50 Jahre danach: Kunst und Kirche


Heft 71 | Home | Heft 1-70 | Newsletter | Impressum und Datenschutz

Von der Notwendigkeit der Erinnerung
und der Kunst des Vergessens und Vergebens

Hans-Jürgen Benedict

Vorspiel[1]

Das Christentum ist zuerst eine Religion des Verzeihens und der Vergebung, in zweiter Hinsicht auch eine der Erinnerung. Die Macht des Verzeihens, hat Hannah Arendt einmal gesagt, sei mit Jesus in die Welt gekommen. Die schönste Geschichte im Neuen Testament, die dies zum Ausdruck bringt, steht im 9. Kapitel des Johannesevangeliums. Ich meine die Geschichte von der Ehebrecherin, die auf frischer Tat ertappt wurde und gesteinigt werden soll. Sie wird Jesus vorgeführt und seine Gegner wollen ihn auf die Probe stellen und fragen ihn: Mose hat gesagt, eine solche Frau sollen wir steinigen. Was sagt du?

Jesus reagiert eigenartig. Er bückt sich und schreibt mit dem Finger in den Sand. Als sie hartnäckig weiterfragen, richtet er sich auf und sagt: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Das Ende ist bekannt. Betroffen verzieht sich einer der Ankläger nach dem andern. Jesus ist mit der Frau allein. Wo sind sie geblieben, fragt Jesus. Sie sind gegangen. So verurteile ich dich auch nicht. Geh und sündige hinfort nicht mehr. Abgesehen von der Tatsache, dass dies die einzige Geschichte ist, in der von einem schreibenden Jesus berichtet wird, dies in den Sand schreiben ist gegenüber den Anklägern eine Haltung der Missachtung. Was hat Jesus in den Sand geschrieben? Nun ist in den Sand schreiben auch eine prophetische Handlung – ihre Namen sind in den Sand geschrieben, ihrer wird nicht mehr gedacht, heißt das bei Jeremia. Schreibt Jesus hier die Namen der Ankläger in den Sand, fragt H. Weinrich? Oder die Schuld der Frau?

Die Geschichte erinnert an das Vaterunser: „Vergib uns unsere Schuld“, nicht bedingungslos, sondern: „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Die Sünderin soll ihren Lebenswandel ändern. Aufgrund der Barmherzigkeit Gottes und aus der Kraft der Reue kann fast jede Schuld vergeben werden. (In der Gregorius-Legende des Hartmann von Aue, wunderbar neu erzählt von Thomas Mann in dem Roman „Der Erwählte“, gelangt sogar ein im Inzest gezeugter christlicher Ödipus auf den Papstthron. Es gibt bei Gott ein gnädiges Vergessen großer Schuld) .Und schließlich Jesu erhabenes Wort am Kreuz über die ihn Hinrichtenden: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

In dem Fontane-Roman „L’Adultera“ (1880) wird auf die Geschichte von der Ehebrecherin zurückgegriffen. Er beginnt damit, dass der ältere Kommerzienrat Von Straaten seiner erheblich jüngeren Frau Melanie eine Tintoretto-Kopie schenkt, die diese Szene (sie heißt auf italienisch L’Adultera) darstellt. Sie sagt: „Es ist soviel Unschuld in ihrer Schuld … Alles ist vorherbestimmt.“

Melanie verliebt sich in der Folge in einen jungen jüdischen Schriftsteller. Sie lässt sich scheiden, zieht nach Italien und kehrt dann nach Berlin zurück. Hier wird sie von der Gesellschaft geächtet, ihre beiden Töchter wenden sich von ihr ab. Mehr zufällig besucht sie den Abendgottesdienst der Nikolaikirche zu Ostern. Bei dem Lied. „Du lebst, Du bist in Nacht mein Licht / Mein Trost in Not und Plagen / Du weißt, was alles mir gebricht / Du wirst mir’s nicht versagen“ ergreift sie eine Bewegung. Sie murmelte Worte, „die ein Gebet vorstellen sollten und es vor dem Ohr dessen, der die Regungen unseres Herzens hört, auch wohl waren“, heißt es tröstlich. Als ihr Mann in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät, kann sie ihm mit ihrem Vermögen aufhelfen. „Nun kann ich mich bewähren und will es und werde es. Nun kommt meine Zeit.“ Diese Liebe überzeugt zunehmend auch diejenigen, die zuvor sie verurteilt hatten. Zum Schluss erhält sie von ihrem ehemaligen Mann ein Medaillon mit eben dem Bild Tintorettos von der Ehebrecherin .Sie zeigt es ihrem Mann mit den Worten: „Es soll mich erinnern und mahnen … jede Stunde.“ Die freie sittliche Entscheidung, mit der sie sich außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stellte, bewährt sie in Solidarität und bekommt die Verzeihung ausgerechnet von dem, den sie verlassen hat.

In dem berühmteren Ehebruch-Roman Fontanes Effi Briest kann der preußische korrekte Ehemann von Instetten, als er nach 8 Jahren zufällig den Ehebruch seiner jungen Frau entdeckt, dies nicht vergessen. Effi hatte vernachlässigt vom Karriere machenden Ehemann, ein kurze Affäre mit dem Major Crampas. Instetten fordert den ehemaligen Liebhaber zum Duell und erschießt ihn. In einem Gespräch mit einem Freund gesteht er sich ein, dass diese Ehrenkonvention überholt ist. Zumal wenn schon Jahre nach dem Delikt vergangen sind. Aber als Regel gelten 10 Jahre und es sind erst 8 Jahre. Also doch Duell. Instetten zerstört damit sein Glück und das seiner Familie. Die Trennung von ihrem Kind kann Effi nicht verkraften. Sie kehrt gebrochen zu ihren Eltern zurück und stirbt bald, es ist ein verdeckter Selbstmord (in der Tradition von Madame Bovary und Anna Karenina). Bei geöffnetem Fenster schaut sie viel in den Nachthimmel und denkt darüber nach, ob es vielleicht doch eine himmlische Heimat gibt. „Arme Effi“, sagt der gerührte Autor, aus seiner objektiven Erzählrolle ausbrechend, „du hattest zu den Himmelswundern zu lange hinaufgesehen, und das Ende war, dass die Nachtluft und der Nebel, die vom Teich aufstiegen, sie wieder aufs Krankenbett warfen.“ Sie holt sich eine tödliche Lungenentzündung. Der treue Hund Rollo aber sitzt an ihrem Grab. „Es ist ihm doch tiefer gegangen als uns.“ „Ja, Luise, die Kreatur. Es ist nicht so viel mit uns, wie wir glauben“, antwortet der alte Briest. In einem neuen Effi-Briest-Film wird das tragische Ende umerzählt – Effi lässt sich nicht unterkriegen, sie studiert und sagt sich von den Eltern los. Ist auch besser so.

Von der Liebe zur Politik, dem Ernstfall der Politik, dem Krieg.

Vergeben und Vergessen – eine Tradition, die beispielsweise in Friedensverträgen des 17. und 18. Jahrhunderts eine Rolle spielte - ein Vergessen für alle schuldhaften Kriegshandlungen. Rechtlich drückt diese Vergessensklausel aus, auf alle Schuldzuschreibungen und Strafmaßnahmen für vergangene Kriegshandlungen zu verzichten. So auch im § 2 des Westfälischen Friedens von 1648. In dem 30jährigen Krieg war es zu schlimmen Verbrechen und Verwüstungen gekommen, man denke nur an die Eroberung Magdeburgs. Trotzdem - um einen Neuanfang zwischen den auch religiös verfeindeten Parteien zu begründen, musste auch vergessen werden können, durfte nicht stets von neuem aufgerechnet werden. Das ging einfacher, wenn beide Seiten sich etwa gleich viel hatten zuschulden kommen lasse. So der Gedanke hinter dieser Vergessensklausel. Er war auf eine bessere Zukunft gerichtet zwischen den Völkern. Das Leid des einzelnen konnte darin nur begrenzt eine Berücksichtigung finden. Damit musste er persönlich fertig werden, das ging vor dreihundert Jahren vielleicht noch leichter, weil das meist kurze Leben als verhängtes Schicksal empfunden wurde, bestimmt von Leid und Entbehrung. (So erlebte es der Simplicissismus des Christof Grimmel von Grimmelshausen). Noch Kant sagt 140 Jahre später in seiner Schrift Vom ewigen Frieden, 1795, Friedensverträge dürften nicht solche Klauseln enthalten, in denen der Keim zu neuen Kriegen liegt.

