Den Schrecken im Gedicht benennen

Erich Frieds Vietnam-Poesie und die neueste Erforschung der Vietnamkriegsführung

Hans-Jürgen Benedict

Jetzt im Rückblick werden die 68er viel gescholten: Der romantische Rückfall. Der Traum vom neuen Menschen. Zurück zu Rousseau, fieberhafte größenwahnsinnige Befreiungsträume, die in Sektiererei und Gewalt endeten. Die eschatologische Haltung, die eine Weltrevolution ausgehend von der Dritten Welt erhoffte. Die unverantwortlichen Parolen wie „Schafft zwei, drei viele Vietnam“, der Kampf in den Metropolen usw. Richtig, daran war vieles überzogen; es war revolutionäre Rhetorik, an der viele sich selbst berauschten. Und richtig auch - im Nachhinein weiß man vieles besser, im unmittelbaren Handeln bleibt manches verdeckt, aus dem heraus man agierte. Die Befreiungsträume hatten bei einigen Protagonisten zuweilen wahnhafte Züge. Davon ausnehmen möchte ich das engere Aktionsfeld des öffentlichen und literarischen Protests gegen den Vietnamkrieg als einem Versuch der Schutzmacht USA, ein korruptes Regime in Südostasien am Leben zu erhalten. Im Nachhinein muss man sagen, dass die uns zum Protest herausfordernde Kriegsführung noch viel schlimmer war, als wir es damals wussten und darstellten. Das hat die Untersuchung von B. Greiner Krieg ohne Fronten gezeigt. Diese Proteste waren, was immer die andere Seite, sprich der Vietcong und die nordvietnamesische Führung, an Kriegsverbrechen beging, auf jeden Fall berechtigt und sinnvoll. Auch und gerade im Blick zurück ist es so.

Ich möchte den Blick lenken auf die poetische Dimension dieser Jahre. Der Protest fand seinen Widerhall in Gedichten. Poetische Texte waren manchmal Vorläufer, oft Begleiter der politischen Aktivitäten der 68er Bewegung, manchmal waren die Poeten Propheten. Propheten sind nicht die, die etwas voraussagen, sondern die etwas genauer sehen als ihre Zeitgenossen, die etwas leidempfindlicher als der Durchschnittsbürger sind und das auch ausdrücken können. Sie sehen die Leiden der Schwachen und Hilflosen. Sie klagen an, dass aufgrund des Verhaltens von einzelnen oder einem Volk die Menschlichkeit mit Füßen getreten und ein Unrecht begangen wird. Aber die Untaten schlagen auf die Täter zurück. Ein Volk verliert seine Würde, sein Ansehen.

undVietnamund unter diesem Titel publiziert Erich Fried bereits im Jahr 1966(!) 41 Gedichte / Texte mit einer Vietnam-Chronik. Zur Zeit seiner Veröffentlichung fast ein Skandal - wegen der Anklage gegen die Schutzmacht USA und wegen seiner Form. Auf einmal traut sich ein Dichter, ein Lyriker, dem Grauen eines angeblich für die Freiheit geführten unerklärten Krieges in einem Land fernab irgendwo in Asien zuzuwenden, ein Krieg geführt von der westdeutschen Schutzmacht USA, die angeblich überall auf der Welt die Freiheit verteidigt, in Berlin auf friedliche und in Vietnam auf – bestialische Weise.

