Warengruppe 481

Der Boom der Lebenshilfebücher*

Jürgen Bolz

Warum steckt Gähnen an? Macht Schokolade Pickel? Auf welche Prominenten wurde schon mal ein Torten-Attentat verübt? Mit diesen drei Fragen machte der FOCUS im Januar 2007 einen Artikel auf, der sich mit einer speziellen Sorte Lebenshilfebücher beschäftigt. Denn das Weihnachtsgeschäft 2006/2007 hatte gezeigt, dass mit Titeln wie Schotts Sammelsurium, Dr. Ankowitschs Konversationslexikon oder dem Lexikon der populären Irrtümer gutes Geld zu verdienen war. Dennoch: Eine Münsteraner Buchhändlerin nannte Titel dieser Machart „Klugscheißer-Bücher“ – allenfalls geeignet, unverbindlichen Gesprächsstoff für den nächsten Party-Talk zu bieten. So falsch lag die Dame offensichtlich nicht, denn im Mai 2010 verortete die seriöse FAZ einen Teil der Ratgeberliteratur ganz nah am „Banale Grande“. Und am 26.10.2010 rief Axel Rühle in der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung laut um Hilfe – der eigentlich glückliche Vater drohte nach eigenem Bekunden verrückt zu werden. Denn, so die Subline dieses Artikels, täglich werden Eltern mit den neuesten Pädagogik-Studien, Lerntipps und vielen guten Ratschlägen zur Frühförderung zugemüllt. Der Artikel endete mit der Feststellung, dass der Journalist, wie man ihm geraten hatte, der Stimme seines Herzens lauschte, doch als er genau dies tat, war da nichts mehr – nur noch ein Loch, in dessen Mitte stumm ein Fragezeichen pulste.

Was geht vor in diesem Land? Schaufeln die Verlage ohne Sinn und Verstand und nur weil es ums Geldverdienen geht, Bücher auf den Markt, die keiner braucht? Sind all diese Lebenshilfebücher nicht das Geld wert, das sie kosten? Ist hier irgendeine dunkle Macht am Werk, die die Menschen entmutigt und entmündigt, auf dass sie sich freiwillig den Rat vermeintlicher und tatsächlicher Ratgeber suchen? Kurzum: Ist das, was wir hier heute einen Boom nennen, wirklich ein Boom – oder nur eine verzerrte Wahrnehmung?

Ich will im Folgenden diesen Fragen nachspüren und vorsichtige Antworten formulieren – endgültige Antworten kann ich nicht liefern. Aber ich will mich diesen Fragen aus der Sicht der Verlage nähern. Dabei möchte ich vorrangig nicht über die Qualität von Ratgebern sprechen, sondern vor allem über Quantitäten – schließlich reden wir hier über den „Boom der Lebenshilfebücher“ – und der Begriff des Booms hat nun eindeutig eine wirtschaftliche Konnotation.

Es geht also zunächst um Zielgruppen, um Umsätze und Marketing. Es geht vorrangig darum, welche Menschen für uns Büchermacher interessant sind, d.h. konkret, wie wir unsere Zielgruppen bestimmen – das ist der Blick auf die Nachfrageseite. In einem zweiten Schritt geht es darum, wie sich der aktuelle Buchmarkt im Allgemeinen und der Ratgebermarkt im Besonderen derzeit darstellen. Und es geht drittens darum, wie Verlage den Erfolg bestimmter Bücher erklären und daraus Strategien für die je eigene Programmplanung und Vermarktung ableiten.

Ich möchte zu Beginn den stillen Vorwurf, die Verlage bringen Bücher auf den Markt, die keiner braucht, aufgreifen. Meine These lautet: Verlage reagieren mehr, als dass sie agieren. Konkret: Verlage sind auf der Suche nach neuen Trends, nach spannenden Themen, nach interessanten Personen. Daraus stricken sie Ideen für Bücher.

Angenommen, es wurde ein Thema und ein Autor gefunden, Autor und Verlag sind sich einig und schließen einen Vertrag. Handelt es sich um einen deutschen Autor, dann ist das Buch in der Regel zu diesem Zeitpunkt noch nicht geschrieben; es liegt meist ein mehrseitiges Exposé vor, das neben dem Inhalt auch den Bearbeitungszeitraum nennt. Vom Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung bis zum Erscheinen des Titels vergehen in der Regel noch mindestens 10 bis 12 Monate, oft sogar noch mehr. Was bedeutet das im Hinblick auf unsere Fragestellung?