Dieses kluge zukunftsorientierte Vergessen hat eine moderne Gestalt gefunden in der deutsch-französischen Freundschaft. Sie beruht nicht gerade auf einer Vergessensklausel, aber auf dem Ausstieg aus gegenseitiger Revanche. Der Erbfeind wird zum Freund symbolisch im Treffen Adenauers mit de Gaulle in der Kathedrale von Reims. Der Freund darf sehr viel später sogar dabei sein, wenn der ehemalige Feind sich des Sieges über ihn freut (Kanzler Schröder bei Gedenktag Landung Normandie). Lange vorher 1957 machte ich eine Klassenreise nach Nord-Frankreich: auf einem deutschen Soldatenfriedhof in Neuville St. Vast versuchten wir die die Spuren jahrzehntelanger Vernachlässigung ein wenig zu beheben. Hier lagen Angehörige des Regiments meines Vaters, der als 18jähriger am 1. Weltkrieg teilgenommen hatte. Abends trafen wir uns mit der Dorfjugend und hier war es, wo eine reizende Französin zu mir sagte: Tu es trop aimable. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah und genoss die Wonnen deutsch-französischer Freundschaft ganz sinnlich. Und als wir dann Paris waren und ich den Arc de Triomphe, Notre Dame, den Tour d’Eiffel und die Sainte Chapelle sah und bewunderte, war es mir, als gehörte Paris mir. Ich erlebte, was während des deutsch-französischen Krieges von 1870/71, an dem mein Urgroßvater teilgenommen hatte, Victor Hugo den deutschen Intellektuellen um sie gegen den Krieg zu begeistern, zugerufen hatte: Paris ist euer so wie es unser ist. Und das ohne Krieg.

Die neue Ostpolitik -Versöhnung zwischen Völkern

Doch dieses Vergessen schuldhafter Kriegshandlungen hat eine unübersteigbare Grenze angesichts solcher Untaten und Verbrechen, die gegen die Menschenrechte gerichtet sind und auf Vernichtung ganzer Völker hinauslaufen. Die immer grauenhafteren Kriegsverbrechen seit dem 1. Weltkrieg können nicht mehr durch geordnetes Vergessen aus dem Gedächtnis getilgt werden. Bereits eine Kalendergeschichte des Theologen Johann Peter Hebel aus dem Jahr 1820 „Der Husar in Neiße“ schließt mit dem Merksatz: „Es gibt Untaten, über die kein Gras wächst.“ Das Grauen der napoleonischen Kriege ist angesichts der heroischen Schlachtenbilder oft bagatellisiert worden. Heine jedoch, ein Napoleon-Verehrer, notiert auf dem Schlachtfeld von Marengo (Napoleon besiegte hier die Österreicher), ist hier nicht zuviel Blut vergossen worden. „Denn mit jeden Menschen, der stirbt, vergeht eine ganze Welt. Unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte.“

Seit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen sind alle Verbrechen gegen die Menschlichkeit, insbesondere der Genozid, von jeder Amnestie ausgeschlossen und können nicht verjähren. Können sie vergeben werden? Chaim Weizmann, der Präsident Israels, hat das 1996 vor dem Bundestag ausgeschlossen. Vielleicht deswegen, weil Vergeben Vergessen beinhaltet. Es wäre aber auch möglich beides zu trennen, ich vergesse nicht, aber ich vergebe dir. Was zwischen einzelnen möglich ist, muss doch auch zwischen Völkern möglich sein. Das sagte die sog. Ostdenkschrift der EKD 1963 und bereitete damit den Weg für eine neue Ostpolitik. Wir können nicht Unrecht gegen Unrecht aufrechnen. Deutschland hat mit Krieg und Vertreibung begonnen, wollte Polen von der Landkarte tilgen und muss die Folgen, die Vertreibung der Deutschen aus Schlesien anerkennen. Die Aussöhnung Deutschlands mit den östlichen Nachbarn beruht auf dieser vorgängigen Anerkennung der eigenen. Schuld. Im Gefolge des durch die Ostdenkschrift ausgelösten Umdenkens wandten sich die katholischen Bischöfe Polens in einem Hirtenbrief an die deutschen Bischofskonferenz mit dem Satz: wir vergeben (das massive Unrecht, das Deutschland an Polen beging) und wir erbitten Vergebung (für das Unrecht bei der Vertreibung).

Selbst die Führer der Sowjetunion mit ihren über 20 Millionen Kriegstoten haben Deutschland die Hand zur Versöhnung gereicht und uns vergeben. Dabei ist der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion auch eine Untat, über die kein Gras wachsen kann. Sie darf nicht vergessen werden. Aber auch der Untaten der Sowjetunion nach Kriegsende, man denke an die Vergewaltigungen und die Lager in der sowjetischen Besatzungszone, in denen tausende zu Tode kamen, muss gedacht werden: Manches kommt erst jetzt ans Tageslicht. Die Aufarbeitung der Vergangenheit bleibt schwierig und sensibel, zu groß sind die gegenseitigen Verletzungen gewesen. Nicht verleugnen und nicht vergessen, aber vergeben. Ermutigend ist es, dass es Tschechen sind, die die Untaten bei der Vertreibung von Sudetendeutschen recherchieren.[2] Im übrigen: Der Volkstrauertag ist der Gedenktag für die Opfer von Krieg, Gewaltherrschaft und Vertreibung. Deswegen ist es fragwürdig, jetzt einen Extra-Gedenktag für die deutschen Opfer der Vertreibung aus den ehemaligen Ostgebieten einrichten zu wollen, und zwar ausgerechnet am 5. August, dem Tag, an dem 1950 die Charta der Heimatvertriebenen verabschiedet wurde, in der sich kein Wort von einer deutschen Schuld findet.

Stolpersteine - Fragen zur Auschwitz-Gedenkkultur

Die Notwendigkeit des Erinnerns gilt vor allem für den Völkermord an den Juden. Erinnerung an Auschwitz hat sich seit den 70er Jahren zum Kernbestand deutscher Nachkriegsidentität entwickelt. Die Scham, die den deutschen Tätern und Mitläufern fehlte, wurde so zum immerwährenden Gedenken institutionalisiert. Seit 1996 hat dies Gedenken Ausdruck gefunden in dem Auschwitzgedenktag am 27. Januar, dem Tag der Befreiung dieses KZ. Im Bundestag und in vielen kleinen Gedenkveranstaltungen wird das Gedenken vollzogen und inszeniert, das Entsetzen darüber ausgedrückt, wie die bürokratisch organisierte Massenvernichtung mit äußerster Demütigung und Entmenschlichung einherging. Ist das ein Mensch? fragte einer der Auschwitz-Überlebenden, der italienische Jude Primo Levi. „Ihr, die ihr behaglich lebt in gesicherter Wohnung, ihr, die ihr abends beim Heimkehren Speisen findet und vertraute Gesichter: Denket, ob dies ein Mensch sei, der schuftet im Schlamm, der Frieden nicht kennt, der kämpft um ein halbes Brot, der stirbt auf ein Ja oder Nein.“ Die Erniedrigung des Menschen durch den Menschen, seine Herabwürdigung zum Tier, seine millionenfache Tötung, das ist etwas, was nicht vergessen und vergeben werden kann. Enkel und Urenkel der Täter und Mitläufer werden so unabsehbar konfrontiert mit den Verbrechen des eigenen Volkes. Unterricht und politische Bildung informieren über die Shoah, Reisen in KZ-Stätten versuchen an den Orten des Verbrechens die sinnliche Erfahrung des Ungeheuerlichen zu vermitteln. Das gelingt nicht immer und bei manchen ruft es auch Widerstand hervor. Die rechte Szene leugnet immer wieder die Nazi-Verbrechen.

Gott ist Gedächtnis. Er vergisst die Opfer nicht, sagt der jüdisch-christliche Glaube. Aber er braucht irdische Stellvertreter, die sagen: die, denen frühzeitig das Leben geraubt wurde, sollen in der Erinnerung weiter leben. Deswegen das Holocaust-Mahnmal in Berlin, um das es lange Streit gab. Tausende von Stolpersteinen erinnern an die deportierten Juden, inzwischen auch in Hamburg, besonders im Grindelviertel. Deportiert nach Theresienstadt, Riga, Auschwitz …, ermordet am …. Während die deutschen Bewohner eines Hauses vergessen werden, erinnern die Steine die Nachgeborenen weiter an die ermordeten ehemaligen jüdischen Bewohner. So an den jüdischen Kohlenhändler Simonsohn in der Steenkampsiedlung, in der ich aufgewachsen bin, der, am 9. November 1938 deportiert, 1939 im KZ Fuhlsbüttel umgebracht wurde. Bei dem deutschen Nachfolger kauften wir unsere Kohlen. Von dem ursprünglichen Besitzer hat mein Vater mir nie erzählt. Erst seit 2 Jahren gibt es den Stolperstein in der Ebertallee.

