Paradigmen theologischen Denkens


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Ein Kreuz bleibt leer

Vom Für uns zum Miteinander – eine neue Deutung des Todes Jesu

Hans-Jürgen Benedict

1. Ein Kreuz bleibt leer. Zu Anna Seghers „Das siebte Kreuz“

Sirenen heulen durch den dicken Herbstnebel im Rheintal zwischen Worms und Mainz. Schon rasen Polizeiautos über die Landstraßen, riegeln SA-Posten die Kreuzungen ab, schieben SS-Angehörige auf den Brücken Wache: Etwas liegt in der Luft- das spüren alle in der Gegend. Auch der Arbeiter, der zur Frühschicht in die Farbwerke Hoechst fährt, sagt seinem Kollegen: „Etwas ganz Verrücktes muss passiert sein“.[1] Noch ehe der Leser weiß, was geschehen ist, gelingt es der Erzählerin, ihn in die Unruhe und Angst der Menschen an diesem Herbstmorgen des Jahres 1937 zu versetzen.

Tatsächlich ist etwas Unglaubliches passiert. Sieben Häftlingen ist es gelungen, aus dem KZ Westhofen zu entkommen. Die Menschen in der Umgebung des KZ verändert diese Flucht. Manche erschrecken, fürchten neue Verhaftungen; viele leben so weiter wie bisher, arrangieren sich mit dem System. Einige aber erkennen einander plötzlich an erglänzenden Pünktchen in den Augen des Gegenübers. Denn:„Ein entkommener Flüchtling, das ist immer etwas, das wühlt auf: das ist immer ein Zweifel an ihrer(sc. Des NS-Regimes) Allmacht. Eine Bresche.“ (52) Um die anderen Häftlinge abzuschrecken und die wieder Eingefangenen zu Tode zu quälen, läßt der Lagerkommandant sieben Kreuze auf dem Tanzplatz genannten Appellhof errichten. Sieben Platanen werden gekappt und jeweils mit einem Querbrett in Schulterhöhe versehen, sodass sie von weitem sieben Kreuzen gleichen Der Gestapo gelingt es schon nach kurzer Zeit, vier der entflohenen Häftlinge einzufangen. Als ersten schon bei der Flucht Beutler, dann den Altkommunisten Wallau. Dann Pelzer. Füllgrabe stellt sich selbst. Belloni verunglückt auf der Flucht tödlich .Einer, der alte Aldinger, stirbt an Entkräftung, kurz bevor er sein Heimatdorf erreicht. Nur einer kommt durch, der junge Mechaniker Georg Heisler. Sein Fluchtweg sieben Tage lang zwischen Mainz und Frankfurt am Main, von alten Freunden verstoßen, von fremden Menschen aufgenommen und über die Grenze nach Holland gebracht, wird zu einem großen Panorama der deutschen Gesellschaft im konsolidierten Nazideutschland, quer durch alle Schichten der Bevölkerung.

Der Lagerkommandant, der sich die Kreuzigung ausdachte, merkt nicht, dass er, nahe dem Kaiserdom Worms als Zeichen des christlichen Abendlands, Menschen nicht erniedrigt sondern erhöht, wenn er ihnen die Todesart eines als Erlöser verehrten Gekreuzigten androht. Das ist der kommunistischen Erzählerin Anna Seghers aber bewusst. Sie greift das zentrale christliche Symbol des stellvertretenden und erlösenden Leidens auf, um die Kontinuität brutaler Herrschaftsausübung zu zeigen[2]

Doch: Ein Kreuz bleibt leer. Das siebte Kreuz wird zum Symbol der Hoffnung und des Widerstands in einer Zeit scheinbar perfekt organisierten Terrors. Immer wieder kommt der Roman auf den Kreuzigungsplatz zu sprechen, werden die Gefangenen vor ihre Kreuze geschleppt, mehr tot als lebendig. „Von den 10 oder 12 Platanen, die gestern noch da standen, waren alle gefällt worden, bis auf die sieben, die man brauchte. Zillich vor seiner SA befahl die vier lebenden Flüchtlinge anzubinden Jeden Abend, wenn dieser Befehl ertönte, lief ein Zittern durch die Häftlinge (…) Aber die vier an die Bäume gebundenen Männer zitterten nicht. Nicht einmal Füllgrabe zitterte. Er starrte geradeaus, mit offenem Mund, als hätte der Tod ihn angeschrieen, sich endlich anständig aufzuführen. Auch auf seinem Gesicht lag ein Schimmer jenes Lichts, mit dem verglichen Overkamps Polizeilampe nur ein elendes Funzelchen war.“(204) Der Kommandant hält eine Ansprache: „Der sechste Flüchtling gefunden, tot, wie ihr wisst. Seinen Tod hat er sich selbst zuzuschreiben. Auf den siebten brauchen wir nicht mehr lange zu warten, denn der ist unterwegs. In unserem Land gibt es kein Asyl mehr für flüchtige Verbrecher. Unser Volk ist gesund. Kranke schüttelt es ab; Wahnsinnige schlägt es tot. Keine fünf Tage sind seit dem Ausbruch vergangen. Hier - reißt eure Augen auf, prägt euch das ein.“(205)

Immer noch hofft der Kommandant, den siebten zu fangen und dann die große Kreuzigung vollziehen zu können: einmal winselt er sogar seinen Gott an, ihm in der Not beizustehen und die Häftlinge zurückzuschicken - welch groteske Verkehrung - der Schlächter bittet Gott um seine Opfer.Der da die Kreuze als nazistischer Pilatus zur Abschreckung errichten lässt, scheitert mit seinem Plan. Heisler entkommt. Der zynische Missbrauch schlägt auf die Urheber zurück, deren Grenzen hier aufgezeigt werden. Fahrenberg wird seines Postens enthoben. (Sein Nachfolger lässt die Kreuze sofort abreißen, nicht aus Mitmenschlichkeit sondern, wie es im Roman heißt, „um Ordnung in die Hölle zu bringen“).

