"Unter dem Signum des Kometen"

Aktuelles von der Andreas Bibliothek

Andreas Mertin

Vorschlag zur Güte

In der Ausgabe 76 von tà katoptrizómena hatte ich einige kritische Anmerkungen geäußert zu der m.E. schwächelnden Qualität und der unzuverlässigen Erscheinungsweise der Anderen Bibliothek. Und als ob der Verlag mich Lügen strafen wollte, meldete sich gleich anschließend Reinhard Kaiser und erläuterte die jüngere Editionsgeschichte und verwies darauf, dass zumindest einer der ausstehenden beiden Bände der Anderen Bibliothek noch im Sommer erscheinen würde. Und so war es dann auch. Nun ist meine Andere Bibliothek fast vollständig – bis auf den 251. Band. Mein Vorschlag: Könnte man nicht einen anderen Band als 251. veröffentlichen? Ich habe seit langem einen Traum, von dem ich hoffte, dass er einmal in der Anderen Bibliothek Wirklichkeit werden könnte: Eine Veröffentlichung des Französischen Revolutionskalenders mit Beschreibung aller darin vorkommenden Pflanzen und Arbeitsgeräte. Das wäre ein der Anderen Bibliothek würdiges Projekt, dass vor vielen Jahren Arno Schmidt in seinem Text „Germinal. Vom großen Kalender“[1] schon einmal vorgeschlagen hat. Bisher ist eine derartige Rekonstruktion in deutscher Sprache nicht erschienen. In Zeiten des gestiegenen Umweltbewusstseins, aber auch der Sensibilität gegenüber der Bedeutung der Zeit, würde so ein Buch sicher auf Publikumsinteresse stoßen. Nun aber zu einigen neu erschienenen Bände:

Überflüssige Menschen

Gabriele Riedle: Überflüssige Menschen

Mit viel Begeisterung habe ich Gabriele Riedles Buch „Überflüssige Menschen“ gelesen. [-> ZDF-Mediathek mit einem Interview mit Gabriele Riedle zum Buch] Der Klappentext beschreibt das Buch so: „In einem ganz ungewöhnlichen Sound berichtet dieser Roman von den privaten und politischen Hoffnungen eines ganzen Jahrhunderts. Erzählerin ist Natalie, eine aus dem Schwäbischen stammende Berliner RussischÜbersetzerin, die mit der Neuübertragung von Tschechows Drama Drei Schwestern beauftragt ist. Es geht um verlorene Traditionen und um korrumpierte Utopien. Um Erinnerungen an Vorfahren, zu denen die Verbindungen abgerissen sind. Um die vermeintliche Errettung so vieler Kleinbürgerkinder durch Bildung in den 1970er Jahren. Um sozialen Aufstieg. Und schließlich um die Verlorenheit einer ganzen Generation, deren Zeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts schon wieder vorüber ist: Überflüssige Menschen – wie die Lost Generation bei Tschechow. »Sie bekommen Familie und Sie bekommen Geschichte, Sie bekommen Bitternis und Sie bekommen Süße, damit auch Sie nicht mehr ganz so verloren sind, in Amnesie und Heimatlosigkeit, in der Zeit und auch im Raum, und sich einrichten können für ein paar Stunden ...«

Tatsächlich ist das Buch eine ziemlich präzise literarische Erfassung des Lebens und der Erfahrung der am Ende der 50er-Jahre Geborenen. Vieles von dem, was Gabriele Riedle atmosphärisch verarbeitet, konnte ich unmittelbar nachvollziehen: die Diskussionen um den Terrorismus am Anfang des Studiums, das Ringen um eine Haltung dazu (der Göttinger Mescalero), die Auseinandersetzung mit den Eltern, der Weg ins häuserkampf-bewegte Berlin usw. Es ist eine fesselnde Lektüre, die auch zeigt, wie viel vom Geist der Zeit zumindest unter den Gleichaltrigen gemeinsam ist, aber auch deutlich werden lässt, wie Biographie einzigartig wird.

„Überflüssige Menschen“ ist der zweite Band von Gabriele Riedle in der Reihe der Anderen Bibliothek. Bereits 2004 erschien als 238. Band der „Versuch über das wüste Leben“. Dazu hieß es damals: „Riedles Prosa ist mit allen Wassern der Reflexion gewaschen und voller übermütiger Kapriolen, ihr Tempo ist furios und ihre Ambition vermessen. Wo gibt es noch Ruhe, wo Rausch, Grenzüberschreitung, Selbstbefreiung, Entfesselung - und Demut? Wo endet die Reise? »Wenn ich gewußt hätte«, sagt die Autorin, »daß ich bei den ganz großen Fragen landen würde, hätte ich dieses Buch erst gar nicht angefangen.« Es gehört Verwegenheit dazu, eine Geschichte zu erfinden, die so entschieden mit aller Beschaulichkeit bricht. Wer sich ihrem Sog überläßt, wird sie nicht aus der Hand legen, auch wenn es spät geworden ist.“

Vogelnester

Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogelnest: Erster und zweiter Teil Abenteuer zweier Unsichtbarer Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts und mit einem Nachwort von Reinhard Kaiser