Das Gedenken hat auch rituelle Züge, gegen die nicht wenige Deutsche immer mal wieder Protest anmelden. Dürfen die Kinder und Kindeskinder der Täter einer Beschränkung der Gedächtnisarbeit das Wort reden, ein heilsames Vergessen unterstützen? Martin Walser hat das in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Buchhandels versucht, indem er einen Missbrauch des Gedächtnisses als Erpressung kritisierte, Auschwitz eine Moralkeule nannte. Er wusste, dass das ein Tabubruch war und hat es doch versucht. Der folgende heftige Streit hat letztlich zu einer Bekräftigung des Auschwitz-Gedenkens als negativer deutsche Identitätsstiftung geführt (und zu einer begrenzten Ächtung des Autors). Das zeigt, wie sensibel dieser Bereich nach wie vor ist. Die deutsche Gedenkkultur gilt als vorbildlich. Leere Ritualisierung bleibt dabei eine Gefahr. Oder Politiker, die in ihrer Wortwahl daneben greifen, weil sie vermutlich das Ritual innerlich nicht ganz mittragen (wie der damalige Bundestagspräsident Jenninger, der dann zurücktreten musste).

Ein Ausbruch aus dem Ritual kann allein von den Opfern kommen: eine Auschwitz-Überlebende, die rumänische Jüdin Eva Moses Kor. „Zehn Jahre alt war Eva, als sie mit ihrer Mutter und ihrer Zwillingsschwester Miriam in einem Viehwagen nach Auschwitz verschleppt wurde. Noch an der Rampe sortierte man die verängstigten Mädchen aus und führte sie einem Mann zu, der an Zwillingspaaren ein ganz besonderes Interesse zeigt. Dr. Josef Mengele, seit 1943 Arzt im Vernichtungslager, überzeugter Anhänger der Rassenlehre und verantwortlich für tausende von Menschenversuchen an wehrlosen Lagerinsassen.“ Eva überlebte mit ihrer Schwester. Bei ihrer Suche nach Dokumenten aus jener Zeit stieß sie auf einen noch lebenden SS-Arzt, der als Kriegsverbrecher angeklagt aber schließlich freigesprochen worden, Dr. Hans Münch. Sie suchte ihn, der als Landarzt im Allgäu praktizierte auf. Er gestand ihr, dass er bei Vergasungen dabei gewesen war und unter heftigen Schuldgefühlen litt. Sie schrieb ihm einen Brief, in dem sie sagte, ich verzeihe ihnen. Das löste bei Mitopfern Protest aus. Das dürfe sie nicht sagen. Die Empörung steigerte sich noch, als sie Münch einlud, sie zum 50.Jahrestag der Befreiung des KZ-Auschwitz zu begleiten. Sie verlas ein Schuldeingeständnis Münchs und sagte dann: „In meinem eigenen Namen vergebe ich allen Nazis“. Erklärend fügte sie hinzu: „Indem sie persönlich ihren schlimmsten Feinden verzieh, habe sie endlich ihre Opferrolle abstreifen können. Ihre Vergebung sei kein Vergessen, betonte sie. Denn was ein Opfer tut, ändert nichts daran, was passiert ist.“ (Zitate in Kortzfleisch, Grünberg, Schramm (Hg.), Wende-Zeit im Verhältnis von Juden und Christen, Berlin 2009, 339f)

Die Täter bei der Selektion, die Folterer nicht vergessen können, bis hin zu eigenen Selbstzerstörung - Primo Levi, der seine Erinnerung als einer der ersten 1947 aufschrieb, 1958 veröffentlicht „Ist das ein Mensch?“, beging 1987 Selbstmord. Auch Jean Amery, der im KZ war und der schrieb: wer der Folter unterlag, wird sie sein Leben lang nicht mehr los, beendete sein Leben durch Selbstmord. Für sie gab es kein gnädiges Vergessen, was sie sich vielleicht gewünscht haben mochten. Andere Opfer konnten mit der schrecklichen Erinnerung robuster umgehen, durch ständige Aktivität gegen das Vergessen, so Elie Wiesel, der schrieb: „Niemals werde ich diese Nacht vergessen, die erste Nacht im Lager, niemals den Rauch, niemals die Flammen, niemals das nächtliche Schweigen, die Augenblicke, die meinen Gott und meine Seele gemordet haben, niemals werde ich das alles vergessen und sollte ich so lange leben wie Gott.“ Auschwitz nicht vergessen als kategorischer Imperativ!

Aber auch diejenigen nicht vergessen, die geholfen haben, so Ruth Klüger in ihrem Bericht Weiterleben, wo sie von der rumänischen Helferin erzählt, die dem Arzt bei der Selektion in Auschwitz, der sie ins Gas schicken wollte, sagte: aber schauen sie mal, wie stark sie ist. Dank dieser Intervention überlebte sie – wie sie empfindet eine unableitbare Handlung der Gnade dieser Frau. [3]

Zwei Seitenbemerkungen:

Erstens: Die letzten noch lebenden Täter sterben und auch die überlebenden Opfer. Das Gedenken aber bleibt so wie die Mahnmale, Gedenkstätten und Museen. Es sind die Orte, Plätze, Häuser, an denen das Gedächtnis haftet. Sie bleiben angesteckt (kontaminiert) von dem größten Menschheitsverbrechen. Die Stolpersteine in den Straßen meiner Heimat-Stadt erinnern mich ständig dran. Wenn ich durch deutsche Städte gehe und die Stolpersteine sehe, gehe ich nie achtlos an ihnen vorüber, nicht nur in Hamburg sondern auch in Berlin, Köln, Frankfurt und Dresden, sondern schaue sie mir an, denke an die Ermordeten. Es fehlt mir trotzdem so lange danach ein Stück Unbeschwertheit, das ich empfinde, wenn ich in italienischen oder französischen Städten flaniere (aber auch hier erinnern Plaketten an Widerstandskämpfer und damit an die Untaten der deutschen Besatzer und mich daran, dass ich zu diesem Volk gehöre).

Ach, denke ich manchmal, was waren das noch für glückliche Zeiten, als man ohne Bezug auf solche Gräuel heiter vom Vergeben reden konnte. Etwa Heinrich Heine: „Natürlich verzeihe ich meinen Feinden. Aber erst an dem Tag, an dem ich sie hängen sehe.“ Oder frech kurz vor seinem Tod: „Gott wird mir verzeihen, das ist sein Metier.“

Zweitens: Kriegskinder erinnern sich

In weitem Abstand von der Erinnerung der Opfer, also nicht als gegenseitiges Aufrechnen sondern in dem Bewusstsein, die Leiden der deutschen Kinder waren die Leiden der Kinder von Tätern und Mitläufern, gibt es seit einigen Jahren die Initiative „Kriegskinder erinnern sich“. Es gibt die Erinnerung von uns Kriegskindern an die Bombennächte, an Flucht und Vertreibung. Auch das waren traumatische Erlebnisse, die oft verdängt im Unbewussten weiter wirkten und neurotisches Verhalten bestimmten. Bei den schrecklichen Hamburger Bombennächten (Feuersturm) Ende Juli 1943 war ich mit Mutter und Bruder bei dem Großvater auf dem Land im Ostharz und so in Sicherheit. Spätere Angriffe erlebte ich in Gross Flottbek, wo kaum Bomben fielen. Aber ich erinnere die Mischung von Faszination und Angst, wenn wir nachts geweckt und in den Keller gebracht wurden, höre den Lärm der Bomber und der Flak, wenn der Vater die Tür öffnete. Bei einem Feuerwerk, das ich im geschlossenen Raum höre, taucht die Erinnerung an jene Zeit unwillkürlich wieder auf (einmal hier in der Petri-Kirche, als der Lärm eines Alster- oder Dom-Feuerwerks von draußen hereinkrachte)

Ich sehe aber auch vor mir das Foto vom Weihnachtsfest 1944 – mein älterer Halbbruder in Wehrmachts- und auch die Halbschwester in der Fernmeldeuniform. Vater und Mutter, mein kleiner Bruder und ich als Vierjähriger. Ein Foto fast heilen Weihnachtsfriedens inmitten des Kriegsinfernos und ich weiß, so etwas gab es für die Verfolgten nie. Sondern ich sehe das ängstlich aufgerissene Gesicht des jüdischen Jungen bei der Räumung des Warschauer Ghettos.[4] Im Unterschied zu mir hatte er keine Chance. Es ist aber gut, mit anderen darüber zu sprechen, es aus dem Keller des Verdrängten zu holen.

Nicht entdeckte Verbrechen – von Gott vergessen? Zwei Filme von Woody Allen

Das Judentum ist eine Gedächtnisreligion, es gedenkt des Bundes mit Gott, auch im Leiden. Warum erfährt uns so viel Unglück, fragt das jüdische Volk. „Um unserer Sünden willen“, so will es eine lange Tradition, haben wir so viel Verfolgungen erlitten. „Um deines Namens willen“ mussten wir Pogrome auf uns nehmen. Angesichts von Auschwitz versagen solche Erklärungen. Gott gerät in Erklärungsnotstand. Erweise dich unserem Leiden würdig, sagt der Rabbi in dem Text „Rabbi Rakowers Gespräch mit Gott“. Aber auch eine heitere Antwort. Zwei Juden zur Nazizeit in Österreich auf einer Parkbank. Der eine bekommt einen Vogelschiß auf den Kopf. Darauf der andere: Für die Goj singen sie!