Erich Fried wurde 1921 in Wien als Sohn jüdischer Eltern geboren. Zu schreiben begann er schon als Gymnasiast. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen 1938 gründete er in Wien eine Widerstandsgruppe. Nach dem Tod seines Vaters infolge eines Gestapoverhörs emigrierte er nach London. Zeitgleich mit ersten literarischen Versuchen gründete er die Emigrantenjugend; es gelang ihm 73 Verfolgte zu retten. Glühende Menschenliebe und Kampf gegen Unterdrückung zeichnen ihn aus. Die ersten Gedichtbände wurden 1944 und 1945 veröffentlicht. Er hoffte, „Kunst und Menschlichkeit helfen viel überwinden, vielleicht.“ In den fünfziger Jahren bekam er Kontakt zur Gruppe 47. Vorbilder und Lehrmeister waren ihm außer der Bibel Brecht, Rimbaud, Kalmer und Viertel. Mit den Warngedichten 1964 fand er den ihrer Radikalität entsprechenden Ton. Freie Verse, orchestrischer Rhythmus, das Sagen, sprich Vortragen - aus freien Strophen entwickeln sich Spruch, Epigramm, Rätsel, Ballade, Legende, Lied. Die politische Lyrik führte ihm die aufbegehrenden Jugendlichen und kritische Intelligenz zu; seine Liebesgedichte (1979) wurden ein Bestseller. Zu Lebzeiten war er umstritten. Einen „Verzweiflungsneurotiker“ nannte ihn Theo Sommer, Reich-Ranicki sprach von vielen missratenen und peinlichen Gedichten und nannte ihn doch nach seinem Tod einen der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker nach 1945. Er dichtete, wie er lebte, radikal und leidenschaftlich und machte aus seinen Ängsten vor Einsamkeit, Alter und Tod keinen Hehl. Dies Ineinander von Intellektualität, Moralismus und Melancholie machte ihn für die nachdenklicheren unter den Protestierenden zu einem poetischen Mentor.

Peter Rühmkorf schrieb 1966: „Wo die Welt des Günter Grass ihre Grenzen hat, (sein Diktum „Vietnam sei ein unverbindliches Utopia“ verrate ideologische Kurzsichtigkeit), die politische Heimatkunde betreibt, als gäbe es keine atlantischen Interessensverflechtungen“, da fängt Fried an. „Mit methodischem Bedacht deckt er an einem scheinbar exotischen Thema die heimatkundlichen Aspekte auf. Entweder, so lehren uns Frieds Vers für Vers folgernde, Schicht um Schicht durch den Abraum der Kriegsberichterstattung sich fragende Gedichte, tilgen wir endlich ein restlos kompromittiertes Vertrauensschema aus unseren Sicherheitsvorstellungen oder räumen mit dem gebotenen Zynismus ein, dass unsere Rechnung aufgeht wie die Städte Vietnams in Flammen.“[1] Der Poet leistet Entschleierungsarbeit, weil er von Berufs wegen etwas zur Sprache bringt, „weil er ein Fachmann für Sprache ist“, als solcher „ein Fachmann für Lügen“. Der Poet hat keine besonderen Informationsmittel, aber „wo er seinen Platz vor Fernseher und Radio als Beobachterstand auffasst, da scheint mir, kann die Welt noch einmal ganz in seine Kompetenz fallen“.

Fried suchte politische Wahrheit an sprachlicher Unwahrheit und gezielten Lügen aufzudecken. Seine meist reimlosen Verse berichtigten Kommentare oder kommentierten Berichte; zuweilen stellt er ihnen ein Motto voran, belegte verwendete Zitate durch Anmerkung, Quellenhinweis oder Dokumentation.[2] So diesen Text unter der Überschrift 17.-22. Mai 1966

„Aus Da Nang / wurde fünf Tage hindurch / täglich berichtet / Gelegentlich einzelne Schüsse. Am sechsten Tag wurde berichtet: / In den Kämpfen der letzten fünf Tage / In Da Nang / Bisher etwa tausend Opfer.“[3]

Fried nimmt die ungeheuerlichen Nachrichten von dem fernen Kriegsschauplatz, die hier nur unter antikommunistischem Vorzeichen gelesen und beiseite gelegt werden, liest sie neu und zeigt den Zynismus und die Menschenverachtung der US-Kriegsführung, zeigt die zivilen Opfer als Menschen, als wehrlose Kinder, Frauen, Greise, denen brutal ihr Leben genommen wird. Die auf geballte Feuerkraft und Massenbombardierung setzende Kriegsführung (es fielen in Vietnam mehr Bomben als im 2.Weltkrieg) wird in ihrem Zynismus enthüllt. Was da anders ist als in bisherigen Kriegen, das versucht das erste Gedicht, eine Art Vorspruch, zu erfassen. (363f)

Das Land liegt sieben Fußtritte / Und einen Schuß weit / seine südliche Hälfte / heißt Demokratie / In ihrer Hauptstadt Sodom / regiert ein Soldat der Mein Kampf lernt(...)

