50 Jahre danach: Kunst und Kirche


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Religion als Kunst – im Unterricht

Eine Rezension

Andreas Mertin

Herr Keuner sah irgendwo einen alten Stuhl von großer Schönheit der Arbeit und kaufte ihn sich. Er sagte: "Ich hoffe auf manches zu kommen, wenn ich nachdenke, wie ein Leben eingerichtet sein müsste, in dem ein solcher Stuhl wie der da gar nicht auffiele oder ein Genuss an ihm nichts Schimpfliches noch Auszeichnendes hätte."                             Bertold Brecht[1]

Vielleicht ist es mit der ästhetisch avancierten Religionspädagogik so wie mit der Brechtschen Geschichte von Herrn Keuner. Wir alle möchten einmal die Zeit eines Religionsunterrichts erleben, indem eine ästhetisch avancierte Praxis gar nicht mehr auffiele und der Genuss eines solchen Unterrichts nichts Schimpfliches noch Auszeichnendes hätte. Aber auch 80 Jahre nach der Niederschrift dieses Textes durch Brecht bleibt die Arbeit von großer Schönheit etwas Besonderes und es bedarf weiterhin der Reflexion, wie ein Leben / Unterricht eingerichtet sein müsste, in der so etwas nicht auffallen würde.

Ich erinnere mich daran, dass wir 1997 in der hessischen Lehrplankommission für Evangelische Religion Sekundarstufe 1 darüber diskutierten, ob wir bei den Rahmenrichtlinien nicht einen radikalen Schnitt machen sollten und den Unterricht an dem seinerzeit sehr avancierten und künstlerisch inspirierten Konzept von Dietrich Zilleßen und Uwe Gerber in ihrem Entwurf „Und der König stieg herab von seinem Thron“[2] ausrichten sollten. Wir haben dann doch ein konventionelles Konzept gewählt und nicht das avancierte, schlicht weil wir angesichts von Traditionsabbruch und auch damals schon anstehender Kompetenzorientierung auf das Bewährte gesetzt haben. Man könnte auch sagen: wir waren einfach nicht mutig genug.

Petra Schulz jedenfalls möchte mit ihrem kleinen im folgenden vorzustellenden Bändchen einen anderen Weg einschlagen und zeigen, wie man, wenn man Religion als Kunst versteht, exzentrisch werden kann und wie das gelingen kann.

Schulz, Petra; Malter, Rebekka (2010): Exzentrisch werden. Verrückt in der Bibel und anderswo. 1. Aufl. Jena: IKS Garamond.

Exzentrisch werden - das klingt sehr ambitioniert und ist es auch. Es steht für eine andere Art des Religionsunterrichts, eine die sich an der zeitgenössischen oder sagen wir eher an der modernen Kunst orientiert und hofft, man könne Religion als Kunst lehren und man könne Religion kunstvoll lehren und lernen.

Dem Leser werden zwei Angebote gemacht: ein kleines Buch im DIN A 5 Format  und eine dazu gehörige Didaktik mit Praxisvorschlägen im DIN A 4 Format, der eine CD-ROM mit Bildern beigefügt ist.

Und wenn es eine Beziehung von Form und Inhalt gibt, dann kann eine exzentrische Religionspädagogik nicht linear zu lesen sein, sondern muss dem Rezipienten unterschiedliche Wege eröffnen, ähnlich wie Julio Cortázars „Rayuela – Himmel und Hölle“.[3] Und so kann man immer wieder anhand vorgeschlagener Wegweiser einen alternativen Pfad wählen und durch den Text springen. Vorgestellt werden verschiedene Exzentriker und exzentrische Positionen wie Jeremia und Ezechiel, der Frau, die Jesus salbt,  und natürlich Jesus selbst.