Kann Gott auch Verbrechen verzeihen, indem er sie vergisst? Dieser tiefsinnigen Frage widmet sich der agnostische Jude Woody Allen in dem Film „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“. Ein bekannter Augenarzt, Sohn eines Rabbi, der immer sagte, Gottes Augen sehen alles, dieser Arzt hat eine Geliebte, die ihr Verhältnis öffentlich bekannt machen will. Er erzählt sein Dilemma seinem Bruder, der Kontakte zum kriminellen Milieu hat; er lässt diese Frau beseitigen. Der Fall wird nicht aufgeklärt, obwohl die Polizei den Augenarzt verhört. Gott greift entgegen der väterlichen Maxime nicht ein, das Verbrechen bleibt unaufgeklärt und nach einer Phase des schlechten Gewissens beruhigt sich der Augenarzt, erzählt die Geschichte einem erfolglosen Filmregisseur, der von Woody Allen gespielt wird. Also eine jüdisch-agnostische Bestreitung des jüdischen Glaubenssatzes: Gott ist Gedächtnis. Die Schwester des Rabbi sagt: was ist mit Auschwitz? Dein alles sehender Gott ist eine Lüge.

Nun war der Satz, dass Gott die Schreie der Bedrängten hört, ein Versuch, soziales Gewissen zu schärfen, ein Stück religiöser Gewissensbildung. Man muss so handeln, als ob Gott Gedächtnis und Schutz der Schwachen wäre. Wenn er es nicht ist, wie in den vielen Fällen unaufgeklärter Morde und Gewalttaten an Schwachen, wird trotzdem diese Gewissenserziehung nicht falsch.

In „Match Point“ (2006) stellt Woody Allen dieses Problem in einem anderen Milieu noch einmal dar – ein Tennisstar aus der Unterschicht heiratet in eine großbürgerliche Londoner Familie und tötet seine Geliebte, die diese neue Allianz stört. Fast hat schon die Polizei das ihn überführende Indiz, da wird es durch Zufall beseitigt, Fortuna greift gewissermaßen zugunsten des Verbrechers ein. Das rollende Rad der Fortuna, die Ablösung des gerechten Gedächtnis-Gottes, als Medium des Vergessens, des ungesühnten Verbrechens – es ist ein Thema, das Woody Allen sehr faszinieren muss.

Notwendiges Vergessen und Vergesslichkeit, unwillkürliches Erinnern

Es gibt aber auch ein notwendiges, ein unvermeidliches Vergessen. Vergesslichkeit gehört zu unserem Leben. Der Mensch ist von Natur aus ein vergessendes Lebewesen. Seit der Antike wird eine Gedächtniskunst wider das Vergessen errichtet. Es wird aber auch eine Vergessenskunst gelehrt. Manches möchte man behalten und vergisst es. Manches kann man nicht vergessen und möchte es doch. Von dem athenischen Feldherrn Themistokles wird überliefert: „Auch was ich nicht in der Erinnerung behalten will, das behalte ich. Was ich vergessen will, kann ich nicht vergessen.“ Ein ähnlicher Satz stammt von der Schriftstellerin Anna Seghers: „Nur was ich vergessen will, vergesse ich nicht.“

Bevor ich zu einigen Beispielen komme ein kleiner Neuro-Exkurs: Vergessen ist eine wichtige Leistung des Gehirns. Das Vergessen, das uns zu schaffen macht, etwa bei Prüfungen, wenn uns der Name von jemanden Bekannten nicht einfällt oder wir verlegte Dinge suchen, ist „eigentlich eine elementare Leistung des Gehirns. Ohne diese Fähigkeit Erlebtes einzuordnen und abzuspeichern, liefe es Gefahr schweren Schaden zu nehmen. Das Gehirn braucht Erholung. Die wichtigste ist der Schlaf (deswegen das große Schlafbedürfnis von Babys) Für Erwachsene können Meditationspausen oder einfach Nichtstun, ganz und gar nicht passive Phasen der Erneuerung oder Auffrischung sein. Neurowissenschaftler sprechen dabei vom Default Mode, einem Leerlauf-Prozess. Das neuronale System läuft und verarbeitet, neue Reize bleiben indes aus. Ein Delete, ein Löschen oder Formatieren wie beim Computer gibt es allerdings nicht. Man kann sein Gehirn quasi nicht vom Datenmüll befreien“ (HA 14.1.11) „Eine Taste für aktives Vergessen gibt es leider nicht“, sagt der international bekannte Hirnforscher Hans J. Markovitsch. „Wenn man etwas vergessen will, kann man nicht sicher sein, dass man es auch vergessen wird. Im Gegenteil, es beschäftigt einen oft sogar dann viel mehr. Vergessen geschieht vielmehr durch Interferenz, als Überschreiben.“ (Kant: Lampe muss unbedingt vergessen werden) Diese Interferenztheorie besagt, dass neue und aktuelle Eindrücke die alten Gedächtnisspuren belegen und so den Zugriff auf die alten Erinnerungen erschweren. Bei der rückwärtsgerichteten Interferenz stört später Erlerntes früher Erlerntes, bei der vorwärtsgerichteten Interferenz stört früher Gelerntes später zu Erlernendes.

Sodann gibt es das Misslingen des Abrufs von etwas, das man eigentlich weiß. Die Information ist zeitweilig nicht mehr zu finden, weil man den Kontext der Speicherung vergessen hat.Wir sagen dann: „Verflixt, ich habe es auf der Zunge.“ Etwas später kann es einem durchaus wieder einfallen (wie hieß noch der Schauspieler in dem Film).

Schließlich gibt es das motivierte Vergessen: Die Information wird aus irgendeinem Grund vor dem Bewusstsein verborgen – das kann Angst, Schuldgefühl, Abneigung oder die Ablehnung einer Person oder Sache sein. Das nennen wir auch verdrängen. So hat eine ganze Generation nach dem Krieg z.T. erfolgreich die Beteiligung an den Untaten der Nazis bzw. ihre Hinnahme verdrängt, bis die Auschwitzprozesse 1963 diesen Verdrängungsprozess unterbrachen. (Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern)

Nach Freud bricht das ungut Verdrängte, das Trauma, nach einer Phase der Latenz wieder auf. Um das Verdrängte zu bearbeiten ist eine Retraumatisierung notwendig, Soldaten, die aus dem Krieg heimkehren Vietnam, Irak, Afghanistan), müssen sich diesem Prozess unterziehen, damit es nicht zerstörerisch-unkontrolliert hervorbricht. Der erlebte Schrecken muss kanalisiert und zivilisiert werden.

Vergessen der Heimat und des Ziels

Das Ziel seiner Reise zu vergessen, sei es die Heimat, sei es das Objekt des Kampfes - das ist immer wieder die Gefährdung des abendländischen Helden, zuerst des Odysseus, bei den Lotophagen, die eine Vergessensspeise haben, bei der tückischen Zauberin Circe, die erst einen Zaubertrunk reicht und dann die Gefährten in Schweine verwandelt. Bei der Nymphe Kalypso, die ihn durch Liebe vergessen lässt. Bei den Sirenen muss er sich disziplinieren (an den Mast gefesselt), um nicht zu vergessen, wohin er will und doch zu hören den betörenden Gesang. So wird er der erste Konsumbürger, der ohne Reue genießt. Als Medienkonsumenten gleichen wir oft diesem Odysseus. (Nie habe ich so viel ferngesehen wie bei der Vorbereitung auf das 1. theologische Examen).

In der Renaissance ist es Torquato Tassos Dichtung „Das befreite Jerusalem“, in der von dem Ritter Rinaldo erzählt wird, der auf seiner Fahrt ins heilige Land das Ziel vergisst und von schönen Zauberinnen wie Armida auf einsamen Inseln in Liebesbande geschlagen wird, um schließlich durch einen Abgesandten aus seinem Liebeswahn erlöst zu werden. Ähnlich entbrennt der Orlando furioso, der rasende Ritter Roland des Ariost in Liebe zu einer morgenländischen Prinzessin und gerät auf allerlei Abwege und Abenteuer. In betörenden Barock-Opern bekommen wir etwas von diesem wunderbaren Vergessen zu hören und wünschen uns, einmal so wie diese Ritter unsere harten Alltagspflichten vergessen zu können in den Armen einer Fee oder Zauberin.

