399.htm
© Andreas Mertin, 2012