Diese langen Zeiträume machen es in unserer schnelllebigen Medien- und Konsumwelt den Verlagen fast unmöglich, Trends zu bestimmen. Bücher greifen in der Regel nur bestehende Trends auf und sind bestenfalls in der Lage, sie zu verstärken. Inwieweit dies auf Ratgeber und Lebenshilfebücher zutrifft, wäre im nächsten Schritt zu überlegen.

Konkret stellt sich hierbei die Frage, ob nicht in der Gesellschaft ein Maß an Verunsicherung und Orientierungslosigkeit herrscht, das den beobachteten Boom nach Lebenshilfebüchern auslöst. Es ist die alte Frage, wer früher da war – die Henne oder das Ei. Ich behaupte, in diesem Fall war es die Henne. Im Klartext: Der Boom, wenn er denn einer ist, geht von der Nachfrageseite aus. Gibt es dafür Belege? Ich meine: ja!

In der Spiegel-Ausgabe vom 27. September 2011 fand sich ein Essay von Richard David Precht, einem der erfolgreichsten Sachbuch-Autoren der letzten Jahre – Sie kennen seinen Bestseller „Wer bin ich und wenn ja, wie viele“. Precht spricht in seinem Essay von sozialen Kriegen und vom Unbehagen der bürgerlichen Mittelschicht. All dies werde offensichtlich in den Ereignissen um das Sarrazin-Buch und die Demonstrationen in Stuttgart. In diesem Zusammenhang paraphrasierte Precht den Soziologen Daniel Bell und dessen These über das Wertedilemma der westlichen Gesellschaften: „Der westliche Mensch zerfällt heute in zwei Teile, die nicht mehr zusammenpassen. Die Wirtschaft benötigt einen egoistischen Hedonisten und unersättlichen Konsumenten, der nie zufrieden ist, disziplinlos in seiner Gier nach mehr. Die Gesellschaft hingegen braucht einen bescheidenen Mitbürger, hilfsbereit und zufrieden. Wie soll man bei solchen Voraussetzungen seine Kinder erziehen? Wie soll man ein klares und überzeugendes Ideal formulieren? Was sind unter diesen Umständen die Leitwerte? Und was ist noch das Bürgerliche? Zu viel Freiheit macht unsicher. Wir sind zu gut informiert, um uns noch zu klaren Weltanschauungen zu bekennen, zu liberal, um Wertehierarchien zu formulieren, zu konsumorientiert, um Bescheidenheit zu predigen.“

Precht konstatiert die Erosion der bürgerlichen Mittelschicht und ein Anwachsen jener Milieus, die ohne bürgerliche Tugenden auskommen. Es ist der Siegeszug des Dissozialen, der unsere Gesellschaft bedroht. Zitat: „Eure Werte, euer sozialer Friede und eure Moral sind uns scheißegal.“ Soweit Richard David Precht.

Unter der Rubrik „Zeitgeschehen“ dachte in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vor kurzem Thomas Assheuer darüber nach, was die jüngsten Proteste über unsere Gesellschaft aussagen. Er schloss mit einer Erkenntnis des Kulturwissenschaftlers Hartmut Böhme: „Die entfesselte kapitalistische Moderne ist nun einmal gezwungen, ihre Identität auf permanenten und riskanten Wandel einzustellen, auf chaotische Unbestimmtheit, auf Bewegung, Zerstörung und Wachstum. Unsicherheit ist ihre Entwicklungsvoraussetzung. Aber der Innovationsdruck in Kombination mit Enttraditionalisierung bedeutet für immer mehr Menschen nur noch Stress und Schmerz.“

Wandel, Verlust, Schmerz – das sind die Schlagworte fürs Feuilleton, das sich derzeit um die bürgerliche Mitte bemüht wie kaum in den vergangenen Jahrzehnten. Ist das eine Gespensterdebatte? Ausgelöst durch ein umstrittenes Buch eines Provokateurs? Durch Proteste gegen Schulreformen in Hamburg, den Kampf um Nichtraucherschutz in München und gegen einen neuen Bahnhof in Stuttgart?