„Die Rechte möge mir verdorren, wenn ich dich vergesse Jerusalem“ (Ps 137,5 ) - das ist die Selbstverfluchung der nach Babylon deportierten Juden – ein Zentralsatz jüdischen Überlebens in einer zweitausendjährigen Diaspora, der bis hin zu Ernst Bloch wirkt. Die Erfüllung, die diese Selbstverfluchung erfahren hat im Zionismus und der Gründung des Staates Israel, hat inzwischen eine selbstzerstörerische Qualität. Heute müsste Israel eigentlich diese Selbstverfluchung, muss Jerusalem als alleinigen Besitz vergessen, um mit den Palästinensern in Frieden und gesicherten Grenzen leben zu können.

Vergessen einer Liebe

Vom Strom des Vergessens in der Unterwelt, Lethe, die den toten Seelen Vergessen spendet, ist die Rede in Vergils Äneis und später in Dantes Inferno. Manchmal wünschen wir uns den Lethestrom schon als Lebende, zum Beispiel, wenn uns eine gescheiterte Liebe, ein berufliches Mißlingen quält, bis in die Träume verfolgt, morgens beim Aufwachen als erster Gedanke da ist und abends der letzte, bevor wir unruhig in den Schlaf finden. Und das Tag für Tag, Wochen, Monate, manchmal sogar Jahre. Manche werden krank, trübsinnig, reden nicht mehr, andere gehen daran zugrunde, wieder andere aber retten sich schnell in eine neue Liebe.

Wie man eine Geliebte vergessen kann, das lehrte der Römer Ovid pragmatisch vor 2000 Jahren in seinem Poem „Heilmittel gegen die Liebe“. Man führe sich nur alle Nachteile der treulosen Geliebten vor Augen: war sie etwa schön? Keinesfalls ! Klug? Eigentlich auch nicht! Man meide die Orte, wo sie sich befand. Das beste Mittel aber für das Vergessen ist eine neue Liebe. Nun: Wenn man jung ist, ist das nicht so schwierig. Aber was ist mit denen, die im Alter betrogen werden? Die älteren Frauen, die um jüngerer willen verlassen werden?

Trotz parship ist es nicht so einfach einen neuen Partner zu finden. Aber es gibt die Freundschaftsgruppe, es gibt die Altersprojekte, das Ehrenamt, die schönen Reisen: zu zweit wäre es natürlich besser, aber manchmal trifft man/frau auf jemanden, mit dem/der es dann einen neuen Anfang gibt. Oder eine fast vergessene Jugendliebe taucht nach 40 Jahren wieder auf, wie ich es als Junge erstaunt bei dem Nachbarn und Kunstmaler Huppers, dessen Frau gestorben war, im Hamburger Bökenkamp erlebte.

Oder aber es gibt die Verarbeitung einer gescheiterten Liebe im Gedicht. Der alte Goethe, zur Kur in Marienbad, und dort der 19jährigen Ulrike von Levetzow in Liebe verfallen, einmal, als er mit ihr spazieren geht, stürzt er fast einen Abhang hinunter (Walser hat das schön neu erzählt in „Ein liebender Mann“), beginnt nach seinem abgelehnten Heiratsantrag in der Postkutsche auf der Rückfahrt von Marienbad nach Weimar auf den Blättern eines alten Kalenders mit der ersten Niederschrift der Marienbader Elegie: da dominiert die Erinnerung an das Glück in ihrer Nähe, „den Frieden Gottes vergleich ich wohl der Liebe heitern Frieden in Gegenwart des allgeliebten Wesens, wir heißen’s fromm sein“ und die Klage um den Verlust. „Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren / Der ich noch erst den Göttern Liebling war; / Sie prüften mich, verliehen mir Pandoren / So reich an Gütern, reicher an Gefahr / Sie drängten mich zum gabeseligen Munde / Sie trennen mich und richten mich zu Grunde.“ Das dann aber doch nicht, er lebte noch 10 Jahre und das Großgedicht wird alle Verlassenen noch über Jahrhunderte hinweg trösten. Schließlich Brechts „Erinnerung an die Marie A.“ „An jenem Tag im blauen Mond September / still unter einem jungen Pflaumenbaum / da hielt ich sie die stille bleiche Liebe / in meinem Arm wie einen holden Traum. Und über uns im schönen Sommerhimmel war eine Wolke, die ich lange sah / sie war sehr weiß und ungeheuer oben und als ich aufsah, war sie nimmer da.“ Und dann erzählt er, wie viele Jahre vergangen sind, dass er sich nicht mehr an die Liebe und an das Gesicht der Marie erinnern kann, auch nicht weiß was aus ihr geworden ist, nur dass er sie einst küsste, aber an die weiße große Wolke kann er sich noch erinnern und „als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.“ Ein Lied über männliche Liebesvergesslichkeit und zugleich über einen vergänglichen Moment der Liebe, festgehalten in der Erinnerung an die weiße Wolke, die dahinschwand wie die Liebe zu dieser Frau.

Wie jemand an enttäuschter Liebe stirbt, das zeigt die Geschichte Didos, der Königin von Karthago, verlassen von Äneas. „Wenn ich in die Erde gelegt werde, mögen meine Fehler keinen Aufruhr in deiner Seele schaffen. Erinnere dich an mich, aber vergiss mein Schicksal“ Und der Chor ruft in wehmütigen Glissandi die kleinen Liebesgötter herbei, dass sie Rosen auf ihr Grab streuen. (H. Purcell, Arie der Dido: When I am laid in earth)

Gedächtniskunst und Gedächtnislast

Wir wissen nur, was wir behalten. Bei Platon haben wir es schon vorgeburtlich gewusst. Es ist uns durch die Geburt verloren gegangen, kann aber durch die Hebammenkunst eines Sokrates wiedererweckt werden. So kann er einen Ungelehrten durch geschickte Fragen Grundkenntnisse der Mathematik beibringen, etwa dass die Verdopplung der Seiten eines Vierecks nicht die zweifache sondern vierfache Vergrößerung der Fläche bedeutet.

Derjenige, der Gott vergessen hat, so der Platoniker Augustinus, kann sich durch das Wort wieder an Gott erinnern. So wie die Frau im Gleichnis Jesu den verlorenen Groschen findet, weil sie sich, so Augustin, an das Münzbild erinnert. Ob das ein Mittel gegen die Gottvergessenheit unserer Zeit ist? .Seltsam genug wird das Gottesgedächtnis heute wiederbelebt durch jene fremde Münze, die auf der einen Seite den Namen Allah trägt, auf der andern den Namen seines Propheten. Auf einmal entdecken einige ihren Christenglauben wieder im unterschied zu diesem intoleranten Islam…

Vom großen Gott zur kleinen Welt der Alltagsprobleme. Eines ist klar. Das Gehirn altert. Ein älterer Mensch besitzt nur die Hälfte der Synapsen, wie er sie als junger Mensch besaß. Training, so genanntes Gehirnjogging kann helfen, dem Verschleißprozess entgegen zu wirken. Ein Gedicht auswendig lernen, Vokabeln, die Nachrichten der Tagesschau einem Gesprächspartner erzählen. Oder was man am Sonntagmorgen in der Predigt des Hauptpastors Störmer gehört hat.

Von Kant, der im Alter wohl zunehmend vergaß und avant la lettre an Alzheimer litt, wird berichtet, dass er sich Merkzettel machte, um sich noch zurechtzufinden. Darunter auch der wahrhaft unvergleichliche Satz: „Der Name Lampe muss unbedingt vergessen werden.“ Warum? Er hatte sich von seinem Diener Lampe im Streit getrennt. Das beschäftigte ihn über Gebühr und hielt ihn von der Arbeit ab, so wie das früher wohl ein abgerissener Knopf tat. Deswegen der Merkzettel mit diesem merkwürdigen Vergessensauftrag.

Merkwürdig auch Casanova, der im Alter seine vergessenen Geliebten aufschreibt. Vergessen aber kann er eine nicht, die ihm gesagt hat: Vergessen sie mich!

Ich kann viele so genannte Bildungsgüter nicht vergessen. Wofür mich meine Freunde rühmen, dass ich so viel weiß und erinnere, sofort etwas zitieren oder vorsingen kann, das ist oft auch eine Last. Viel zu häufig fällt mir ein Zitat ein, das nur ungefähr in den Gesprächszusammenhang passt, aber da es mir eingefallen ist, will ich es auch loswerden, nerve andere womöglich damit. Und eine gewisse Eitelkeit, mehr zu erinnern als andere, spielt auch noch eine Rolle.