Das siebte Kreuz bleibt leer. Das heißt auch: das Kreuz als Symbol stellvertretenden Leidens soll nicht mehr notwendig sein. Es muss sich nicht einer für die andern opfern(obwohl es das immer wieder geben wird). Das siebte Kreuz hebt das eine Kreuz oder besser: das Kreuz des einen nicht auf, aber es zeigt eine andere Möglichkeit auf, von der exklusiven Fixierung auf das stellvertretende Leiden wegzukommen durch aktive Solidarität. Zunächst aber hält Anna Seghers fest: In der Solidaritätsgemeinschaft der Erinnerung ist das Kreuz Christi zentral und unaufgebbar- das besagt eine Schlüsselszene des Romans.[3]

Georg lässt sich am ersten Fluchttag nachts im Mainzer Dom einschließen, um sich dem Zugriff der Verfolger zu entziehen. Von außen erleuchtet ein Licht plötzlich eines der Kirchenfenster. „Georg stockte der Atem. Ein ungeheurer, in allen Farben glühender Teppich jäh in der Finsternis aufgerollt. Jenes äußere Licht schüttete auch, solang es brannte, alle Bilder des Lebens aus. Ja, das müssen die beiden sein, dachte Georg, die aus dem Paradies vertrieben wurden. Ja, das müssen die Köpfe der Kühe sein, die in die Krippe sehen, in der das Kind liegt, für das es sonst keinen Raum gab. Ja, das muß das Abendmahl sein, als er schon wusste, dass er verraten wurde, ja, das muß der Soldat sein, der mit dem Speer stieß als er schon am Kreuz hing. Er, Georg, kannte längst nicht mehr alle Bilder. Viele hatte er nie gekannt, denn bei ihm daheim hat es das alles nicht mehr gegeben. Alles, was das Alleinsein aufhebt, kann einen trösten. Nicht nur, was von andern gleichzeitig durchlitten wird, kann einen trösten, sondern auch was von andern früher durchlitten wurde.“(57f)

Die christliche Heilsgeschichte wird im Modus der Erinnerung beschworen. Wie bei einer alten Handschrift beginnt Georg die Zeichen und Formen zu entziffern und sich dabei wiederzuentdecken - bin ich nicht wie dieses Kind - verjagt, verraten, ja vielleicht sogar gekreuzigt? Eine überzeugte Kommunistin lässt ihren Helden, auch einen allerdings nicht besonders verlässlichen Kommunisten, sich in der Gestalt des fliehenden und leidenden Christus wiedererkennen. Im Wiedererkennen wird Solidarität hergestellt mit den Opfern der Geschichte, die das Alleinsein aufhebt und tröstet. Mag sein, dass dahinter eine ideologische Absicht der Marxistin steht, dass die Seghers die biblischen Traditionen von Gerechtigkeit und Frieden aus ihrem eschatologischen Kontext herauslösen und als geschichtlich realisierbare Möglichkeit darstellen will. Aber ist das so falsch? Es geht ja nicht um die große Revolution sondern um die Rettung dieses einen Menschen, die eine Hoffnung in finsterer zeit bedeutet. Der Bezug auf den leidenden Christus und das Kreuz verweist auf ein Uneingelöstes, ein Mehr, einen Überschuss an Hoffnung - nur im Gedächtnis des Leidens kann eine bessere Zukunft eröffnet werden.

Aber nur, wenn es auch eine gegenwärtige Solidarität gibt. Deswegen bewegt sich der Passionsweg des Flüchtlings vom Kreuz weg, er ist gleichsam ein rückwärts gekurbelter Leidensweg, vom Kreuz fort, immer wieder in Gefahr, doch letztlich gerettet.

„Der Schatten des Kreuzes: er lastet auf allem Geschehen und bildete einen Bannkreis von Drohung und Angst.“[4] Aufatmen kann der Leser mit dem Flüchtling erst ganz zum Schluss. Die letzte Zuflucht in der Nacht vor der Kontrolle am Kasteler Brückenkopf gewährt ihm eine Frau, eine Kellnerin. Er besteigt das Schiff nach Holland. Der siebte Flüchtling kann sich retten, muss nicht ans Kreuz. Dieses Netz der spontanen Solidarität wird differenziert geschildert: die zentralen Gestalten auf Heislers Passionsweg handeln vor allem aus emotionalen Gründen, weniger aus ideologischen und politischen Motiven. Aus der Tiefe ihres Menschseins taucht die Bereitschaft zur Hilfe auf, die Bereitschaft einem andern zu helfen auch unter Gefahr für das eigene Leben. Ihre unableitbaren moralischen Entscheidungen erst machen es möglich, dass der gehetzte Flüchtling nicht an Krankheit, Hunger, Alpträumen, Selbstmordvisionen, Hoffnungslosigkeit, Schwäche und Verzweiflung zugrunde geht. Er kann schließlich trotz des feinmaschigen Netzes des Polizeiapparats entkommen. Nicht eine politische Organisation bewerkstelligt das Gelingen, sondern einfache Menschen setzen ihr eigenes Leben und das ihrer Angehörigen aufs Spiel, damit die Passion des Kommunisten Heisler in der Freiheit endet. Diese Perspektive eröffnet der Heimatroman in finsterer Zeit. Wenn jeder mit seiner „schwachen messianischen Kraft“ (W. Benjamin) ein weniges dazu beiträgt. Leben zu retten, dann ist das Kreuz, sind die vielen Kreuze nicht mehr unbedingt notwendig. Die Gedanken der KZ-Häftlinge, die den Abriss der Kreuze beobachten, bilden den letzten Satz des Romans: „Wir fühlten alle, wie tief und furchtbar die äußeren Mächte in den Menschen hineingreifen können, bis in sein Innerstes, aber wir fühlten auch, daß es im Innersten etwas gab, was unangreifbar war und unverletzbar.“(288)