Das Schöne für den Rezensenten ist in diesem Falle, dass man Exzentrisches kaum mit Worten wiedergeben kann, weil es eigentlich vom jeweiligen Leser verlangt, dass dieser sich darauf einlässt und seine eigenen Wege geht. Ich könnte also nur von meinen Lektüre-Erfahrungen erzählen. Statt dessen will ich nur ein paar Fragestellungen aufwerfen. Bei meiner Lektüre ging es so, wie seinerzeit mit dem Buch von Zilleßen und Gerber. Es ist sehr einladend und verführerisch, sich auf das Experiment einzulassen. Aber es setzt eine Menge Arbeit beim Unterrichtenden voraus, ein Umlernen und anders Lehren. Ich bin mir nicht sicher, ob im Rahmen des heutigen Religionsunterrichts die Muße und die Freiheit herrscht, sich darauf einzulassen. Ich vermute eher nicht. Es ist ein luxuriöses Spiel im Sinne der Brechtschen Geschichte von Herrn Keuner, ein utopischer Entwurf eines vom Zwang entlasteten Religionsunterrichts. Zugleich setzt er im Blick auf die Schülerinnen und Schüler ein hohes Maß an Disziplin und Einsatzbereitschaft voraus. Wenn die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind, dann macht das Arbeiten mit diesem Buch sicher Spaß.

Zwei grundsätzliche Einwände noch zum Schluss: zum einen finde ich die Zeichnungen von Rebekka Malter auf verstörende Weise so platziert, dass sie viel zu oft wie Illustrationen wirken. Das tut der Sache nicht gut. Wenn man Kunst ernst nimmt, dann muss das auch beim Bildmaterial zum Ausdruck kommen. Man ist sonst schnell bei der Gebrauchskunst im schlechten Sinne angelangt.

Zum zweiten finde ich die Inanspruchnahme des Wortes Kunst für die Religion (BlickArt ist Religion als Kunst) maßlos überzogen. Nein, das ist nicht einmal im Ansatz Kunst im geläufigen Sinne dessen, was das Betriebssystem Kunst unter Kunst versteht und was sich im Prozess der europäischen Neuzeit als Kunst herausgebildet hat. Eine der großen Stärken dieses Prozesses ist die Einsicht, dass Differenzierung einen Professionalisierungsgewinn bewirkt. Wenn die Rede von der Religion als Kunst also seriös sein soll, dann müsste ich das Ergebnis mit dem in Beziehung setzen, was auf den Biennalen dieser Welt oder was auf der documenta kunstdiskursiv erörtert wird. Und damit lässt sich die religionspädagogische Arbeit nicht relationieren. Es ist einfach Etikettenschwindel oder Hochstapelei. Warum geht es nicht eine Münze kleiner, etwas bescheidener? Auch ein ästhetisch ambitionierter Religionsunterricht ist noch keine Kunst. Und selbst wenn Theologen Kunst machen (und da fällt mir im 20. Jahrhundert nur ein Name ein), muss man beide Tätigkeiten – das Theologie treiben und das Kunst machen – sorgfältig voneinander scheiden. Beides will professionell betrieben sein. Alle Versuche, Religion als Kunst zu betreiben oder sie als solche auszugeben, müssen meines Erachtens notwendig scheitern. Dabei ist diese Etikettierung auch gar nicht notwendig. Religionsunterricht auf der Höhe der Zeit ist immer auch ästhetisch wie aisthetisch qualifizierter Religionsunterricht. Und das sollte auch reichen. 

Anmerkungen

[1]    Brecht, Bertolt (1976): Gesammelte Werke. [in 20 Bänden]. 101. - 112. Tsd. Hg. v. Elisabeth Hauptmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Werkausgabe). Band 12, S. 406.

[2]    Zilleßen, Dietrich; Gerber, Uwe (1997): Und der König stieg herab von seinem Thron. Das Unterrichtskonzept Religion elementar. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Diesterweg.

[3]    Cortázar, Julio (1983): Rayuela. Himmel-und-Hölle; Roman. 2. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/71/am352.htm
© Andreas Mertin, 2011