Jüngste soziologische Daten des Instituts Sinus Sociovision in Heidelberg stützen die genannten Beobachtungen. Das weithin bekannte Sinus-Milieumodell ist ein sozialwissenschaftliches Modell, dessen Aussagen auf quantitativen und qualitativen Interviews beruhen, die die unterschiedlichen Lebenswelten in unserer Gesellschaft widerspiegeln. Diese Lebenswelten sind bestimmt durch Wertorientierungen, Konsumverhalten und ästhetische Präferenzen, die das Alltagsleben prägen. Indem Sinus die Modelle in bestimmten Intervallen fortschreibt, werden gesellschaftliche Veränderungen sichtbar. Ende September hat Sociovision nun die dritte Überarbeitung seiner Milieus der Öffentlichkeit vorgestellt. Die langfristigen Veränderungen der Gesellschaft werden darin sehr deutlich: Auffallend ist, dass im Vergleich zur letzten Erhebung, die im Jahr 2000 vorgelegt wurde, die Mittelschicht schrumpft. Betrug ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung damals noch 66 Prozent, so geht Sinus heute davon aus, dass nur noch 60 Prozent der Bevölkerung zur Mittelschicht gehören. Dieser Wandel in der Sozialstruktur hat auch tiefgreifende Wirkungen auf die Soziokultur, deren Veränderungen von den Forschern wir folgt zusammengefasst werden:

  • Die Modernisierung im Hinblick auf Mobilität, Bildung und Kommunikation geht einher mit einer wachsenden Individualisierung, mit neuen Entfaltungsspielräumen und Wahlmöglichkeiten.
  • Der technologische, soziokulturelle und ökonomische Wandel schafft eine zunehmende Überforderung und Verunsicherung, die mit Orientierungslosigkeit und Sinnverlust einhergeht. Das Ergebnis ist eine verstärkte Suche nach Selbstvergewisserung.
  • Im Gefolge der Globalisierungsprozesse und der zunehmenden Digitalisierung weiter Bereiche des Lebens teilt sich die Gesellschaft in Gewinner und Verlierer. Besonders deutlich wird dies im Bereich der Mittelschicht, die an Gewicht verliert.

Dieser Wandel, so die Forscher, hat sich im vergangenen Jahrzehnt beschleunigt:

  • Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter. Die Gewinner erleben eine Zunahme an Lebensqualität, was ein Mehr an Freiheit und damit an Wahlmöglichkeiten in der Lebensgestaltung mit sich bringt.
  • Gleichzeitig hat das Vertrauen in die Sozialversicherungssysteme abgenommen. Als Folge davon ist die Bedeutung von sozialen Netzen und entsprechenden sozialen Handlungsmustern gewachsen. Neuorientierung und Sinnsuche bestimmen das Lebensgefühl insbesondere der jüngeren Generation.
  • Das Erwerbsleben hat mehr denn je Einfluss auf das Privatleben. Die Kleinfamilie wird zum Auslaufmodell. Das fördert den Zwang zur bewussten Prioritätensetzung im Hinblick auf die langfristige Lebensplanung wie auch auf die kurzfristige Frage nach einer sinnhaften Work-Life-Balance.
  • Diese Entsolidarisierung der Gesellschaft fordert ein höheres Maß an Eigenverantwortung, das im Fall von Misserfolg als Selbstverschulden bezeichnet wird.

Das bedeutet für unsere Fragestellung: Je mehr die Verhältnisse außer Kontrolle geraten, desto größer ist der Bedarf an Beratung, Begleitung und Orientierung – kurz gesagt: an Lebenshilfe.

Die sogenannte „Kartoffelgrafik“, die die einzelnen Lebenswelten und ihren jeweiligen quantitativen Anteil sowie ihren Status in der Gesamtgesellschaft abbildet, macht diese Brüche sichtbar. Es werden in der vertikalen Schichtachse drei gesellschaftliche Schichten unterschieden:

  • Untere Mittelschicht / Unterschicht
  • Mittlere Mittelschicht
  • Obere Mittelschicht / Oberschicht

In der horizontalen Werteachse sind drei Grundorientierungen erkennbar:

  • traditionsverhaftete Milieus: Hier es geht um das Festhalten und Bewahren;
  • modernisierungs- und individualisierungsaffine Milieus: Deren Grundorientierungen sind Haben und Sein sowie Sein und Verändern;
  • und schließlich die Milieus mit der Grundorientierung Machen und Erleben sowie Grenzen überwinden.