Kaum zu glauben, dass Anna Seghers(1900 in Mainz geboren) diesen Roman, der so lebendig die Rhein-Main Landschaft und ihre Menschen schildert, im fernen Mexiko geschrieben hat. Das Buch zählt zu den wenigen Widerstandsromanen, die auch im Ausland ein breites Publikum fanden. Es wurde 1944 in der Regie von Fred Zinneman verfilmt. Ein rheinhessischer Exilant, in der Uniform der amerikanischen Armee schreibt der Autorin 1945. „ Als wir bei Mainz über den Rhein fuhren, habe ich den Helm abgenommen, dir und den Freunden vom ‘Siebten Kreuz’ zu Ehren.“ Christa Wolf hatte Recht, als sie diesem Buch, das in Deutschland lange bekämpft wurde, 1963 nachrühmte: „Der Stoff, aus dem dieses Buch gemacht ist, ist dauerhaft und unzerstörbar wie weniges, was es auf der Welt gibt. Er heißt: Gerechtigkeit.“

2. Eine Abschiebung findet nicht statt – Kreuzweg für Flüchtlinge

 Flucht aus dem KZ – das ist Gott sei Dank lange her. Ein aktueller Bezug des Romans ist das Netz der Solidarität für illegale Flüchtlinge in unserer Gesellschaft - eine Million leben nicht geduldet illegal unter uns. Leben in der Schattenwelt heißt eine Untersuchung über diese Migrantinnen in der Illegalität. Um Abschiebung als Kreuzeserfahrung zu verhindern, ist immer wieder ein Stück Widerstand und Solidarität nötig, bis hin zum Kirchenasyl. Ein Netz aktueller Solidarität, die ihre Kraft gerade in kirchlichen Kreisen aus der Vergegenwärtigung des Flüchtlings Jesus zieht, als Kind fliehen seine Eltern mit ihm nach Ägypten, verfolgt und unstet ist er als unbequemer Wanderprediger des Reiches Gottes. Auch wenn für die Flüchtlinge heute die Gefahr für Leib und Leben nicht in jedem Fall besteht, so müssen sie bei ihrer Rückführung doch mit erheblicher Lebensminderung rechnen. Es gibt mehr Platz für sie auch hier bei uns, als unsere oft ängstliche Selbstbezogenheit sich vorstellen will. Immer wieder also: einer der vorgesehenen Plätze zur Abschiebung bleibt leer.

Der „Kreuzweg für die Flüchtlinge“ am Karfreitag jedes Jahres in Hamburg, der an der Hauptkirche St. Katharinen seinen Anfang nimmt, erzählt davon. Er bringt die Kreuzwegstationen Jesu in die Gegenwart, indem an den Stationen anhält, die Flüchtlinge durchlaufen müssen – repressive (Ausländerbehörde, Flüchtlingsunterkünfte, Gerichtsgebäude, Untersuchungsgefängnisse) wie rettende (Beratungsstellen, Kirchengemeinden). Dieser Kreuzweg für Flüchtlinge bedenkt in Lesung, Lied und Gebet, was damals in Jerusalem geschah und was heute hier geschieht, geschehen muss. Opfer und Täter, Zuschauer und Aktivisten sind Teil des Geschehens. So wird deutlich: Es geht nicht primär darum, die offiziellen staatlichen Stellen empört anzuklagen, weil sie das tun, wozu sie von Staats wegen verpflichtet sind. Absicht ist auch nicht, dass dem Gekreuzigten nachfolgende Christen mit reinen Händen dastehen(obwohl es manchmal so aussieht). Es geht eher darum (wie in Seghers Roman) zu zeigen, wie Opfer entstehen, weil die vorhandenen Möglichkeiten, anders zu handeln nicht, ausgeschöpft werden. Ich erinnere in einer Zwischenbemerkung daran: Dass Christus für uns sterben musste, ist ja Folge eines Verhängnisses bzw. Versäumnisses. Nach der Theorie von R. Girard geht es um mimetische Gewalt – Girard zeigt, wie in Gesellschaften seit der Antike sich das Potential ungelöster Konflikte jeweils durch Anwachsen der Gewalt zuspitzt und schließlich über einem Opfer, dem Sündenbock, zusammenschlägt. Der Anblick des Opfers aber, oder genauer noch: das Opfer, das uns anblickt(so wie Dürers Schmerzensmann) hat eine geradezu sakrale Wirkung, führt dazu, dass das Volk in sich geht, Buße tut und zeitweilig nach Möglichkeiten sucht, anders zu handeln. Will sagen: Vom stellvertretenden Für uns, das Christi Tod eröffnet, zum solidarischen Miteinander, zu rettenden Taten. Damit ein Kreuz leer bleibt, heute gesprochen: damit eine Abschiebung ausgesetzt wird, ich erinnere an den NDR-Film Abschiebung im Morgengrauen, der zeigt, wie Eltern unbarmherzig von ihren Kindern getrennt werden. Damit eine Verzweiflungshandlung nicht geschieht - ich erinnere an den Selbstmord von Abschiebehäftlingen im Gefängnis. Ein erfolgreiches Kirchenasyl kann das verhindern.

