Paradigmen theologischen Denkens


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Aus der Anderen Bibliothek

Anmerkungen und Vorstellungen

Andreas Mertin

Lange Zeit war das monatliche Erscheinen des jeweils Neuen Bandes der Anderen Bibliothek eine willkommene Unterbrechung des Alltags und löste jedes Mal die Neugier aus, was denn der bzw. später die Herausgeber an Interessantem und Überraschendem für den Leser ausgesucht hatten. Diese Freude an einem gelungenen Stück Editionsgeschichte der jüngeren Zeit spiegelt sich auch in den Rezensionen, die im Magazin für Theologie und Ästhetik in den vergangenen Jahren erschienen sind. Inzwischen füllen die 324 bis heute erschienenen Bände der Anderen Bibliothek eine ganze Wohnzimmerwand.  

Als die Andere Bibliothek 1985 begann und ich die Reihe abonnierte, war nicht absehbar, dass dieses ambitionierte Projekt so lange erscheinen würde. Ich könnte heute noch meine Lektüreeindrücke etwa beim Lesen des zweiten Bandes der Anderen Bibliothek "Ein Leben voller Fallgruben" von Driss ben Hamed Charhardi beschreiben. Oder bei jenen legendären Band 9 "Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen" von dem ominösen "Andreas Thalmayr". Bei manchen Autoren, die mehrfach Bücher in der Anderen Bibliothek publizierten, freute man sich auf das nächste Buch. Mir ging es etwa so bei den Reportagen von Gabriele Goettle. Einige Bücher wurden berühmt wie Christoph Ransmayrs "Die letzte Welt", Irene Disches "Fromme Lügen" und einige andere.

Mit dem Herausgeberwechsel auf Michael Neumann und Klaus Harpprecht bekam die Gesamtausrichtung der Reihe eine etwas andere Färbung, aber das muss ja nichts Schlechtes sein. Wer die Reihe wie ich abonniert, macht das ja, um sich Monat  für Monat überraschen und überzeugen zu lassen.

Seit Längerem aber ist die Neugier auf den je nächsten Band geringer geworden und die Hoffnung, beim neuen Buch in den Händen wieder etwas ganz Besonderes zum Lesen zu bekommen, geschwunden. Selbstverständlich gibt es immer noch gute Bände in der Anderen Bibliothek, aber man rechnet nicht unbedingt damit. Manche Bände fange ich an und lege sie nach 100 Seiten wieder weg, wohl wissend, dass ich sie dann gar nicht mehr lesen werde. Selbstverständlich gab es diese Erfahrung ab und an auch in den Anfangsjahren, aber sie waren Ausnahmen von der Regel. Nun aber habe ich das Gefühl, es würden bestimmte Dinge tot geritten, etwa der xte Band rund um Grimmelshausen, um nur ein Beispiel zu nennen. Oder wenn Bücher wieder aufgelegt werden, die erst wenige Jahre vorher in einem anderen Verlag erschienen sind und zwischenzeitlich vergriffen waren. Derartiges macht Sinn, aber nur, wenn man nicht eine bibliophile Reihe bedient, die Unentdecktes und Herausragendes präsentieren soll.

Was mich aber noch mehr geärgert hat, war das kommentarlose Nichterscheinen oder verspätete Erscheinen einiger Bände. Wissen Sie wie das ist, wenn man 324 Bände einer Buchreihe hat, bei der es im letzten Band heißt, es sei der 326. Band? Wo also ist der 251. Band der Anderen Bibliothek von Bernard Dupriez mit dem Titel "Gradus ad Parnassum. Das Handbuch aller literarischen Grundbegriffe"? Und wo ist Band 308 "Macht und Geheimnis. Russlands Sturz in die Vergangenheit" von Kerstin Holm? Lücken in einer Buchreihe sind schmerzhafter, als man denkt. Noch schmerzhafter aber ist das Geheimnis, das der Verlag um diese Bände macht.

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TIPP: Wer einen guten Überblick über die einzelnen Bände der Anderen Bibliothek bekommen will, der sei auf die schöne Übersicht bei der Literaturseite Lesemond verwiesen!

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Nach diesen atmosphärischen Anmerkungen nun aber zu einigen neueren Bänden der Anderen Bibliothek.