Kritisch hatte ich mich vor vier Monaten zur Reihe der Neuausgaben von Grimmelshausen in der Anderen Bibliothek geäußert. Das muss ich nun präzisieren. Ich weiß immer noch nicht, ob ausgerechnet das spezifische Projekt der Anderen Bibliothek der richtige Ort für die Grimmelshausen-Bände ist. Deutlicher machen sollte ich aber, dass ich dem Gesamtunternehmen der Neuedition des Grimmelshausen-Zyklus positiv gegenüberstehe. Gerade die Lektüre des ersten Teils des wunderbarlichen Vogelsnestes zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie aktuell, ja zeitgenössisch das Werk ist. Der zweite Teil hat mich dann nicht mehr so sehr überzeugt, aber das liegt weniger an der Neu-Edition durch Reinhard Kaiser als vielmehr an Grimmelshausen selbst. Es ist mir einfach zu langatmig.

Der erste Teil dagegen hat einen doppelten Fokus: auf die Zeit, die Grimmelshausen literarisch beschreibt und einen grundsätzlichen über die Zeit hinaus, weil die Frage, was außerhalb unserer Sichtbarkeit passiert, eine weiter virulente ist: „Davon können wir Leser nur träumen – oder eben lesen: Das wunderbarliche Vogelnest macht seinen Besitzer unsichtbar und eröffnet ihm Gelegenheiten zu allem Möglichen, was sonst unmöglich wäre. In einer Fülle komischer Szenen, amouröser Episoden und drastischer Streiche lässt Grimmelshausen zuerst einen einfachen Soldaten und dann einen machtbesessenen, reichen Kaufmann erzählen, wie es ihnen mit dem Vogelnest ergangen ist, und zeichnet dabei ein Panorama der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. Täuschung und Selbsttäuschung sind allgegenwärtig, denn nicht nur der Krieg – auch der Frieden bringt, auf seine Weise, eine »verkehrte Welt« hervor. Grimmelshausen interessiert sich aber nicht nur dafür, was seine Figuren aus ihrer Unsichtbarkeit machen. Er geht auch der umgekehrten Frage nach: Was macht die Unsichtbarkeit aus ihnen?“

Russland

Kerstin Holm: Moskaus Macht und Musen: Hinter russischen Fassaden

Von der Idee her außerordentlich gelungen finde ich Kerstin Holmes (reichlich verspätet erschienenes) Buch über „Moskaus Macht und Musen“. Drei kulturelle Gewährsleite (= Musen) hat sie auserkoren, anhand derer sie uns die Entwicklung und den Wandel der russischen Gesellschaft vorstellt. Wie treffend sie die Musen ausgewählt hat, kann ich nicht beurteilen, sondern muss der ortspezifischen Fachkenntnis von Holmes vertrauen. Kerstin Holm ist schließlich Kulturkorrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Moskau und berichtet seit Jahrzehnten Russland.

Kerstin Holms „Musen“ sind der Romancier Wladimir Sorokin, die Dichterin Alina Wituchnowskaja und der Komponist Wladimir Tarnopolski. Ihre Befragung zu den russischen Zuständen ist interessant und manchmal auch grotesk, immer aber zur eigenen Stellungnahme herausfordernd. Wie hat man selbst diese von Putin dominierte Zeit wahrgenommen? Und wie sieht dasselbe Geschichten aus, wenn man es aus dem kulturellern Zentrum Russlands betrachtet. Ein Buch, das man mit Gewinn liest.

Ein paar kleine kritische Anmerkungen: Auf Seite 189 wird in einer Aufzählung ein Manfred Heidegger erwähnt. Ich vermute, da es sich um einen philosophischen Kontext handelt, dass Martin Heidegger gemeint ist. So etwas sollte nicht passieren. Auch nicht durchs Lektorat rutschen sollte die Formulierung vom „alttestamentarischen Klagegesang des Propheten Jeremias“ auf Seite 205. Es ist und bleibt antijudaistische Sprache. Und ich finde, man könnte selbst das Wort alttestamentlich an dieser Stelle weglassen, ohne dem Satz etwas von seiner Aussage zu nehmen. Oder soll mit dem Verweis auf das Alter der hebräischen Bibel hier doch eine Konnotation eingetragen werden? Und schließlich weiß ich nicht, ob die Autorin die Etikettierung des Patriarchen Kyrill als modernen, offensiven Politiker ohne jede Berührungsängste ernst meint oder ob hier nicht doch eine deutlichere ironische Markierung angebracht gewesen wäre. Zumindest Frauen in geistlichen Ämtern gibt Kyrill nicht die Hand und beantwortet auch nicht ihre Briefe wie am Beispiel der ehemaligen Bischöfin Margot Käßmann deutlich wurde. Ob man ihn dann noch einen Mann ohne Berührungsängste nennen kann? Ich glaube nicht. Und am gerade sich vollziehenden Prozess gegen die Pussy Riots wird deutlich, dass die Modernität von Kyrill sich allenfalls auf die moderne totalitäre Ideologie der 30er.Jahre des 20. Jahrhunderts bezieht.

Anmerkungen

[1]    Arno Schmidt, Germinal. Vom großen Kalender; in: ders., Aus julianischen Tagen, Frankfurt 1979, S. 62-71

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/78/am394.htm
© Andreas Mertin, 2012