Durch Christi Leiden fällt ein Licht auf diese Leidenden, so wie Anna Seghers das in der Domszene schilderte. Auf die nahen und auf die fernen Leidenden, von denen wir abends im Fernsehen erfahren. Auf die Leidenden, die wir auch selber sind(es gibt in letzter Zeit viele Bücher und Filme über Krebserkrankungen als Kreuzeserfahrungen.) Und die Handelnden, die wir selber sein können.

3. Was kann die Aussage, dass Christus für uns gestorben ist, heute noch bedeuten?

Die Passionszeit ist eine Zeit mystisch-religiöser Selbstbesinnung. Viele Texte klingen fremd in unsere Zeit. hinein. Selbstzerknirschung scheint angesagt. Kein Wunder, dass sich nicht viele Zeitgenossen in die Passionsandachten verirren. Die stehen extrem quer zur Spaß- und Unterhaltungsgesellschaft. Die Zeit vor Ostern ist Konsumzeit, nicht Fastenzeit. Musikalisch allerdings gehen Leiden und Tod Jesu auch kirchlich fernen Zeitgenossen zu Herzen. Eine Aufführung der Matthäus- oder Johannespassion von Johann Sebastian Bach mit ihren gewaltigen Chören, innigen betrachtenden Arien und dem anrührend singenden Evangelisten lässt einen nicht unberührt. Ich habe es häufiger erlebt, dass Paare bei der Choralstrophe „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir, wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür“ ,die unmittelbar nach dem letzten Atemzug Jesu und dem Bekenntnis des Hauptmanns ertönt, sich anschauten und die Hände drückten. Der Partner wird hier gewissermaßen zum Stellvertreter des für mich den Tod erleidenden Christus, der mein Sterben erträglich machen soll. „Wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein.“ So werden wir von der Passionsmusik an Grenzfragen geführt und können die stellvertretende Bedeutung des Todes Jesu erfahren. „Wir setzen uns mit Tränen nieder“, heißt es am Schluss der Matthäuspassion. Der Tod des Gottessohnes bewegt uns zutiefst und erinnert uns an die eigene Vergänglichkeit. So ist es - wir sind für einen Moment erschüttert, aber dann kehren wir in den zivilen Alltag zurück, der nach ganz anderen Gesetzen abläuft.

Ich will auf eine persönlich-fromme und auf eine ethisch-solidarische Wirkung des Kreuzes- und Opfertodes Jesu für unsere Weltgestaltung hinweisen. Es gibt ein kleines Bild des leidenden Christus von Albrecht Dürer: „Der Schmerzensmann“. Der gepeinigte Christus sitzt da und schaut den Betrachter direkt an - mit einem Ausdruck namenlosen Leidens. Er verbirgt sein Gesicht zur Hälfte, als schäme er sich der Menschheit, die er angenommen hat. Als der französische Schriftsteller Julien Green 1943 in New York dieses Bild Dürers sieht, notiert er in seinem Tagebuch: „Ich kann den sitzenden Christus Dürers nicht sehen, ohne dass mir bang ums Herz wird, denn wenn er Qualen duldet, habe ich sie vor allem verschuldet. Wem sollte ich von diesen Dingen sprechen, ohne mich höchst lächerlich zu fühlen? Gleichwohl beschleicht mich vor dieser kleinen Zeichnung das Gefühl – und ich frage mich, ob man von ihr nicht eben diesen Eindruck haben soll.“[5]

Es ist, als wolle Jesus mit diesem Blick sagen: Seht her, was ich für euch erdulde. Nicht im Ton eines Vorwurfs sagt das dieser Blick. Sondern: so seid ihr Menschen, das macht ihr mit einem anderen Menschen. Eure Missetaten und Grausamkeiten muss ich ertragen. Ich tue es, aber schaut mich an, geht in euch, wenn ihr mich seht. Vielleicht ist dies der eigentliche Sinn des schwierigen Gedankens vom stellvertretenden Leiden Jesu. Er will, dass wir in eine Zwiesprache mit Gott und mit den Abgründen unseres Menschseins kommen. Es geht nicht um ein neurotisches Schuldbewusstsein, sondern um eine Selbstbefragung. Der leidende Christus schaut uns an und bringt uns ins Gespräch mit sich, mit Gott, mit mir selbst. Nicht, weil ich so sündig bin im moralischen Sinn oder weil ich ein schlechter Mensch bin, sondern weil ich als Mensch, als Repräsentant der Menschheit, zu solchen Handlungen fähig bin. Deswegen dreht auf vielen mittelalterlichen Bildern der das Kreuz tragende Christus den Kopf zum Betrachter hin, sieht aus dem Bild heraus ihn unmittelbar an. Auch die alten Passionslieder, die uns heute schwer über die Zunge gehen, wissen davon. Bei Johann Heermann fragt das fromme Ich: „Was ist doch wohl die Ursach solcher Plagen? Ach, meine Sünden haben dich geschlagen. Ich, mein Herr Jesu, habe verschuldet, was du erduldet.“ Nicht etwas auf die andern verschieben, auf die Sündenböcke, auf die Juden oder sonst wen. Sondern sich für einen Moment anschauen lassen vom leidenden Christus, wie Dürer ihn gezeichnet hat.