Erstmals wurde in der neuesten Grafik eine Trennlinie eingefügt, die die Kartoffel der Bürgerlichen Mitte durchschneidet. Die Wissenschaftler haben in den Interviews festgestellt, dass die Bürgerliche Mitte in zwei nicht gleich große Hälften zerfällt. Die obere Hälfte bilden mit einem Anteil von 6 Prozent an der Gesamtbevölkerung die Modernisierungsgewinner – das sind jene Gruppen, die in den vergangenen Jahren höhere Einkommen erzielen konnten und einen Zugewinn an individuellen Gestaltungsmöglichkeiten erlebt haben.

Die untere Hälfte mit einem Anteil von 8 Prozent an der Gesamtbevölkerung bilden die Modernisierungsverlierer – jene Gruppen, die soziale Abstiegsängste äußern und deren Gestaltungsmöglichkeiten eingeschränkt wurden, weil das Einkommen relativ sank.

Ein wichtiges Merkmal, und damit gehe ich einen Schritt weiter, der Sinus-Lebenswelten ist der Umgang mit Medien. Dazu gehört auch der Konsum von Büchern. Die Sinus-Forscher haben ermittelt, dass nicht alle Milieus in gleicher Weise Bücher konsumieren – einfach gesagt: es gibt Milieus, die überdurchschnittlich viele Bücher kaufen, und es gibt Milieus, die unterdurchschnittlich viele Bücher kaufen.

Zu den besonders buchaffinen Milieus zählt vor allem auch die Bürgerliche Mitte, weiter sind zu nennen das sozial-ökologische Milieu, das liberal-intellektuelle Milieu und das Milieu der Performer.

Was verbirgt sich hinter diesen Begriffen?

  • Bürgerliche Mitte: das ist der leistungs- und anpassungsbereite bürgerliche Mainstream, gekennzeichnet durch das Streben nach Sicherheit;
  • Sozialökologisches Milieu: ein konsumkritisches, idealistisches Milieu mit entwickeltem sozialen Gewissen und einer Affinität zur political correctness;
  • Liberal-intellektuelles Milieu: die Bildungselite mit liberaler Grundhaltung, Selbstbestimmung und intellektuelle Interessen sind wichtig, postmaterielle Einstellungen sind verbreitet;
  • Milieu der Performer: die effizienzorientierte Leistungselite mit Avantgarde-Anspruch und hoher IT- und Multi-Media-Kompetenz.

Mit zum Teil großen Abstrichen buchaffin sind das konservativ-etablierte Milieu, das adaptiv-pragmatische Milieu und das expeditive Milieu:

  • konservativ-etabliertes Milieu: das alte klassische Establishment, geprägt von Verantwortungs- und Erfolgsethik;
  • adaptiv-pragmatisches Milieu: die junge Mitte der Gesellschaft: erfolgsorientiert und kompromissbereit, hedonistisch und konventionell, flexibel und sicherheitsorientiert;
  • expeditives Milieu: hyperindividualistisch, mental und geografisch mobil, digital vernetzt, auf Veränderung abonniert

Vereinfacht gesagt: Etwa ein Drittel der Bevölkerung sorgt für den Löwenanteil der Umsätze in der Buchbranche. Für die Verlage heißt das: Sie beobachten in der Hauptsache die vier genannten Milieus, um daraus Rückschlüsse auf buchrelevante Themen zu gewinnen.

Damit schließt sich der Kreis: Wenn die größte Gruppe potentieller Kunden und Leser zerfällt und die größere Hälfte von Abstiegsängsten geplagt wird und sich damit in ihrem Status als Mitte der Gesellschaft bedroht sieht, dann steht zu befürchten, dass nicht wenige dieser Menschen mit einem Rückzug aus den gesellschaftlichen Diskussionszusammenhängen reagieren, dass sie ihren Medienkonsum verändern und unter Umständen sogar einschränken. Diese Menschen werden vor allem Angebote nutzen, die ihre Selbstwahrnehmung widerspiegeln oder ihnen eine zumindest temporäre Flucht aus ihrer bedrohten Lebenswelt ermöglichen.

Kurz gesagt: Entlang dieser Bruchlinie, die die Bürgerliche Mitte in Gewinner und Verlierer teilt, entstehen so offensichtlich disparate Bestseller wie die Apokalypse des Thilo Sarrazin und die Vampirromane einer Stephenie Meyer.