Medien der Erinnerung – Madeleine und Oblate

In der Moderne wird die Frage interessant und genauer aufgeklärt, warum man vergisst. Freud hat sich damit ausführlich beschäftigt. Das ungut Vergessene ist das Verdrängte. Es kann krank machen. Aber das ist sehr kompliziert. Einfacher ist der saloppe Satz: Das kannst du vergessen, forget it, eine aus dem Englischen in unsere Sprache eingegangene Formel, die eine Entlastung für den psychischen Haushalt darstellt. Müh dich damit nicht ab, mache dir keine Hoffnung, vergiss es. So einfach geht es aber nicht. Gerade was uns versagt wird, das beschäftigt uns. Was wir nicht gelöst haben, geistert durch unsere Tagesgedanken und lässt uns auch im Schlaf keine Ruhe finden.

Nach Freud sind es ungelöste Tagesreste, die uns im Traum heimsuchen. Ungelöste und unliebsame Probleme, die wir verdrängt haben, kehren als freudsche Versprecher wieder. Ein Beispiel: Jemand sagt im Gespräch: Da ist etwas zum Vorschwein gekommen (eben eine verdrängte Schweinerei). Meine Angst einen Termin zu vergessen, kehrt im Traum wieder: ich träumte einmal so konkret und dringlich von einem Termin in Berlin, dass ich am nächsten Morgen schon zum Zug eilen wollte, dann aber noch mal in meinen Terminkalender schaute, wo der Termin nicht verzeichnet war

Berühmt ist das unwillkürliche Gedächtnis bei Marcel Proust. Proust hat eine Poesie des Vergessens und Wiedererinnerns auf 4000 Seiten in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit entfaltet. Prousts Theorie des unwillkürlichen Gedächtnisses macht sich an den Sinnen fest. Die wenigsten haben diesen langen Roman ganz gelesen, aber fast jeder Proust-Leser kennt die Szene, in der die berühmte Madeleine auf einmal eine ganze vergessene Welt der Kindheit wieder erstehen lässt.

Viele Jahre hatte von Combray außer dem, was das Drama meines Zubettgehens war, nichts für mich existiert, als meine Mutter an einem Wintertag, an dem ich durchfroren nach Hause kam, mir vorschlug, ich solle gegen meine Gewohnheit eine Tasse Tee nehmen … Sie ließ eines der dicken Mandelhörnchen holen, die man Madeleine nennt und die aussehen, als habe man als Form dafür die gefächerte Schale einer St. Jakobsmuschel benutzt … Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine an die Lippen … In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl hatte mich durchströmt … Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? (1,63f)

 Der Erzähler fragt, sich was das für ein unbekannter Glückszustand ist. Es will ihm nicht zunächst einfallen, doch dann steigt die visuelle Erinnerung, die zu diesem Geschmack gehörte, nach wiederholten Versuchen in ihm auf:

Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tag vor dem Hochamt nicht aus dem Haus ging), sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Leonie anbot, nachdem sie ihn in ihren schwarzen Lindenblütentee getaucht hatte (1/66f )

Das ist ein Gedächtnis, das sich der Steuerung durch Vernunft und Willen entzieht, das gegebenenfalls sehr lange braucht und sich Zeit nimmt. Plötzlich, unwillkürlich kann es in Aktion treten. Der Geschmack von Teegebäck, das Klappern eines Löffels gegen den Tellerrand, sogar der Benzingeruch eines Automobils sind die Träger dieses poetischen Gedächtnisse, mit deren Hilfe die Romanperson eine weite Erinnerungslandschaft betritt. Es entsteht ein Glücksgefühl, weil die Erinnerung hier die Zeit besiegt. Dieses Gedächtnis widersteht dem Vergessen, sogar dem Tod, das ist die Hoffnung. Interessanterweise sind es die niederen Sinne, die diese Auferstehungsarbeit leisten. Der Geruchssinn, der Geschmacksinn, auch der Tastsinn führen ins Reich der wiedergefundenen Zeit.

(Der Neurowissenschaftler ist viel prosaischer, wenn man ihn nach dem Grund für die Präsenz von Kindheitserinnerungen fragt – weil sie früh in ein gesundes aufnahmebereites Gehirn kamen, weil sie emotionalen Einmaligkeitscharakter hatten und weil sie immer wieder aufgerufen und damit abgespeichert wurden).

In dem letzten Teil seines Romans, 3000 Seiten weiter, beschreibt Proust, wie der Erzähler den Palais der Guermantes betritt und den langsamen Satz einer Violinsonate von Vinteuil hört, dabei denkt er über die Enttäuschungen seines Lebens nach. Er erinnert sich an Swann, der beim Wiederhören eines musikalischen Themas, das er einst mit dem Glück der Liebe zu Odette verbunden hatte, schmerzlich die Enttäuschung des Scheiterns dieser Liebe spürte, eine Erfahrung, die ich gut kenne, denn bei mir sind entscheidende Liebeserfahrungen ebenfalls mit musikalischen Erlebnissen verbunden

(Wenn ich Beethovens Chorfantasie höre, erinnere ich mich schmerzlich an das Glück, das ich spürte, als ich sie vor fast 50 Jahren mit der Elsässerin Lydie hörte, in die ich mich verliebt hatte und die mich dann später ganz plötzlich verließ. Diese Lydie ist mir dann so präsent, als säße sie noch neben mir in der Hamburger Musikhalle, ich sehe ihr entzücktes Lächeln und spüre unser sprachloses Einverständnis, dass das besungene Glück des Schlussjubels auch unser Glück sein möge. „Ach dass es ewig bliebe, das Doppelglück der Töne wie der Liebe“, heißt es bei Goethe).

Doch dann folgt bei Proust der merkwürdige Satz über Empfindungen neuer Art, an die man sich zu erinnern versucht, „ganz als ob unsere schönsten Ideen Melodien glichen, die uns wieder einfielen, ohne dass wir sie jemals gehört hätten, und die wir uns bemühen zu hören und in uns aufzuzeichnen.“ (3,3961) „Wir atmen eine neue Luft ein, die wir früher schon eingeatmet haben, jene reine Luft, von der die Dichter behaupten, sie herrsche im Paradies, wo sie uns aber dieses tiefe Gefühl von Erneuerung nur geben könnte, wenn sie schon einmal eingeatmet wäre, denn die wahren Paradiese sind die Paradiese, die man verloren hat.“ (3,3950) Worauf Proust hier anspielt, ist eine Ahnung, die mit dem Glück der wiedererweckten Kindheit, eines Morgens am Meer, eines Blicks in den Wald aus einem Zug, eines Erlebnisses ungleicher Fliesen im Baptisterium des Doms von St. Marco in Venedig, die durch Gerüche, Geschmack, Geräusche, Körpererfahrung geweckt wurden, verbunden ist und noch darüber hinausgeht. Eine Erfahrung, kaum in Worte zu fassen, eine zwischen Traum und Tag und angesiedelte Erfahrung transzendentaler Bestimmung. Ich kenne das als das Glück eines beseligenden Gedankens zwischen Tag und Traum, den ich dann aber nicht in Worte zu fassen vermag und doch als Glück gespürt habe. Das Glück der Epiphanie ist eines, das sich entzieht, ist wie ein Blitz, der vergeht, wie ein Choc. Und nur in diesem Entziehen ist es Glück. Man denke an Orpheus, der die Verlorene heraufholt und festhalten will und sie dadurch verliert. Man denke an die Jünger, die den Auferstandenen festhalten, berühren wollen und lernen müssen, dass im Nichtberühren das Glück der Präsenz liegt. Ich erinnere an Goethes erhabenen Satz in den „Wahlverwandtschaften“: „Wie ein Stern, der vom Himmel fällt, fuhr die Hoffnung über ihre Häupter hinweg.“ Schriftsteller können das Vergessene eher heraufholen.[5]

Man könnte sagen, dass die christliche Predigt, die Geschichten von der Gegenwart des Reiches Gottes unter uns erzählen kann, dem Tod Widerstand leisten möchte. Es gelingt ihr so selten, weil sie nur den Worten und dem Gehör vertraut, weil sie sich oft in allgemeinen Satzwahrheiten ergeht. Auch beim Abendmahl stellt sich diese Präsenz des Glücks und der aufgehobenen Zeit oft nicht ein, weil das Ritual belastet mit dem Verdacht unwürdigen Empfangs ist, bei mir manchmal, wenn wir den Friedensgruß tauschen: Christus hat mit uns Frieden gemacht, lasst uns einander ein Zeichen des Friedens geben.

Manches, was wir aus unserem eigenen Leben vergessen haben, erfinden wir dann biographisch neu. Bei Max Frisch steht der berühmt gewordenen Satz: „Mancher erfindet sich eine Biographie, die er dann für sein Leben hält.“ Da kann es geschehen, dass die Geschwister oder Freunde aus der Kindheit sagen, das war doch ganz anders. Manchmal hilft ihre Erinnerung der unseren auf die Spur. Auch der große Goethe hat sich vieles aus seiner Kindheit und auch aus dem erwachsenen Leben von anderen erzählen lassen und sich dann dichterisch in „Dichtung und Wahrheit“ anverwandelt. Mancher erfindet sich auch eine Rolle, die er so gar nicht gespielt hat, weiß es aber so überzeugend zu erzählen, dass man es ihm glaubt, zumal wenn es keine korrigierenden Zeitzeugen gibt.