Fleisch wird zubereitet / auf zweierlei Art / Entweder langsam mit Napalm / oder schnell mit Benzin / Letzteres gilt als barbarisch / ersteres nicht(…)

Man fährt durch die Bucht der Schweine / ohne Umweg zu den Bordellen / Die Mädchen sind zierlich / und ihre Särge leicht zu tragen(…)

Wenn man die Augen zu macht /und völlig stillsitzt / kann man von weitem sehen / was in dem Land geschieht.

Archaisches Modell ist der Kindermord von Bethlehem. So heißt es in Richtigstellung(370):

„Die Roten missbrauchen den Krieg / um uns anzuschwärzen / wir wären wie König Herodes / besonders auf Kindermord aus. / In Wahrheit töten wir Kinder überaus ungern / wir ziehen es vor ihr Väter und Mütter zu töten“. Es geschähe nur per Zufall oder im Familienverband.

Es geht Fried darum, ein Umdenken einzuleiten, mittels dichterischer Sprache deutlich zu machen, dass der Krieg in Fernost den Einzelnen unbedingt angeht, dass er ein Unrecht darstellt, das mit deutscher Politik zu tun hat. So in Gleichheit, Brüderlichkeit (392).

Vietnam ist Deutschland,
Sein Schicksal ist unser Schicksal
Die Bomben für seine Freiheit
Sind Bomben für unsere Freiheit.

Fried dekliniert die Gleichung „Vietnam ist Deutschland“ konsequent durch (Bundeskanzler Erhard ist Marschall Ky, Saigon ist Bonn usw). Das wirkt sarkastisch, wenn er mit Goethes Erlkönig als Subtext von der Wirkung des Napalms spricht:

„In Vietnam … schützt man mit Notstandsgesetzen / die Kinder und Mütter / fasst sie sicher und hält sie warm / und erhält in ihnen ein brennendes Wissen lebendig(…)“

Lakonisch, beiläufig, in gedrängten kurzen Sätzen berichtet der Dichter von den Gräueln dieses Kriegs, in dem er bissig die Rechtfertigungen und Zynismen destruiert, das Heuchlerische aufspitzt. So hatten zum vietnamesischen Fest der Kinder US-Flugzeuge Spielzeug abgeworfen auf Dörfer, in denen ihre Bomben kurz zuvor noch Kinder getötet hatten:

„Hätte das Flugzeug / lieber vor vierzehn Tagen / Spielzeug heruntergeworfen und jetzt erst die Bomben / hätten meine Kinder / noch vierzehn Tage / durch eure Güte / etwas zum Spielen gehabt.“ (Gezieltes Spielzeug 371)

Im Nachhinein muss man sagen, dass Frieds Gedichte das Verbrecherische an der Kriegsführung der USA gegen die Zivilisten in Vietnam noch zu harmlos darstellen. Er wusste noch nichts von den Todesschwadronen in den nördlichen Provinzen 1967, von dem Massaker von My Lai am 16. März 1968, dem 420 Zivilisten zum Opfer fielen, von Skalpjägern, von dem Abnutzungskrieg in den Jahren 1968 bis 1971; in der Aktion „Speedy Express“ gab es 11000 Tote, aber nur 750 Waffen wurden erbeutet. All das und seine spätere Aufklärung (My Lai wurde erst im November 1969 bekannt, der Kriegsgerichtsprozess war 1971, in diesem Jahr berichteten ehemalige Vietnam-Kämpfer die so genannten „Winter Soldiers“ über ihre Beteiligung an Kriegsverbrechen) war noch Zukunft. Doch Fried bringt aus den spärlichen Berichten der Presse über die brutale „Search and destroy“-Kriegsführung und die massiven Bombardements bereits auf den Begriff, dass die demokratische Schutzmacht USA alle Standards einer zivilen Kriegsführung aufgegeben hatte und ihre jungen Männer, Schwarze, Weiße, Latinos, zu wahllos tötenden Kampfmaschinen und Massenmördern machte. Was Martin Luther King in seiner berühmten Anti-Vietnam-Rede in der Riverside Church im April 1967 so gefasst hatte, ist durch die neuere Forschung bestätigt worden. King sagte damals:

„Wir sehen unsere jungen Männer, Neger und Weiße, in brutaler Solidarität die Hütten eines armen Dorfes niederbrennen, aber es ist uns klar ,dass sie niemals in dem gleichen Häuserblock in Detroit wohnen würden (…) mein Land, der größte Gewaltausüber in der heutigen Welt (…) Sprechen für die, die keine Stimme haben, für die Bauern in Südvietnam, die deportiert werden; sie wissen, sie müssen sich deportieren lassen, wenn sie nicht unter unseren Bomben umkommen wollen – vor allem Frauen, Kinder, Alte (…) was denken sie, wenn wir unsere neuesten Waffen an ihnen ausprobieren, genauso wie die Deutschen neue medizinische Behandlungsmethoden und neue Foltereien in den KZ Europas erprobten.“[4]

„Vietnam war an seinem Geruch erkennbar. Dem Geruch. Du hast das Napalm gerochen, und du hast den Geruch verbrannten Menschenfleisches in der Nase gehabt. Nur Vietnam riecht so.“ (Unbekannter US-Soldat) Das Fazit von B. Greiners Studie Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam[5] lautet: Asymmetrische Kriege sind von Großmächten nicht zu gewinnen. Das ist die Erfahrung der Nachkriegszeit, der Franzosen in Indochina, der Amerikaner in Vietnam, Portugals in Mozambique, auch jetzt der USA im Irak und Afghanistan usw. Ein an Bewaffnung dramatisch unterlegener Gegner macht sich seine Kenntnis des Landes zu eigen, den Hass auf die Kolonialmacht, die Opferbereitschaft der Kämpfer.

Der Vietnamkrieg war ein Krieg, der mit einer Lüge begann und mittels fortgesetzter Lügen in die Länge gezogen wurde; er war weder aus der Luft noch am Boden zu gewinnen, egal, wie viel zusätzliche Truppen ins Feld geschickt wurden. Er war von Kriegsgräueln und Kriegsverbrechen, von Foltern, Gefangenenmord und Massakern begleitet. Er ging mit einer faktischen Aufhebung des internationalen Kriegsrechts einher und wurde trotz des Wissens um die Unerreichbarkeit seiner Ziele von den Präsidenten Johnson und Nixon Jahr um Jahr fortgesetzt. Wie viel Gräueltaten in Vietnam begangen wurden, wird sich nie beantworten lassen. Deutlich wird durch Greiners Untersuchung allerdings, dass sie keineswegs Ausnahmen waren und mitnichten nur auf das Konto vereinzelter Exzesstäter gingen.

Der Hamburger Historiker macht aufgrund genauer Auswertung der seit 1994 zugänglichen Kriegsverbrechen-Akten deutlich, wie Absicht und Zufall, Planung und Unvorhersehbares zusammenwirkten und zu einer Radikalisierung kriegerischer Gewalt führten – wie aus regulären Verbänden marodierende Söldnerhaufen wurden, wie Routineeinsätze in Massakern endeten. Die Schutzmacht der westlichen Welt, die Deutschland vom Faschismus befreit hatte, übernahm die Praktiken eines an keine Regeln mehr gebundenen Vernichtungskrieges, der 25 Jahre zuvor von der Wehrmacht in Russland durchgeführt worden war. Bezeichnend ist der Ausruf des Hubschrauberpiloten, der das Massaker in My Lai beobachtete: „There is a Nazi thing going on down there.“