Wobei ich zugestehe, dass die Angst vor dem Fremden auch im konservativ-etablierten, im Milieu der Performer und im adaptiv-pragmatischen Milieu vorhanden ist.

Mit Blick auf das Thema Lebenshilfe verrät uns die Sinus-Analyse, dass es ein weit verbreitetes Bedürfnis nach Sinnstiftung gibt, dass die Menschen – auch in den buchaffinen Milieus – Veränderungen erleben, die eine Neuorientierung notwendig machen, dass selbst auf Seiten der Modernisierungsgewinner der Beratungsbedarf steigt, denn der neu gewonnene Gestaltungsrahmen soll ja möglichst kreativ genutzt werden.

Alles in allem ergibt diese Perspektive ein unerwartet eindeutiges Bild:

  • Die derzeitigen gesellschaftlichen Veränderungen schaffen eine Nachfrage nach Lebenshilfe in bestimmten Milieus.
  • Die Verlage reagieren darauf mit entsprechenden Angeboten.
  • Je unübersichtlicher die Problemlagen sind, desto größer ist das Angebot der Verlage.
  • Und je länger dieser Trend anhält, um so eher gelingt es den Verlagen, den Trend mit immer neuen Themen und Titeln zu verstärken.

Ausgehend von diesem Befund lautet die anschließende Frage: Hat der qualitative Wandel gesellschaftlicher Strukturen tatsächlich eine quantitative Entsprechung im Buchmarkt? Anders gefragt: Wie sieht es denn mit den Größenverhältnissen aus? Rechtfertigt der Absatz von Lebenshilfebüchern die Annahme, dass wir es hier mit einem Boom zu tun haben?

Beginnen wir mit dem Zahlenspiel ganz allgemein: Der derzeitige Jahresumsatz des deutschen Buchmarktes liegt bei rund 10 Milliarden. Zum Vergleich: Der Jahresumsatz von Aldi – Aldi Süd und Aldi Nord zusammen – liegt bei rund 24 Milliarden Euro. In Worten: Der Jahresumsatz von Aldi ist etwa zweieinhalb mal so hoch wie der Jahresumsatz der gesamten deutschen Buchbranche: Dazu zählen Ketten wie Thalia und Hugendubel, Versender wie Amazon und Weltbild, die kleine Buchhandlung um die Ecke, der Ständer im Baumarkt und der Restecontainer im Supermarkt.

Die genannten Umsätze lassen sich auf die Verkaufsstellen umrechnen; für unsere Frage viel entscheidender ist die Verteilung auf die Genres. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der auch Veranstalter der Frankfurter Buchmesse ist, gibt regelmäßig einen Branchen-Monitor Buch heraus. In der Ausgabe vom Juli 2010 war zu lesen, dass der Barumsatz im Bereich Ratgeber gegenüber dem gleichen Vorjahresmonat um 7,2 Prozent zurückgegangen ist. Im Vorjahr hatte der Rückgang gegenüber 2008 sogar rund 8 Prozent betragen. Also doch kein Boom? Weitere Zahlen zeigen, wie berechtigt diese Frage ist.

Das macht einen kleinen Umweg nötig, denn bislang habe ich mit gewissen Begriffsunschärfen operiert und von Ratgebern und Lebenshilfebüchern gesprochen. Diese Begriffe sind für die Verlage nicht deckungsgleich. Warum? Seit 1997 wird im deutschen Buchhandel mit einer sogenannten Warengruppensystematik gearbeitet. Der Zweck ist kurz gesagt folgender:

Die Warengruppen stellen sicher, dass ein Buch seinen Weg in das richtige Regal einer Buchhandlung findet. Und wer legt die Warengruppe eines Buches fest? Das sind die Verlage. Sie tun das, lange bevor das Buch auf dem Markt ist, und sie tun das, weil nur sie zu diesem Zeitpunkt wissen, was in diesem Buch stehen wird, welche Zielgruppe damit angesprochen werden soll und wie das Produkt verpackt und angeboten werden soll.

Die Warengruppe besteht aus einer vierstelligen Ziffer: Die erste Zahl gibt an, in welcher Editionsform das Produkt erscheinen wird: als Hardcover, als Taschenbuch, als DVD, als CD-Rom, als Kalender, als Karte oder als sogenanntes Nonbook – das spielt im Bereich des Geschenkbuchs eine zunehmend wichtigere Rolle.