Deborah Dixon: Der Mona Lisa Schwindel, Berlin 2011

Ende 2011 erschien "Der Mona Lisa Schwindel", eine kenntnisreiche Erzählung vom angeblich falschen Kunstwerk im Louvre. Der Plot an sich ist ja nicht neu und geistert seit Jahrzehnten durch die Literatur und die Kunstgeschichte. Nach dem historischen Diebstahl der Mona Lisa gelangt nicht das Original, sondern eine von vier Fälschungen an den Ursprungsort zurück, während mit den anderen Werke reiche Sammler unter dem Siegel der Verschwiegenheit bedient werden. Diese Erzählung gehört zu den Großstadtmythen, den modernen Sagen. Und wie diese, werden sie vielfach variiert erzählt. Ich kannte bisher vor allem die, dass heute im Louvre eine Kopie hängt, auf die die Leute begeistert starren, während das Original wohlverwahrt im Safe liegt. Im Kern macht sich die Geschichte über bestimmte Formen der Rezeption lustig, mal ist es das Publikum, das durch den Kakao gezogen wird, mal die Sammler und die Museumsbetreiber. Was die Erzählung von "Deborah Dixon" auszeichnet, ist die intime Kenntnis der Kunstgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Hier wird quasi nebenbei Kunstgeschichte erzählt. Und als Leser ist man geneigt, jeder Figur, jedem erwähnten Buch anhand von Lexika nachzugehen. Trotzdem ist das Ganze eine Erzählung auf der Grenze, zu oft gerät es zum Klischeehaften. Bleibt die Frage der Verfasserin. Hier sind die  Angaben dann doch zu konstruiert, um wirklich ernst genommen zu werden. Diese getarnten Autorschaften haben in der Anderen Bibliothek zwar ihre Tradition, aber in diesem Falle leuchten sie mir nicht ein.


Edwin Geist: "Stündlich zähle ich die Tage! ...": Tagebuch für Lyda. März - August 1942, Berlin 2012

Im Januar 2012 erschien das von Reinhard Kaiser neu editierte Tagebuch des Komponisten Edwin Geist unter dem Titel "Stündlich zähle ich die Tage ..." Das ist wirklich ein hoch interessantes Werk, das vor allem daraus seine Brisanz entwickelt, dass der Leser mehr weiß, als der Tagebuchschreiber. Das macht die Lektüre stellenweise so beklemmend, etwa wenn Edwin Geist seinen späteren Mörder Helmut Rauca (einem Massenmörder wie wir heute wissen) attestiert, dieser sei "ohne Zweifel ein gerechter Mann" (S. 70). Zur Geschichte: Edwin Geist ist ein deutscher Komponist und Musikschriftsteller, dem 1937 von der Reichsmusikkammer ein Berufsverbot erteilt wird, weil er Halbjude sei. Anfang 1939 übersiedelt Geist nach Litauen in die Hauptstadt Kaunas, wo er die jüdische Pianistin Lyda Bagriansky kennen lernt und heiratet. Nach dem Einmarsch der Deutschen 1941 werden die Juden Kaunas gezwungen ins Ghetto zu übersiedeln. Geist hätte sich dem entziehen können, wenn er sich von seiner Frau hätte scheiden lassen, was er aber nicht macht. Im Jahr 1941 beginnt die systematische Vernichtung der Juden. Im internationalen Haftbefehl für Helmut Rauca werden diesem die Ermordung von 11.584 Personen vorgeworfen, darunter im Rahmen der so genannten "Großen Selektion" 9.200 Juden aus dem Ghetto von Kauna: nach Angaben des Kommandanten SS-Standartenführer Karl Jäger handelte es sich um „2007 Juden, 2920 Jüdinnen, 4273 Judenkinder“. Edwin Geist kommt Ende März 1942 aus dem Ghetto frei und versucht nun alles, um auch seine Frau frei zu bekommen. Davon handelt das Tagebuch, das hier im Rahmen der Anderen Bibliothek vorgelegt wird. Geist konstruiert eine aberwitzige Geschichte, dass seine Frau in Wirklichkeit Arierin sei, die nur einer jüdischen Familie untergeschoben worden sei. Er fälscht Papiere und besorgt seine Version stützende Gutachten. Die Verhandlungen führt er mit Helmut Rauca. Tatsächlich gelingt es ihm gegen alle Wahrscheinlichkeit, seine Frau Lydia im August 1942 freizubekommen. Nur drei Monate später wird er auf Veranlassung von SS-Hauptscharführer Helmut Rauca verhaftet und am 10. Dezember 1942 erschossen. Seine Frau muss aber nicht ins Ghetto zurück, so dass man bis heute nicht weiß, was der konkrete Anlass für die Verhaftung und Erschießung Edwin Geists war, wenn es sich nicht einfach nur um bloße Willkür handelt. Anfang Januar 1943 nimmt sich seine Frau Lyda aus Verzweiflung über das Verschwinden ihres Mannes das Leben.