So könnte ich als musikbegeisterter Opernfan glaubwürdig erzählen, wie ich neben anderen großen Sängerinnen auch 1960 die Callas bei ihrem Konzert in Hamburg erlebt habe, denn ich habe eine Fernsehaufnahme davon gesehen und mir genau gemerkt, was sie gesungen, wer dirigierte (Georges Pretre) und wie das Publikum reagiert hat. Der dringliche Wunsch dabei gewesen zu sein, vielleicht auch der Ärger dies besondere Ereignis versäumt zu haben, lässt mich die Geschichte phantasievoll korrigieren.

Von einem guten Bekannten weiß ich, dass er sich eine Rolle in einem politischen Geschehen so glaubwürdig angeeignet und mit literarischem Leben erfüllt hat, dass er jetzt wirklich als Beteiligter dieses Geschehens gilt. Auch hier ist der Wunsch der Vater der biographischen Phantasie.

Vergessen und Neuanfang

Ich kehre noch mal an den Anfang zurück: Gibt es ein Vergessen um neu anzufangen? Dieser Frage hat sich der französische Autor Jean Giraudoux nach dem ersten Weltkrieg gewidmet. Er schreibt zunächst einen unbeachteten Roman, dann formt er diesen Roman in ein erfolgreiches Theaterstück um – ‚Siegfried’. Darin schildert er, wie ein deutscher Politiker, Siegfried von Kleist, im Krieg verwundet und ohne Bewusstsein aufgefunden, durch seine charismatische Art Aufsehen erregt und von einem Freund, in dem Stück von seiner ehemaligen Verlobten, als ein im Krieg verschollener französischer Soldat wieder erkannt wird. Der Freund liest einen Artikel in einer deutschen Zeitung und ihn erinnert der Stil an seinen im Krieg verschollenen Freund. Und zwar macht sich die Erinnerung an einer rhetorischen Figur fest, der Litotes, die nuancenreich untertrieben einen Sachverhalt ausdrückt: statt gut zum Beispiel nicht übel. Diese Stilfigur zeichnete die Schriften seines verschollenen Freundes aus. Er geht der Sache nach und entdeckt in der charismatischen Politikerfigur tatsächlich seinen verschollenen Freund. Langsam erinnert sich der deutsche Politiker an sein Franzosentum, wird von seiner Amnesie geheilt. In dem Theaterstück kehrt er zur Verlobten zurück, die sagt: ich liebe dich, Siegfried. Ein Beispiel für deutsch-französische Aussöhnung lange vor de Gaulle und Adenauer. Man stelle sich vor, Hitler wäre dieser verschollene französische Soldat gewesen; das größte Verbrechen der Menschheit wäre uns möglicherweise erspart geblieben, die Welt-Geschichte anders verlaufen.

Vergesslichkeit und Demenz

Noch mal zur Gehirnforschung und zur Frage der Demenz. Die Gehirnforscher sagen, Stress sei ein Auslöser für die Alzheimerdemenz. Die Ausschüttung von Stresshormonen unterdrückt die Informationsverarbeitung, zumeist den Abruf aus dem autobiografischen Gedächtnis. Denn die Stresshormone haben die meisten Rezeptoren in Amygdala und Hippocampus, in jenen Hirnregionen also, in denen Kognition und Emotion synchronisiert werden. Die persönlichen Erinnerungen fallen dadurch aus, sodass ein an Demenz leidender zwar noch Fakten weiß, aber nicht mehr weiß, wer er ist, was er erlebt hat, wer seine Verwandten und Bekannten sind, wie alt, wo er zu Hause ist usw. Dass was uns verstört und Schrecken verbreitet ist verbunden mit der Angst, dass es einem selbst einmal so ergehen könne. Wie werden sich die Kinder dann verhalten?

„Wer wenn ich suchend schrie, hörte mich denn in der Engel Ordnungen“ (Rilke Duineser Elegie)

Ist Vergesslichkeit eine Vorform der Demenz? Wohl nicht. Vergesslichkeit ist nicht nur eine Sache der Älteren. Es gibt vergessliche Mittvierziger. Aber wegen des zunehmenden Alters ist Vergesslichkeit bzw. Desorientierung schon ein Problem der meisten älteren Menschen. Im Alltag der allein lebenden Älteren kann es bedrängend, zu Verwirrungen führend sein, schließlich zur Verzweiflung. Wie oft weiß ich nicht mehr, wo ich mein Portemonnaie, meine Brille, mein Handy hingelegt habe. Oder den Zeitungssauschnitt, den ich eben noch in der Hand hatte und für einen Artikel dringend brauchte. Ist das noch normal oder schon Altersverwirrtheit? In einem Sketch von Karl Valentin treffen sich zwei Vergessliche, reden darüber, was sie ständig vergessen; zum Schluss sagte der eine: Einmal habe ich etwas behalten. Nun, was war das, fragt der andere. Jetzt hab ich es doch vergessen, sagt der erste. Besser kann man es nicht auf den Begriff bringen.

Es geht mir manchmal wie in folgender Geschichte:

Ich schreibe eine Überweisung, die ich zur Post bringen will. Habe aber mein Handy verlegt, das ich nicht sofort finde. Als ich es endlich gefunden habe, weiß ich nicht mehr, wo ich die Überweisung hingelegt habe. Ich suche sie und stoße dabei auf einen Brief, den ich verlegt hatte. Ich mache ihn auf, es ist die Mahnung, für die Summe, die ich gerade beglichen habe. Ich will sie wegwerfen und entdecke dabei, dass der Mülleimer voll ist. Also mit runternehmen. Als ich zur Tür gehe, fällt mir ein, dass ich die Überweisung immer noch nicht gefunden habe. Da klingelt das Telefon. Es liegt nicht auf der Station. Ich gehe es suchen, finde es, nehme es ab, es ist ein Anruf wegen eines Vortragtermins. Ich suche meinen Kalender. Dummerweise liegt er nicht auf dem Schreibtisch, ich sage, ich muss ihn erst suchen und rufe gleich zurück. Nun finde ich die Überweisung, aber nicht den Kalender. Ich stecke die Überweisung in meine Jacke und gehe weiter den Kalender suchen, ich finde ihn unter einem Haufen Papiere, indem aber auch ein Zettel mit einer Notiz liegt, die ich mir gestern gemacht habe: Unbedingt XY anrufen, steht darauf. Ich tue es, niemand nimmt ab, ich spreche auf den AB, was denn los sei bzw. weswegen ich anrufen solle. Da fällt mir wieder die Überweisung ein. Wo habe ich sie hingelegt? Schließlich fällt mir ein, dass sie in der Jacke steckt. Als ich schon die Tür halb geschlossen habe, klingelt noch mal das Telefon. Warum ich denn nicht wie versprochen wegen des Termins zurückgerufen habe? Tut mir leid. Ich nehme meinen Kalender zur Hand, kläre das Terminproblem, nehme den Mülleimer, taste nach meinem Handy, das aber weder in der Jacke noch in der Hose ist. Verflixt, ich hatte es doch eben noch. Also wieder absetzen, das Handy suchen, was ich schließlich schaffe, indem ich meine Handy-Nr. vom Festnetz aus anrufe, nicht ohne zuvor noch im Kalender nachzuschauen, wie die Nummer lautet, denn ich weiß sie nicht auswendig. Es war doch in der Jacke. Als ich mit dem Handy in der Hand die Tür schließe, fällt mir ein, dass ich den Eimer vergessen habe. Also noch mal aufschließen, den Eimer nehmen, Handy, Schlüssel und Handschuhe und losgehen. Über all dem suchen ist etc. fast eine dreiviertel Stunde vergangen. Die fehlt mir dann beim Abfassen des Vortrags. Defizitäre Störung des Gedächtnisses, ausgelöst durch das Alter, nennt man so was.

Im Alter taucht gesteigert auf, was man sonst auch im Alltag erlebt – die Aufgehaltenwerden von dem täglichen Kleinkram, der einen oft nicht zu dem kommen lässt, was man eigentlich tun will. Zum Beispiel endlich den Text für den heutigen Vortrag fertig zu stellen.