Die zweite Zahl gibt an, zu welcher Hauptwarengruppe das Produkt gehört:

1 = Belletristik
2 = Kinder- und Jugendbuch
3 = Reise
4 = Ratgeber
5 = Geisteswissenschaften, Kunst und Musik
6 = Naturwissenschaften, Medizin, Informatik, Technik
7 = Sozialwissenschaften, Recht und Wirtschaft
8 = Schule und Lernen
9 = Sachbuch

Diese Systematik wurde unter anderem geschaffen, um Ratgeber, Sachbücher und Fachbücher voneinander abzugrenzen:

  • Ratgeber gehören zu WG 4 und sind definiert als handlungs- oder nutzenorientierte Bücher für den privaten Bereich.
  • Sachbücher gehören zu WG 9 und sind definiert als Bücher mit primär privatem Nutzwert.
  • Fachbücher gehören zu den WG 5, 6 und 7 und sind definiert als handlungs- bzw. wissensorientierte Bücher mit primär beruflichem oder akademischem Nutzwert.

Wir haben es in unserem Kontext mit Büchern der Hauptwarengruppe 4 = Ratgeber zu tun. Auf einzelne Ausnahmen komme ich noch zu sprechen. Innerhalb jeder Hauptwarengruppe sind nun die Warengruppen bezeichnet, angezeigt durch die dritte und vierte Zahl der vierstelligen Ziffer. Für die Hauptwarengruppe 4 sind dies:

410 Hobby und Haus
420 Natur
430 Fahrzeuge
440 Sport
450 Essen und Trinken
460 Gesundheit
470 Spiritualität
480 Lebenshilfe, Alltag
490 Recht, Beruf, Finanzen

Für unsere Fragestellung ist allein das Themenfeld 480 = Lebenshilfe von Bedeutung. Dieses Themenfeld gliedert sich ebenfalls noch einmal auf in 5 Bereiche.

481 Lebensführung, persönliche Entwicklung
483 Partnerschaft, Sexualität
484 Familie
485 Praktische Anleitungen
486 Adress-, Telefon- und Kursbücher

Wenn wir vom Boom der Ratgeber sprechen, dann meinen wir die Bücher aus der Warengruppe 481. Es geht hier um Bücher über Positives Denken, NLP, Selbstmanagement, Erfolg, Angst, Krisen, Konflikte, Trauer.

Die Warengruppensystematik ermöglicht nicht nur allen Beteiligten die richtige thematische Zuordnung eines Buches, sondern kann auch zur Verkaufsanalyse eingesetzt werden. Hier endet nun der kleine Umweg – wir kommen wieder auf die Hauptstraße und fragen nach der Umsatzentwicklung einzelner Titel und ganzer Warengruppen auf der Basis von Media-Control-Daten.

In der Kalenderwoche 38 des Jahres 2010 hat der Buchhandel von den 100 meistverkauften Titeln der Warengruppe 481 rund 95.000 Bücher zu einem Durchschnittspreis von rund 12,00 Euro verkauft – das ergab einen Gesamtumsatz von gut 1.100.000 Euro.

Der Vergleichswert für die WG 926 – das ist Christliche Religion – beläuft sich auf 134.000 Euro. In Worten: Mit Büchern zum Thema Lebenshilfe wird etwa neun Mal soviel Umsatz gemacht wie mit Büchern aus dem Bereich Christliche Religion.

Im Vergleich mit sehr populären Genres sind die Zahlen bei weitem nicht so gut. Im Genre Krimis und Thriller wurden im Vergleichszeitrum rund 500.000 Bücher verkauft; Gesamtumsatz: gut 5,5 Millionen Euro. Merke: Krimis bringen rund 5 Mal mehr Umsatz als Lebenshilfebücher.

Und schließlich die Königsklasse: die Gegenwartsliteratur ab 1945. Mit Büchern dieses Genres wurden im selben Zeitraum knapp 8 Millionen Euro umgesetzt.

