Illusionen von Wirklichkeit

Joel Sternfeld – Farbfotografie seit 1970

Barbara Wucherer-Staar

Wenn etwas falsch wirke auf einem Foto solle man es rot machen“. Der, der so heiter in seine „lecture“ über die Anfänge der Farbfotografie und die Farbe als eigenständiges, neues Gestaltungsmittel in seinem Oeuvre einführt, Joel Sternfeld (*1944), zählt neben Stephen Shore und William Eggleston zu den bedeutendsten Vertretern der künstlerisch-dokumentarischen „New-Color-Fotografie“ der 1960er/70er Jahre in Amerika.

 

Sein „Credo“ ist mehr als eine fotografische Anweisung für schöne Bilder und versteht sich nicht in Konkurrenz zur S/W Fotografie. Galt für Klassiker und Vertreter der künstlerischen Schwarz-Weiß Fotografie diese als real für die (fotografische) Wirklichkeit, fanden sich mit der technischen Perfektionierung des (Kodak-) Farbfilms nicht nur „farbechte“ Abbildungen des Gesehenen, sondern auch neue Möglichkeiten, mit Farbe den Raum neu zu strukturieren, ihn mit kräftigen, grellen Farben zu akzentuieren und so (undramatisch) auf banale, vorgefundene Szenen des amerikanischen Alltags hin zu weisen: unbeobachtete, selten inszenierte Schnappschüsse mit einer mobilen Handkamera oder auch - dann mit einer größeren Kamera - vorgefundene und teils arrangierte Szenarien. Wichtig sei ihm, sagt Sternfeld, dass jedes Foto eine eigene, in sich geschlossene Geschichte erzähle.

In einer ersten herausragenden europäischen Retrospektive fächern Kuratorin Ute Eskildsen und Joel Sternfeld mit etwa 130 Fotografien elf Themenbereiche aus über 30 Jahren auf; ein Schwerpunkt liegt auf 60 frühen Fotografien, die Ausgangspunkt seines fotografischen Sehens und Verfahrens sind.

Zwar ist für Sternfeld die Buchform wichtig, als Sammlung von Erinnerungen, die immer wieder durchgeblättert werden können (Gedächtnisbilder), doch gerade im Museumsraum gelingt Sternfeld und Eskildsen eine spezielle Inszenierung: Im Vorbeigehen an kleinen Formaten oder im Gegenüber größerer Formate vermitteln sie dem Betrachter verschiedene Möglichkeiten des fotografischen Sehens, vermitteln „Illusionen von Wirklichkeit“ des amerikanischen „Way of Live“.

In diesen typischen American Icons, in Porträts und Landschaften, geht es Sternfeld immer um den Menschen. Teilweise entsprechen sie dem Bild, das uns von Amerika durch Reklame, Nachrichten oder Film vermittelt wurde.

In seinen frühen Serien protokolliert er mit Strategien des „Schnellen Sehens“ - Amerika im Vorübergehen - Schnappschüsse, die mit einer beweglichen Handkamera aufgenommen wurden. Er hält den Blick des Betrachters im Vorübergehen auf durch starke, grelle Farben mit Signalcharakter (oft rot) und mit kuriosen Szenarien, Gesten und Mimik von Personen, die sich unbeobachtet fühlen: rote Schuhe und olivgrüne Hosenbeine neben kleinstrukturierten blau-schwarzen Hosenbeinen, eine alte Dame in einem Stehimbiss neben einer Suppenschale.

In Hellblau korrespondieren: ein Caravan, ein Steuerrad und die Brille einer Beifahrerin. Stellvertretend für den Betrachter steht eine Rückenfigur in einem roten Hotelflur, will der Rücken einer Frau in hellgrüner Bluse eine belebte Straße überqueren; mit spezieller Blitzlichtausleuchtung entsteht das dramatisch ausgeleuchtete Gesicht eines Jungen vor dunklem Hintergrund (Happy Anniversary, Sweetie Face!, Bilder, auf seiner ersten Reise durch Amerika entstanden oder Rush Hour, Straßenszenen in New York und Chicago). In der Reihe At the Mall, New Jersey entstehen kuriose Szenen, wenn Leute vor der Kamera mit ihren Einkäufen posieren, etwa ein Bodybuilder mit einem kleinen Eishörnchen.