3a. Mit Wehmut erfüllt mich dein Anblick – Heines Sicht auf den Gekreuzigten

Anders - ironisch und doch ernsthaft geht Heine mit dem gekreuzigten Jesus um. In seiner Analyse der geschichtlichen Rolle des Christentums spricht er mit großer Achtung von der Tröstung, die vom Kreuz Christi ausgegangen ist: „Ewiger Ruhm gebührt dem Symbol jenes leidenden Gottes, des Heilands mit der Dornenkrone, des gekreuzigten Christus, dessen Blut gleichsam der lindernde Balsam war, der in die Wunden der Menschheit herabrann.“[6]

Und religionspychologisch spricht er davon,dass nur wer seinen Gott leiden sieht,zu ihm ein rechtes Herz fassen, ja ihn lieben kann.“Von allen Göttern, die jemals gelebt haben, ist daher Christus der Gott,der am meisten geliebt worden ist“ (II,498f).

In Deutschland. Ein Wintermärchen spricht Heine von und zu seinem armen Vetter Jesus, als bei er frühmorgens bei Paderborn am Wege das Bild des Gekreuzigten aufragen sieht:

Und als der Morgenenebel zerrann,
Da sah ich am Wege ragen
Im Frührotschein, das Bild des Manns,
Der an das Kreuz geschlagen.

Mit Wehmut erfüllt mich jedes Mal
Dein Anblick, mein armer Vetter,
Der du die Welt erlösen gewollt,
Du Narr, du Menschheitsretter!

Sie haben dir übel mitgespielt,
Die Herren vom Hohen Rate.
Wer hieß dich auch reden so rücksichtslos
Von der Kirche und vom Staate. (IV,605)

Der jüdische Dichter spricht gewissermaßen fast familiär mit seinem Vetter, macht ihm Vorhaltungen. Dabei aktualisiert er Jesu Verhalten und kritisiert besorgt seine Radikalität.

Geldwechsler, Bankiers hast du sogar
Mit der Peitsche gejagt aus dem Tempel-
Unglücklicher Schwärmer, jetzt hängst du am Kreuz
Als warnendes Exempel! (IV,606).

Heine erfasst genau, was Jesus letztlich ans Kreuz gebracht hat. Es war der Konflikt mit der Institution des Tempels, der damals als religiöses Zentrum Israels mit seinem riesigen Opferbetrieb auch das der Wirtschaft war.Deswegen ließ ihn die jüdische Oberschicht festnehmen und liefert ihn an die Römer aus. Heine erweicht nicht den geldkritischen Ansatz Jesu, er aktualisiert ihn, ablesbar an den Begriffen Bankiers, Hochfinanz, Börse. Vor Augen hat er das Aufkommen riesiger Finanzvermögen und Spekulationen, wie er sie immer wieder in seinen Berichten aus Paris schildert.

Und wieder en famille sozusagen dann die ironische Pointe, hättest du nur ein Buch über die Himmelsfragen geschrieben, wär dir das nicht passiert.

Der Zensor hätte gestrichen darin
Was etwa anzüglich auf Erden,
Und liebend bewahrte dich die Zensur
Vor dem Gekreuzigt werden. (IV,606)

Dieser Christus ist nahe bei dem Jesus, den Dostojewskij im Kapitel Der Großinquisitor zur Zeit der Inquisition auftreten lässt – er würde wieder gekreuzigt werden. Was geschieht mit Christus, der so in die Gegenwart geholt wird? Er wird zum Zeitgenossen, zum armen Vetter, der der Gegenwart den Spiegel vorhält.

4. Von dem Für uns stellvertretenden Leidens zum Miteinander des von Jesus angestifteten Handelns

Diese Deutung liegt nahe bei derjenigen , die ich die ethische nennen möchte. Ist ein Ausstieg aus dem Opfermechanismus möglich? Was kann „Jesus ist für uns gestorben“ heute für unser Handeln bedeuten, jenseits der Befreiung von Sündenschuld? Meine These ist: Historisch gesehen ist Jesus an den ungelösten Konflikten seiner Zeit gestorben. Das Land war gespalten, da war die Mehrheit der notdürftig ihr Auskommen fristenden Gruppen(penetes), da waren die Bettelarmen(ptochon), die Kranken und Behinderten, die riefen Jesus, erbarme dich meiner. Da war die kleine Oberschicht, die mit den Römern paktierte und an der Erhaltung des Tempelopferbetriebs interessiert war . Es gab konkurrierende Protestgruppen, solche die gewaltsam kämpften und gewaltfreie, zu denen die Jesusbewegung gehörte. Es gab die Pharisäer, die durch ein frommes gesetzestreues Leben das Reich Gottes herbeizwingen wollten. Indem Jesus sich in diese Konflikte hineinbegab, er kritisierte die Tempelaristokratie, er führte Streitgespräche mit den Pharisäern um die humane Auslegung des Gesetzes, er heilte Kranke und Besessene, zog mit seinen Jüngern predigend und das Wenige teilend durchs Land, lebte sozusagen alternativ: Er war manchmal zornig und zog er Aggressionen auf sich. Als aktiv Handelnder, nach der Tempelaustreibung, bei der er den Konflikt mit der Oberschicht riskierte, schließlich als Leidender. Im letzten Mahl mit seiner Jüngern ahnte er sein Todesschicksal, im Garten in Gethsemane akzeptierte er es, am Kreuz hat er nach Aussagen der Evangelisten zwischen Zweifel und Zuversicht geschwankt, aber letztlich darauf vertraut, dass Gott ihn nicht verlässt.