Das hat seine lustigen Aspekte, über die man lachen kann. Es wird aber schlimm, wenn diese Verwirrtheit zur Demenz führt. Und wenn schließlich bei der Demenz die eigenen Kinder nicht mehr erkannt werden, dann erhält das Thema Erinnern und Vergessen eine tragische Dimension. Es kann zu später biographischer Stunde dann auch wenig oder nichts mehr gesagt und verziehen werden zwischen Eltern und Kindern. Manche Kinder rächen sich durch Bücher über ihre dementen Eltern und riskante Konstruktionen wie Tilman Jens, der seines „Vaters Vergessen“ mit dessen Vergessen der NS-Mitgliedschaft zusammenbringt (denn dass der Vater das leugnete, war eine große Enttäuschung für den Sohn, der seinen Vater bewundert hatte). Andere schreiben scheinbar einfühlsame Berichte wie Arno Geiger über seinen dement werdenden Vater mit dem Titel „Der alte König in seinem Exil“ (King Lear lässt grüßen), die aber doch fragwürdig sind. „Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm.“ Offen, liebevoll, heiter beginnt Arno Geiger seinen Vater erneut kennen zu lernen. Er geht mit ihm durch die Landschaft, in der sie beide als Kinder aufgewachsen sind. Er lauscht seinen nur scheinbar sinnlosen und oft so poetischen Sätzen. Er versucht zu verstehen, was hinter der Demenz des Vaters steckt, etwa hinter seiner ständigen Behauptung, obwohl er in seinem Haus ist, nicht zu Hause zu sein bzw. nach Haus gehen zu wollen. „Als Heilmittel gegen ein erschreckendes, nicht zu enträtselndes Leben hatte er einen Ort bezeichnet, an dem Geborgenheit möglich sein würde, wenn er ihn erreichte. Diesen Ort des Trostes nannte der Vater Zuhause, der Gläubige nennt ihn Himmelreich.“ (Geiger,54) Das ist doch wohl eine unzulässige Poetisierung des Verfalls des Vaters, wie überhaupt der Bericht je länger ich ihn lese, wie eine auch selbstbezügliche literarische Ausbeutung der Demenz des Vaters wirkt. Der Sohn als der allwissende Auctor der Geschichte des Vaters, als der Traditor seiner Sprüche (dh. auch als Verräter). Man merkt an diesen Büchern über demente Väter von Schriftstellern (es ist noch Jonathan Franzen zu nennen), wie schwierig es ist, als Betroffener darüber zu schreiben. Dass man sich die Betroffenheit vom Leibe halten muss, führt zu Distanzierungen und Funktionalisierungen. Wehren können sich die Väter ohnehin nicht mehr. Weiß ich, was meine Söhne über mich schreiben würden.?

Denn schlimm ist und bleibt: In vielen Fällen gibt es keine Aussprache mehr. Nicht erst der tote, nein noch der lebende Angehörige wird nicht mehr erreicht. Aber was die Kinder trotzdem aussprechen, vielleicht „hört“ es doch einer „in der Engel Ordnungen“ (gegen Rilke gesagt). In der Dementen-Seelsorge wird deswegen weiter geredet, gesungen (auch Weihnachtslieder im Sommer), berührt, sich gekümmert. Es wird die Hoffnung nicht aufgegeben, Menschen für ansprechbar zu halten. Es werden Gottesdienste gefeiert mit Dementen und ihren Angehörigen im Namen des Gottes, von dem es heißt, er sei Gedenken/Gedächtnis. Bei dem einen der andern vertrauten Choral singen zeitweilig auch die Dementen mit. Das ist gut, beruhigt, tröstet die Angehörigen. Aber die Skepsis bleibt „Lobet von Herzen das schlechte Gedächtnis des Himmels“ heißt es bei Brecht, „niemand weiß, dass ihr da seid.“[6]

Die Notwendigkeit der Erinnerung und die Kunst des Vergessens und Vergebens. Die letzte Chance der Vergebung ist nach christlicher Vorstellung das Jüngste Gericht. Ich stelle es mir nicht als Verdammnis für die einen und Seligkeit für die andern vor, wie auf den großen Bildern des Mittelalters und der Renaissance, sondern als eine Art Täter-Opfer-Ausgleich. Die Täter müssen hören, was sie den Opfern angetan haben, sie haben eine letzte Chance zur Schuldanerkenntnis und der Bitte um Vergebung. So ähnlich wie vor der Wahrheitskommissionen bei der Aufarbeitung der Verbrechen der Apartheid in Südafrika. Eine Art Fegefeuer. Billiger jedenfalls ist Vergebung nicht zu haben.



[1]    Mehrere der folgenden Beispiele habe ich Harald Weinrichs materialreichen und höchst anregendem Buch “Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 2005“ entnommen.

[2]    Die Benes-Dekrete zur Rechtmäßigkeit der Vertreibung der Sudetendeutschen sind völkerrechtlich fragwürdig, trotzdem darf nicht von deutscher Seite ständig darauf hingewiesen werden, das müssen die Tschechen selber machen.

[3]    Primo Levi, als Chemiker in einer Farbenfabrik tätig, erhält einen Brief eines deutschen Kollegen. An einer gewissen Formulierung blitzt die Erinnerung an einen deutschen Chemiker auf, der in Auschwitz genau dieselbe Fehlschreibung einer Verbindung verwandte. Levi schreibt ihm und fragt ihn danach. Und in der Tat, dieser Chemiker ist der Chemiker von Auschwitz, kein Folterer und Massenmörder, aber einer, der mitmachte und ein Rädchen im Getriebe der Vernichtungsmaschine war. Er versucht sich zu rechtfertigen, will Primo Levi treffen, aber bevor es zu dem Treffen kommt, stirbt er, wie Levi durch eine Mitteilung der Witwe erfährt(P.Levi,Das periodische System).

[4]    Es ist schon seltsam, dass gerade die Massenmörder, derer nicht gedacht werden soll, aufgrund ihrer Untaten sich dem Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben haben(man denke an Eichmann), während so viele ihrer Opfer vergessen sind. Was aber ist, wenn sie in der jenseitigen Welt wirklich bereut haben? In einer merkwürdigen Erzählung von Hartmut Lange „Das Konzert“ wollen die SS-Mörder in einer geisterhaften Zombie-Wirklichkeit im Nachkriegsberlin an einem Konzert teilnehmen, das ein von ihnen ermordeter jüdischer Pianist in einem großbürgerlichen Hause gibt. Ist es Einsicht von Reue und Wiedergutmachung oder ein unverschämtes Ansinnen?

[5]    Ein anderes Beispiel dafür ist Patrick Roths Verfahren der literarischen Totenerweckung. Mit Hilfe der Alchemie-Lehre und von C.G.Jung wagt und versteht er den Abstieg ins „Tal der Schatten“. Aus dem Dunklen, dem Dreck wird etwas; der Stein wird heraufgeholt, aus dem Verachteten, Allerhäßlichsten, man denke an den Gottesknecht, wird die Erlösung gewonnen. Gott wird inkarniert, sagt er, indem wir unser Geringstes annehmen. Wir müssen das Tote, das tief in uns liegt, heraufretten, es wieder beleben mit dem Hauch des Schreibens, so wie Gott den Erdkloß Adam mit seinem Hauch belebte. Und Roth erzählt dazu einen Traum von einem alten Kameramann, der aus einer Kamera ein Stück Film hervorholt, es ihm zeigt und behaucht. In dem Text Orpheus nach Hollywood bekennt Roth, dass der Orpheus-Mythos ein Bild sei, das die Passage zum Toten, zur Toten - der toten Anima Eurydike - beschreibt, ihre Findung, ihre mögliche Rettung in allen Stadien dieser Reise ins Tal der Schatten schildert. Es kommt darauf an, sich dann nicht wie Orpheus aus Unbeherrschtheit und Unreife wieder zu Eurydike, zum Unbewussten hinzuwenden, so der Orpheussekunde des möglichen Verlusts zu entgehen. Die Orpheussekunde ist „eine Sekunde des Versagens, weil Orpheus sie sich nicht versagt.[5] Das Heraufholen des Toten ist eine für den Leser zunächst ungewöhnliche, dann aber nachvollziehbare Erfahrung. Sie geschieht in oft schmerzhafter Erinnerungsarbeit mit der eigenen Lebensgeschichte, angestoßen durch Begegnungen, Träume, Erinnerungsfetzen, Film- und Literaturszenen. Ich habe eine solche Erfahrung einmal beim plötzlichen Sehen eines Films gemacht.

[6]    Bei Kafka im „Prozeß“ heißt es: es gibt drei Möglichkeiten, sagt der Maler Titorelli über das Gericht: „die wirkliche Freisprechung(unerreichbar),die scheinbare Freisprechung und die Verschleppung.“ Die einzige Hoffnung liegt bei den letzteren. Das ist zumindest ein kleiner Trost, ebenso wie die Bestechlichkeit der Richter. Aber sonst gilt der Satz: „Es gibt bei Gericht kein Vergessen.“ Dass Gott nicht vergisst, ist letzte Hoffnung der Gemarterten. Hier wird es zur Hoffnungslosigkeit

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/71/hjb7.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2011