In Stranger Passing (1987-2000) konfrontiert er den Betrachter direkt mit großformatigen Fotos; er hält die Großbildkamera auf unterschiedliche soziale Klassen und Charaktere - zeigt die luxuriösen ebenso wie die armen Seiten; es entstehen Porträts, die vergleichbar sind mit dem unvoreingenommen vergleichenden Sehen in der Tradition eines August Sander aus den 20er Jahren, dem Fotoatlas Menschen des 20. Jahrhunderts. Gegenüber den Typologien Sanders überzeichnet und akzentuiert Sternfeld mit kräftigen, korrespondierenden Farben, gliedert den Raum neu durch Farbmuster: eine gut situierte Frau im homedress (A Woman at Home in Malibu After Exercising, California August 1988) oder aber einen jungen, erschöpften Mann, mit Krawatte, offenem Hemd und roten Tuch, der Einkaufswagen zusammenstellt (A Young Man Gathering Shopping Carts, Huntington, NY, July 1993), einen gehetzten Anwalt, der seine Wäsche in den Waschsalon bringt.

Fragwürdigkeit des Sichtbaren

Sternfelds wichtigste Werkreihe - American Prospects -, eine Kulturgeschichte Amerikas, die er auf seiner 2. Reise mit einem Guggenheim-Stipendium quer durch Amerika 1978 beginnt, findet 1987 international Anerkennung; sie ist inzwischen ein Klassiker zeitgenössischer Fotografie. Entstanden ist ein poetisches, unvoreingenommenes, dichtes Porträt von Amerika, ein essentieller, repräsentativer Querschnitt, ebenso grotesk und pittoresk wie ironisch in seiner Sicht auf Menschen, Natur, Technologie und Verfall – ein Bild des perfekten amerikanischen Traums von Wohlstand, der von Bildern einer zerrütteten Gesellschaft konterkariert wird. Habe Walker Evans 40 Jahre früher eine physisch zerfallende, aber geistig intakte Nation dokumentiert, finde er, so Sternfeld in einem Interview, eine Welt mit glänzenden Neubauten, die von einem erschütterten menschlichen Geist umgeben sei.

Sternfeld nimmt immer wieder Bezug auf Malerei und Architektur; seine Auseinandersetzung mit Alber´s Fooliness of color wird in diesen Großformaten besonders deutlich. Beide verfolgen die künstlerische Strategie „to open eyes“: Sie wollen dem Betrachter durch sich gegenseitig intensiv steigernde Wirkprinzipien benachbarter Farben in ungewöhnlicher Kombination die Augen öffnen. Albers damit verbundene Untersuchung eines individuellen Farbgedächtnisses führte ihn hin zu jener nahezu vollkommenen Serie der „Hommage to the Square“, deren Wirkprinzipien er seit den 1950er Jahren immer wieder neu erprobte.

Zielte Albers Strategie ab auf ein unvoreingenommenes, intensives und konzentriertes Schauen, auf eine „Meditation des Sehens“, durch sachlich klare, von der Natur unabhängige Ordnungen, nutzt Sternfeld Wirkprinzipien von 2-3 kontrastierenden Farben für seinen speziellen kollektiven Bilderatlas, um die Fragwürdigkeit des Sichtbaren zu dokumentieren. Zufällig gefundene Szenarien, die seinen Vorstellungen entsprechen und eine subtile, oft beabsichtigte Komik beinhalten, richtet er meist perspektivisch aus, zeigt Ausschnitte in speziellen Blickperspektiven, etwa in leichter Untersicht oder „blow up“ innerhalb einer geometrischen Bildorganisation.

Einen Villenvorort fächert er auf in unterschiedlich strukturierte, kontrastreiche Farbfelder: grelles Pink eines Cadillac und eines bepflanzten Vorgartens korrespondieren mit einem grünen Waldstück und einer braunen Straße, auf der ein Hund (Afghane) platziert ist. Gerade die nahezu sterile, geometrisch ausgerichtete Ordnung, das stimmige Farbklima und die kontrastreichen Wirkprinzipien machen die Illusion einer perfekten Welt deutlich.

Künstlich wirken Szenen wie die eines orangefarben gekleideten Feuerwehrmannes, der während einer Löschübung Kürbisse kauft - vor den lodernden Flammen im Hintergrund; ins Surreale überhöht er „natürliche“ Farbkorrespondenzen, wenn Menschen wie kleine Spielzeugpuppen zur Landung des Space Shuttle Columbia auf der Kelly Lackland Air Force Base strömen, beobachtet von einem riesengroßen Mann im Vordergrund (The Space Shuttle Columbia Lands at Kelly Lackland Air Force Base, San Antonio, Texas, March 1979). Mit spezieller Beleuchtung werden zum Trocknen ausgelegte Aprikosen zu nahezu abstrakten Farbfeldern.