Seine Nachfolger haben daraus in Anknüpfung an das letzte Mahl, das Jesus mit ihnen hielt, ein „für uns“ gemacht. Mein Leib - für euch gegeben, der neue Bund in meinem Blut - für euch vergossen. Das steht noch in der antiken Opfertradition, die damals allgegenwärtig war, nicht nur bei den sog. Heiden, auch im jüdischen Volk. Der Jerusalemer Tempel hatte einen gigantischen Opferbetrieb. Wie im kleinasiatischen Pergamon mit dem großartigen Opferaltar, dessen Fries in Berlin steht, wie in Ephesus mit dem Opferbetrieb für die Göttin Artemis bzw Diana, die die Tradition der anatolischen Muttergöttin Kybele auf nimmt – was ihr da vor der Brust hängt sind nicht Zitzen oder Eier sondern, so die neueste Deutung Stierhoden von Stieren, die dort geopfert wurden. Die Goldschmiede, die rufen „Groß ist die Diana der Epheser“, fürchten um ihre Existenz, weil Paulus den Ephesern mit seiner Verkündigung vom Messias einen Weg zeigt, diesen Opferkult zu überwinden (Apg 19).

Ein kleiner schwieriger Exkurs: Christus ist das Opfer, das alle Opfer beendet. Statt Beteiligung an den öffentlichen Opfern, die das Verhältnis zu den Göttern stabilisierten, das machte die Christen den Römern verdächtig, wird jetzt im Judentum und im Christentum einerseits Religion als Verinnerlichung des Glaubens verstanden und gelebt, als Arbeit an sich selbst, als Gebete, Nächstenliebe, Fasten. Während das Judentum durch die Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. zu einer reinen Buchreligion wird, die Bibel ist das „transportable Vaterland der Juden“, sagt Heine, überlebt im Christentum zugleich mit der Individualisierung ein Rest von Opferkult in dem von Priestern zelebrierten Abendmahl,(der römische Bischof ,später Papst genannt bis zu Benedict XVI versteht sich wie der römische Kaiser als oberster Priester, als Pontifex Maximus.) Das Abendmahl ist zugleich ein soziales Mahl, das Gemeinschaft stiftet. Das frühchristliche „Für uns“ kann nun das Tor zu einem neuen Miteinander sein. Der Opfergedanke muss dabei nicht völlig ad acta gelegt werden sondern symbolisch-spirituell verstanden werden. (Nicht ein sadistischer Gott verlangt das Opfer seines Sohnes, sondern wir selber projizieren unsere ungelösten Konflikte auf das Opfer, früher die Tieropfer, jetzt das Christusopfer, der für uns einsteht, indem er sich hingibt). Indem das Opfer als symbolische Darstellung des Kampfes um Überlebenschancen verstanden wird, eröffnet es Möglichkeiten, diesen Kampf konstruktiv zu beeinflussen – weg von jener Opfer hinnehmenden Haltung, zu einer, die solche Opfer überflüssig zu machen versucht durch bewussteres Handeln. Diese Erfahrung der Vermeidung von Opfern können die Menschen nur in einem stets neuen Miteinander machen, indem sie ihre Konflikte aktiv angehen. Zum Beispiel durch zivile Konfliktlösung. Durch schmerzliche Konfrontation ohne den Rückgriff auf Gewalt. Durch entschiedene Anstrengungen gewaltfreier Kommunikation. Schuld, Sühne und Opfer bleiben aber weiter Kategorien menschlichen Zusammenlebens. Sie erschließen die Tiefe unserer Lebenswirklichkeit.

Ich will es an konkreten Beispielen verdeutlichen: Dort, wo wir die im Menschen angelegte Bereitschaft, in Druck- und Angstsituationen andere zu Opfern zu machen, leugnen, fallen wir dem Opfermechanismus unbewußt anheim. Das ist an der Fremdenfeindlichkeit zu beobachten. Solche Konflikte spitzen sich zu und entladen sich dann in unverstandenen aggressiven, ja mörderischen Handlungen. Ein junger Ausländer wird durch Beleidigungen, Hänseleien und Attacken zum Selbstmord getrieben. So geschehen vor einigen Jahren in Neuwiedenthal bei Hamburg. Als der Grund des Selbstmords bekannt wird, kommt ein Prozess der Betroffenheit und des Nachdenkens im Gemeinwesen in Gang. Man spricht miteinander. Besonders die Kirchengemeinde treibt diesen Prozess voran. Bestimmte ungerechte Verhältnisse werden als konfliktverursachend erkannt. Der Tod des jungen Mannes war so gesehen sinnlos und doch nicht sinnlos. Eine verändernde Wirkung ging von seinem Tod aus. Miteinander wurden die Gewaltursachen angegangen. Vorurteile gegen Ausländer entluden sich in den 90er Jahren in den Brandanschlägen von Solingen und Mölln 1992/93 .Danach ging das Volk in sich mit Lichterketten, als es erkannte, wieweit es selbst daran durch Vorurteile und Geschehenlassen beteiligt war. Jetzt die Mordserie der Zwickauer Nazi-Terrorzelle an Migranten, jenen von Sarrazin als überflüssig bezeichneten Blumen- und Gemüsehändlern ; die Trauerfreier in Berlin mit der Ansprache der Kanzlerin, in der sie die Angehörigen um Verzeihung bat, das war nach dem Erschrecken sozusagen ein Bußakt dafür, dass wir, die Öffentlichkeit, diese Mord-Opfer mit oberflächlichen, vorurteilsbehafteten Erklärungen, Dönermorde, jahrelang hingenommen hatten, dass Polizei und Verfassungsschutz nicht in der rechten Szene nach den Tätern suchten .