Im Tagebuch, das Geist während seiner Trennung von seiner Frau zwischen März und August 1941 schreibt, schildert er neben den ihn aufreibenden Alltäglichkeiten auch die Auseinandersetzung mit Helmut Rauca und Karl Jäger sowie seine musikalischen Arbeiten und Tätigkeiten dieser Zeit. Es ist die Gleichzeitigkeit dieser Beschreibungen, die einem den Atem nimmt. Natürlich kreist das Künstlerdenken auch um sich und seine Kompositionen, zugleich imaginiert es das Schicksal der Frau und muss darüber hinaus Strategien im Kampf mit dem nationalsozialistischen System entwerfen.

Wäre der Tod in Ingmar Bergmanns "Das Siebente Siegel" nicht so sympathisch gezeichnet, dann könnte man durchaus Parallelen zwischen dem Ringen des Ritters Antonius Block mit dem alles verschlingenden Tod im Rahmen eines Schachspiels ziehen. Auch Block gelingt es nicht, sich dem Tod zu entziehen, aber er kann wenigstens die Lebenszeit einiger anderer verlängern, indem er den Tod beschäftigt und ablenkt. Aber bei Edwin Geist geht es nicht um literarische Fiktionen, sondern um das reale Leben und Sterben, hier hat die "Banalität des Bösen" das Sagen.

In der Zeit, in der Edwin Geist in Litauen lebt, komponiert er einige Stücke, von denen zwei dankenswerter Weise auf einer kleinen CD dem Buch beiliegen: die kleine deutsche Totenmesse (Requiem) für Orchester, Sopran und Tenorsolo, Knabenstimmen und gemischten Chor aus dem Jahr 1940 sowie "Kosmischer Frühling", das Adagio aus unvollendet gebliebenen symphonischen Pantomime "Das Tanzlegendchen", frei nach Gottfried Keller, als Trio für Violine, Violoncello und Klavier bearbeitet von Edwin Geist zur Feier der Rückkehr von Lyda aus dem Ghetto (Juli 1942).

Ein sehr empfehlenswerter Band der Anderen Bibliothek!


Andreas Urs Sommer: Lexikon der imaginären philosophischen Werke, Berlin 2012

Das Gleiche kann man leider nicht für das "Lexikon der imaginären philosophischen Werke" von Andreas Urs Sommer sagen. Beworben wird es auf dem Klappentext mit den Worten: "Viele philosophische Bücher sind nie geschrieben worden - aus Respekt, aus Zeitmangel, aus Lustlosigkeit. Höchste Zeit also für ein Lexikon, das all diese unausgesprochenen Ideen vereinigt." Nun ist diese Idee ja nicht ganz neu, zu denken wäre etwa an Walter Benjamins "Acta Muriensa", jenem Vorlesungsverzeichnis der imaginären Universität Muri, in dem schon einmal Adolf von Harnack über "Das Osterei. Seine Vorzüge und Gefahren" dozierte. Aber der Witz, der für die Ausführungen Walter Benjamins noch charakterisch war (bei dem dann auch bei einer Rezension allein die Titelnennung des Werkes ausreicht: "Martin Luther. Briefe an seinen lieben Sohn  Hänsgen. Deutsch von Rudolf Borchardt") kommt beim Lexikon der imaginären philosophischen Werke nicht recht zum Tragen. Zu angestrengt ist dieses "vollkommen ernste und vollkommen heitere" Werk, zu berechenbar seine Kapriolen. Und ja, in der Liste der imaginären philosophischen Werke taucht auch Andreas Urs Sommers Lexikon selbst auf, samt einer vorausgreifenden Rezension. Ich kann diese Späße nicht mehr ab. Wer genug Zeit hat, sein Leben damit zu verplempern, der mag es lesen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/76/am387.htm
© Andreas Mertin, 2012