Technik und Magie

Für die Detailgenauigkeit der größeren Formate nutzt er eine 8x10 inch Großformatkamera. Dabei wird neben der Raumgliederung durch Farbe ein weiterer Vorzug der Fotografie deutlich, die Balance von Technik, Magie und Verzauberung, die Walter Benjamin in Bezug auf die neuen Möglichkeiten der (Bauhaus-)Fotografie bereits 1931 erörterte: die gegenüber dem Auge objektivere Wahrnehmung der Kamera sei am Besten dafür geeignet, eine Verbindung von bewusstem und unbewussten Sehen zu erreichen: unterschiedliche Schichtungen des Gegenwärtigen und des assoziativen, kollektiven Erinnerns - im Raum und in der Zeit.

Gegen das Vergessen dokumentiert er in seiner vehement politischen Serie On this site, 1993-96 lesbar in Augenhöhe leere, teils idyllische Tatorte. Erst seine daneben hängenden, knappen Protokolle informieren über die dort begangenen unbekannten, unaufgeklärten oder allgemein bekannten Gewalttaten: den Mord an einem Jugendlichen in einer Unterführung, den Balkon, auf dem Martin Luther-King erschossen wurde, den Kinosessel, auf dem der Mörder John F. Kennedys saß.

Seine bisher größten Formate, poetische Landschaftsfotografien (in der Tradition der Romantik) zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten der East Meadows, Northampton, Massachusetts (Oxbow-Archive, 2005-07) wurden etwas unterhalb der Augenhöhe gehängt, um dem Betrachter die Illusion zu geben, hinein gehen zu können; sie gelten als kollektives Symbol einer nationalen Landschaft. Ebenso zeigt er alternative Utopien auf (Sweet earth, Experimental Utopias in Amerika, 1993-2005) oder globale Ereignisse als Diaprojektion: seine Auftragsarbeiten auf dem G8-Gipfel in Genua oder der Klimakonferenz in Montreal (Treading on Kings, 2001 und When it changed, 2005).Seine Serie Walking the High Line (2000-2001) führte dazu, dass ein stillgelegter, zugewachsener Bahnabschnitt in Manhattans West Side öffentlich zugänglich wurde.

Sternfeld konterkariert den Mythos des amerikanischen Traums vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges, der von Jimmy Charter so bezeichneten Malaise-Wirtschaft, der globalen Klimakonferenz, quer durch gesellschaftliche Schichten, ethnische Minderheiten und Landschaften. Er entwirft eine eindringliche Kulturgeschichte Amerikas der letzten 30 Jahre, hinterfragt und protokolliert distanziert-ironisch die nationalen und globalen Icons von Alltag, Illusion und Verbrechen. Seine Fotografien regen als Bild von Wirklichkeit an zu eigenen Geschichten und Erinnerungen, sind verankert im kollektiven Gedächtnis.

Die amerikanische Kritikerin Susan Sontag wirft in den 1970er Jahren der Fotografie eine Doppelmoral vor, da wir gelungene Fotos des Grauens als Bilder genießen würden - ein „scharfsichtiges, geistreiches Programm der Hoffnungslosigkeit“. Dagegen gelingt Sternfeld mit seiner respektvollen Sicht – „aufmerksam machen auf die Probleme der Welt, ohne anzuklagen“– die von Sontag beschworene, „Bejahung der Wirklichkeit…“; er zeigt, wie … „Fotografien darauf abzielen können, literarisch autoritativ und transzendent zu sein“ .


Museum Folkwang, bis 23. 10. 2011: Joel Sternfeld – Farbfotografie seit 1970

Die Ausstellung ist danach in Amsterdam, Berlin und Wien zu sehen

Literatur:

Joel Sternfeld, First Pictures, Göttingen: Steidl, 2011. Edition der bisher unveröffentlichten frühen Fotografien der 1970er Jahre, anlässlich der Ausstellung Joel Sternfeld, Farbfotografien seit 1970, Museum Folkwang, Essen, Fotografiemuseum Amsterdam, Albertina, Wien

Liesbrock, Heinz, Semff, Michael (Hg.), Malerei auf Papier, Josef Albers in Amerika, Ostfildern: Hatje Cantz, 2011

Josef Albers, Interaction of Color - Grundlegung einer Didaktik des Sehens, Köln: DuMont, 1970

Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Fotografie, in: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp,11/ 1979

Susan Sontag, Über Fotografie, Frankfurt am Main: Fischer, 1978

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/73/bws2.htm
©
Barbara Wucherer-Staar, 2011