Das mutige Eintreten von Norbert Sommer in der Münchener S-Bahn gegen zwei Jugendliche, die Schüler belästigten, hat tragischerweise zu seinem Tod geführt. Das ganze Land war erschrocken über dies Ereignis. Man sprach von einem (unfreiwilligen) Opfertod und beschwor damit auch die Erinnerung an Jesu Tod herauf. Und in der Tat, überall dort, wo jemand mutig für die Sache der Schwachen unter Lebensgefahr eintritt, da ist Golgatha nicht weit. Man schwor sich trotz des schrecklichen Ausgangs, weiter Zivilcourage zu üben, aber auch vorsichtig zu sein und neben der Polizei in ähnlichen Situationen andere um Hilfe zu bitten. Auch hier motiviert also das Eintreten für einen anderen zu einem neuen Miteinander.

Die Passion Jesu kann also helfen, Trost in Leidenssituationen zu finden und zugleich den Gewaltmechanismus zu durchschauen . Jesus selbst hat nach dem Johannesevangelium dieses neue Wir der gemeinsamen Konfliktlösung angesprochen, indem er seine Mutter und den Jünger Johannes aufeinander verweist: „Siehe, das ist deine Mutter, siehe, das ist dein Sohn.“ Das ist das neue Wir des Miteinander der Jesus Nachfolgenden.

Schließlich: Hinter der Heilsaussage „Jesus für uns gestorben“ ist der leidende und gequälte Mensch erkennbar – millionenfach wird Christus bis heute gekreuzigt. Das Kreuz Christi motiviert zum Gedächtnis der Leidenden und zur Verringerung des Leidens – das ist seine unverminderte Aktualität. Aus der Betrachtung des Leidens Christi, der uns anblickt, können wir daraus Kraft holen.

5. Heutige Kreuzwege und Kreuzeserfahrungen

Der mittelalterliche Kreuzweg vom Nordportal des (abgerissenen) Doms(mit einer Kreuzigungsdarstellung) ging durch die heutige Spitalerstraße bis zur Vorstadt St.Georg (hier stand das Hospital für die Pestkranken) und seinem Kalvarienberg(der heute im Turm der Dreifaltigkeitskirche steht). Diese 1000 Meter von damals sind heute noch ein Kreuzweg. Es gibt eine Neuentdeckung von Kreuzwegen und Passionsstationen in der Stadt gerade um den Hauptbahnhof und in St.Georg. „Das Vorbild des leidenden Christus, der sich bis zuletzt eines Mitverurteilten erbarmt und für seinen zurückbleibende Mutter sorgt, ist als Symbol eines Christentums zu verstehen, das eher den Not Leidenden und Ausgegrenzten dienen als nach Teilhabe an gesellschaftlicher Macht streben will.“, sagte die Kirchengemeinde St. Georg (Gemeindebrief St. Georg 1/2004), als es eine öffentliche Diskussion darüber gab, ob eine Replik der mittelalterlichen Kreuzigungsgruppe(aus dem Jahr 1500), wie von der Kulturbehörde vorgeschlagen, wieder öffentlich aufgestellt werden sollte in der Nähe ihres ehemaligen Platzes. Einige Moslems im Stadtteil hatten Bedenken angemeldet, das wichtige Symbol des Christentums, das vom Islam abgelehnt wird, so zentral zu plazieren. Durch Diskussionsveranstaltungen wurde dann aber deutlich, wie die Christen die Kreuzigung verstehen und die Aufstellung auf einem Platz vor der Kirche fand statt.

Passionswege in St. Georg: Das Steine-Kreuz im Pflaster mit den Namen der Aidstoten vorm Portal. Die Namen der ermordeten Prostituierten im Cafe Sperrgebiet – ich sehe ihre Fotos und Todesanzeigen an der Wand. Die vielen Namen der Obdachlosen, die infolge des harten Lebens auf der Straße frühzeitig gestorben sind, die hier im Innenstadtbereich sich aufhielten. Die vielen Namen der Drogentoten um den Hauptbahnhof und in St. Georg. Überall in St. Georg könnte es Kreuze geben. Steht der Gekreuzigte auch stellvertretend für diese Opfer unserer nicht versöhnten Gesellschaft? Das kann man verschieden sehen – in einer säkularen Gesellschaft gibt es nicht mehr das eine Symbol für Leidenserfahrungen. Es gibt Kreuzeserfahrungen auch ohne bewussten Bezug auf das Kreuz Christi. Die Moslems brauchen es nicht, lehnen es zum Teil ab(allerdings gibt es im schiitischen Islam mit dem Imam Hussein auch eine Leidensfigur, deren Erinnerung im Ashurafest mit Passionsspielen begangen wird). Christen haben kein Monopol auf Deutung des Leidens. Aber durch Christi Leiden fällt ein Licht auf diese Leidenden.

Dazu eine Beobachtung: Totenmarterl für Verkehrsopfer sind in den letzten 20 Jahren weit verbreitet. Wo junge Menschen mit ihren Autos verunglückt sind, stehen an den Straßen immer häufiger Erinnerungskreuze. So das Totenmarterl für Jakob Mayer, 1991 mit 19 Jahren tödlich verunglückt, auf dem Heimweg, kurz vor dem Elternhaus. Ein Kreuz mit einem gußeisernen Gekreuzigten, Stoffblumen, ein Grablicht, ein Bild des Verunglückten. Seit 12 Jahren kommt seine Mutter fast jeden Tag hierher. „Hier bin ich dem Jaki am nächsten, sagt sie. Er gibt mir Kraft“(Süddeutsche Zeitung 31.10;1./2.11.2003) Das Gedenken am Totenmartelkreuz gibt Kraft. So hat es der Apostel Paulus mit seiner Predigt vom gekreuzigten Christus als Gottes Kraft für die Gläubigen( 1Kor 1) wohl nicht gemeint.. Und doch ist es eine alltagsweltliche Konkretion dieses Wortes ...