Diese Zahlen machen deutlich: Lebenshilfebücher sind wesentlich gefragter als Bücher aus der WG Christliche Religion, bringen aber bei weitem nicht die Umsätze wie die Titel aus den starken Warengruppen der Belletristik. Ich erinnere an die Umsatzrückgänge bei den Ratgebern und frage, ob wir angesichts dieser Zahlen wirklich von einem Boom sprechen können …

Betrachten wir, wie sich die Verteilung innerhalb der WG 481 gestaltet. Konkret: Wie verteilen sich die Umsätze auf die einzelnen Titel? Wir bleiben in der KW 38. Damals haben nur 9 der 100 bestverkauften Titel einen Umsatz von mehr als 10.000 Euro geschafft. Das machte in der Summe dieser 9 Titel knapp 260.000 Euro oder rund 22 Prozent des Gesamtumsatzes. Allein der führende Titel dieser WG erzielte einen Umsatz von gut 91.000 Euro. Das ist immerhin ein Anteil von 7,6 Prozent am Gesamtumsatz der Warengruppe.

Welche konkreten erfolgreichen Titel verbergen sich in dieser Warengruppe? Zu nennen sind hier Margot Käßmanns In der Mitte des Lebens und Rhonda Byrne mit ihren Titel Secret. Ein weiterer Star in diesem Segment ist Tiki Küstenmacher und sein Simplify your Life. Hier ist in besonderer Weise die Zahl der Derivatprodukte bemerkenswert. Neben der Hardcover-Ausgabe gibt es auch eine Taschenbuch-Ausgabe; daneben gibt es Audio-CDs sowie die Ableger Küche, Keller, Kleiderschrank entspannt im Griff sowie Mit Kindern einfacher und glücklicher leben – alles unter dem Motto Simplify your Life. Außerdem gibt es Simplify your Time, Simplify your Love und bei Pattloch im vergangenen Jahr erschienen: Biblify your Life. Zusammengenommen erreichen all diese Titel eine Auflage von vielen hunderttausend und laufen unvermindert gut.

Weitere große Name in diesem Bereich sind Eva-Maria Zurhorst mit ihren Liebe dich selbst-Titeln sowie Sabine Asgodom, bekannt geworden vor allem durch den Titel Lebe wild und unersättlich. Nicht fehlen darf in einer solchen Aufzählung Dale Carnegie – einer der Urväter dieses Genres. Sorge dich nicht, lebe! ruft er seit April 2003 seinen Lesern zu und hatte damit hunderttausendfach Erfolg. Der Schauspieler Pierre Franckh ist Spezialist fürs Wünschen; sein Topseller ist der Titel Erfolgreich wünschen.

Zwei große Namen fehlen in dieser Aufzählung: Anselm Grün, dessen Titel meist in der Warengruppe Christliche Religion zu finden sind, und der Glücklichmacher Eckart von Hirschhausen, dessen Erfolgstitel der Warengruppe Humor, Satire, Kabarett zugeordnet sind. Beide Autoren leisten mit ihren Büchern Lebenshilfe – auch wenn sie nicht unter diesem Diktum verkauft werden.

Ich möchte noch kurz bei dieser „verdeckten“ Art der Lebenshilfe bleiben und zwei weitere Gruppen von Büchern vorstellen, die ich im weiteren Sinn auch als Lebenshilfe-Titel bezeichne.

Da gibt es zum einen Titel aus der Belletristik, die dem Thema Sinnsuche zuzurechnen sind. Hierzu gehören Autoren wie Paulo Coelho, Francois Lelord mit seinen Hector-Büchern und natürlich auch Elizabeth Gilbert mit ihrem Eat, Pray, Love und vor allem auch Hape Kerkelings Ich bin dann mal weg. Diese Bücher sind hundertausendfach verkauft worden.

Der Großteil dieser Autoren und Bücher wird von Frauen gelesen. Es gibt aber auch die Lebenshilfe für den Mann – genauer gesagt für Manager und alle, die es werden wollen oder sich schon dafür halten.

Vor gut 10 Jahren brachte Spencer Johnson mit seiner Mäuse-Strategie den Stein ins Rollen, es folgten Titel wie Das Pinguin-Prinzip oder neuerdings Zwerge versetzen Berge. Der Phantasie, so scheint es, sind hier keine Grenzen gesetzt – die Geschichte folgt immer dem gleichen Muster: Es geht um die Bereitschaft zur Veränderung. Change-Management heißt das Schlagwort, das auch für Freizeit und Familie mehr Lebensgenuss verspricht. Die Mäuse-Strategie und das Pinguin-Prinzip sind bereits Bestseller, die Zwerge warten noch darauf. Sinnsuche und Orientierung, das zeigen diese Beispiele, finden heute nicht mehr allein in der Ratgeber-Literatur statt, sondern haben sich andere Genres erobert.