6. Jesus vom Kreuz holen?

Im Konfirmandenunterricht behandelte ich oft den Text Saisonbeginn von Elisabeth Langgässer. Er handelt davon, dass in einem bayrischen Kurort am Ortseingang von Arbeitern ein Schild aufgestellt wird. Sie überlegen, wo sie es platzieren sollen.

In der Nähe der Tankstelle, hinter dem Ortsschild oder gegenüber dem Kruzifix. Schließlich entscheiden sie sich für den Platz gegenüber dem Gekreuzigten. Und dann erst wird mitgeteilt, was auf dem neuen Schild steht: Juden sind in diesem Ort unerwünscht.

Die Enkel derjenigen, die den Gekreuzigten so verrieten, protestierten 1995 energisch, als das BVfG der Klage des Ernst S. auf Entfernung der Kruzifixe in den Schulen Recht gab; die bayrische Volksschulordnung, nach der in Volksschulklassen Kreuze anzubringen sind, sei grundgesetzwidrig, widerspreche Art 4,1GG. Es kam es zu Aufschrei und Protest in München. „Das Kreuz bleibt - gestern, heute und morgen“ - so das Motto der Protestkundgebung September 1995 in München gegen das BVfG-Urteil. Vergleiche mit dem Nationalsozialismus wurden angestellt. So wie in Bayern Kruzifixe selbstverständlicher Teil der Kultur sind, so ist auch das Kreuz Christi bewusst und unbewusst immer wieder ein Muster literarischer Produktion. Wo es um Leidenserfahrungen geht, ist die Passion Christi nicht weit. Überall, wo jemand leidet, ist Golgatha (Heine). Das Kreuz ist ein schwieriges, ein beladenes Symbol, es löst zwiespältige Empfindungen aus, aber es ist als Zeichen menschlicher Existenz unverzichtbar. Selbst bei Clint Eastwood in seinem Film Gran Torino ist es Erzählmuster – ein eher rechts eingestellter Pensionär und Kriegsveteran opfert sich, als der Frieden in seinem Stadtteil bedroht ist und eine Gang von Jugendlichen Unschuldige bedroht.

In der Kindergeschichte Birne in der Kirche von Günter Herburger steigt Jesus vom Kreuz, um bei einem Verkehrsunfall zu helfen. Die Passanten wollen Jesus danach ans Kreuz zurückbringen, doch er lässt es nicht zu, geht wieder nach draußen. "Seitdem wird in den Kirchen häufiger gelacht", endet die Geschichte. So schön diese Geschichte ist - das Kreuz aus den Kirchen zu entfernen oder Jesus vom Kreuz zu holen, um so die Kirche und die Gesellschaft gewaltfrei zu machen, wäre natürlich keine Lösung. Denn das Kreuz erinnert uns an unsere ungelösten Konflikte, an denen Christus gestorben ist, an die Gewaltbereitschaft, die ihn zu Tode gebracht hat. An uns ist Christus gestorben, so sagen es auch die Passionslieder und insofern auch für uns, aber nicht im Sinne einer heilsnotwendigen Sühne für uns, sondern damit die stellvertretenden Opfer an ein Ende kommen, damit das Miteinander die Rolle des „für uns“ ergänzt. Der Weg zum Miteinander ist aber einer, den die Menschen als Handelnde selbst gehen müssen – mit und ohne Christus.

Anmerkungen

[1]    Ich zitiere im folgenden aus A.Seghers ,Das siebte Kreuz, Darmstadt/Neuwied, 1983, hier S.12

[2]   Allerdings keine Brutalität pur wie in Mel Gibsons Film Passion. Im Roman wird die Hinrichtung der Gefangenen am Kreuz nicht geschildert.

[3]    S. zum folgenden Kuschel, Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteraur,Köln/Gütersloh 1984,139f.

[4]    Kuschel, Jesus,140

[5]    Julien Green;Tagebücher 1928-1945,Wien 1952,329.Der gleiche Green sagt aber auch angesichts einer Ausstellung über das Leiden Christi in der französischen Kunst im Pariser Louvre 1934:“Liegt nicht etwas wirklich Befremdliches darin,von der Wiege bis zur Bahre in Kirchen,Husern und mitunter in den Straßen Bilder der Qual zu sehen? Ein Mann, an zwei Hölzer genagelt, das führt uns das Christentum unablässig vor Augen. Die Kirche ist in einer Marterorgie geboren. Ein Griechenkind des 4.Jahrhunderts sah in den Tempeln nur die Standbilder makellos schöner Männer und Frauen, uns aber führt man die Bilder Sterbender vor Augen. Wenn einer nicht wüßte, was das Christentum ist und man brächte ihn in den Louvre, er wäre wahrscheinlich beim Verlassen ganz krank vor Ekel.“(ebd. 117)

[6]    Ich zitiere Heine im folgenden nach H.Heine,Sämtliche Schriften hg v.K.Briegleb, München 2005,hier Bd. III, 540

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/76/hjb8.htm
© Hans Jürgen Benedict, 2012