Es bleibt festzuhalten: Was wir als Boom der Lebenshilfe-Bücher wahrnehmen, ist der große Erfolg von vergleichsweise wenigen sehr erfolgreichen Titeln und Autoren, die über große Zeiträume hinweg die Bestseller-Listen beherrschen. Dazu kommt, dass Lebenshilfe heute in sehr unterschiedlichen Genres vermittelt wird. Neben den klassischen Lebenshilfe-Ratgebern sind es biographische Berichte, belletristische Parabeln und Gleichnisse sowie eine spezielle Form von Wirtschaftsbüchern.

Damit komme ich zu einem entscheidenden Punkt; es ist der Blick auf die Angebotsseite: Was bedeutet aus Sicht der Verlage der Erfolg bestimmter Bücher?

Die Bestsellerlisten haben dazu geführt, dass Presse und Buchhandel den Top-Titeln besondere Aufmerksamkeit schenken. In vielen Buchhandlungen gibt es mittlerweile an prominenter Stelle ein Bestseller-Regal oder einen Tisch mit den Bestseller-Titeln, die dort als Stapelware präsentiert werden. Diese Art der Präsentation garantiert hohe Abverkaufszahlen. Die Verlage sehen dies mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Das lachende freut sich über hohe Umsätze – und das weinende beklagt, das der große Rest der Bücher unter Aufmerksamkeitsdefiziten leidet.

Da die Verlage Bestseller-Titel brauchen, um als erfolgreicher Verlag wahrgenommen zu werden, werden in den Presse-, Marketing- und Vertriebsabteilungen die Ressourcen mehr und mehr hin zu den Spitzentiteln verschoben - mit dem Ergebnis, dass für die sogenannten Midlist-Titel kaum noch etwas übrig bleibt. Diese Konzentrationsbewegung ist einer der Gründe, warum wir angesichts eines nahezu unüberschaubaren Angebots letztlich doch nur über einige wenige Erfolgstitel reden. Gibt es davon mehrere in einem Genre, drängt sich der Eindruck auf, hier erlebe man gerade einen Boom.

Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Tatsache, dass Erfolgsautoren einen Medien-Mix bedienen, der zu einer allgegenwärtigen Präsenz führt und die einzelnen Bereiche wechselseitig stärkt. Auf Seiten der Autoren setzt das voraus, dass sie in der Lage sind, solch einen Medien-Mix zu bedienen.

Wer gut schreibt, dazu noch gut redet, eine angenehme Stimme hat, passabel aussieht und sich vor einer Kamera präsentieren kann, hat das Zeug zum Bestseller-Autor. Drunter geht es nicht mehr. Und so finden wir heute ganze Produktwelten – gerade im Bereich Lebenshilfe. Der Beratungsbedarf, den die Leser einfordern, kann hier in besonderer Weise variiert werden durch besondere Produktformen. Wem das Buch, die CD, die DVD nicht mehr genügt, hat die Möglichkeit, den Autor im Rahmen eines Seminars oder Vortrags auch live zu erleben. Das Buch jedenfalls ist in einem solchen Zusammenhang nur noch ein Mosaikstein im Gesamtbild des Erfolgs.

Als Fazit bleibt die Erkenntnis, dass der vermutete Boom der Lebenshilfebücher aus wenigen Titeln erfolgreicher Bestseller-Autoren besteht. Deren Erfolg beruht auf einer kreativen Vermarktung, die ihrerseits auf eine weit verbreitete Unsicherheit und Orientierungslosigkeit bei den Angehörigen buchaffiner sozialer Milieus aufbaut.


* Der Text basiert auf einem Vortrag, den der Autor im Rahmen der von der Evangelische Akademie der Nordelbischen Kirche und der Europäischen Akademie Schleswig-Holstein veranstalteten Tagung zum Thema „Auf der Suche nach der verlorenen Orientierung. Der Boom der Ratgeber zwischen Trivialität und Lebenshilfe“ am 23. Oktober 2010 in Sankelmark gehalten hat.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/70/jb1.htm
© Jürgen Bolz, 2011