Ein Krieg ohne Fronten, dessen Erfolgsparameter für die USA der body count getöteter Gegner, sprich der Vietcong war. Erklärtes Ziel der US-Administration war es, so viele Gegner zu töten, um den breaking point zu erreichen, dass der Gegner diesen verlustreichen Krieg aufgibt. Der Erfolg des Krieges wurde an der Zahl toter Soldaten gemessen. Ziel war eine Optimierung der Bilanz; es wurden Tötungsnormen festgelegt, der erfolgreiche Body count galt als Mittel der Beförderung. Blasphemischer Höhepunkt war das Body Count-Gebet eines Militärgeistlichen. Für die Tötung Schwangerer gab es 10 Punkte extra oder die Empfehlung: „Count it for two“. Eine Einheit hatte Cong-Killer-Aufnäher und verteilte entsprechende Flugblätter. Ein Offizier meinte zur Behandlung von Frauen und Kindern: „Wenn es Nacht wird und sich etwas bewegt, dann war es das eben.“ Es gab Killer-Teams: „Schießt als erste und stellt keine Fragen.“ Ein GI versandte Weihnachtspostkarten mit dem Foto übereinander gestapelter toter Vietcong und dem Gruß: Friede auf Erden. Free Fire Zones wurden eingerichtet wegen Verdachts auf passive und aktive Unterstützung des Vietcong.

Im Vietnam-Krieg wurden 2.865.000 t Bomben abgeworfen; das waren 800.000 t mehr als im 2. Weltkrieg. Es gibt in Vietnam 2 Millionen Bombenkrater.

Niedrigste Schätzungen ergaben, dass 627.000 Zivilisten ihr Leben verloren; insgesamt 60% aller Verluste. Die nordvietnamesische Armee und der Vietcong hatten 444.000 Tote zu beklagen, die USA 56.000 und die Südvietnamesen 226.000, insgesamt 1.353.000 Tote, der höchste Blutzoll aller heißen Kriege. Das heißt Nordvietnam hat zweimal eine Armee verloren. Hätte die US-Armee denselben Blutzoll entrichtet, wären 1 Million US-Soldaten nicht nach Hause gekommen.

Der Terror des Vietcong (den Fried und die damalige Protestbewegung übergingen) war ebenfalls beträchtlich: 37.000 Personen wurden ermordet, 58.000 entführt. Nach der Besetzung Hues wurden 3.000 Südvietnamesen getötet. Beide Seiten bedienten sich ähnlicher Mittel - kalkulierter Terror gegen Unbewaffnete und ihre Lebenswelt. Die brutale Kriegsführung des Vietcong, die unmenschliche Behandlung von Gefangenen darf nicht klein geredet werden, so wie das in Zeiten des Vietnam-Protests doch der Fall war, bis hin zu der unkritischen Glorifizierung des mörderischen Vietcong-Kampfes in der Tet-Offensive auf dem Berliner Vietnam-Kongress 1968. Auch Fried war da auf einem Auge blind.

Im November 1969 begann der Journalist Seymour Hersh das Massaker von My Lai nach Hinweisen auf eigene Faust zu recherchieren. Keine der großen Zeitungen wollte seinen Bericht zunächst abdrucken. Das tat erst der Dispatch News Service, dann wurde Hershs Bericht von der New York Times und von Life nachgedruckt. Danach wurden die „Vietnam War Crimes Working Group“ und die „Peers Commission“ installiert, die das schreckliche Massaker von My Lai dann genau rekonstruierten. Im Kriegsgerichtsprozess 1971 wurden Leutnant Calley und andere verurteilt.

Immerhin einer widersetzte sich dem Morden in My Lai, Hubschrauber-Kommandant Thompson. Einmal hatte er sich abwimmeln lassen, als er Captain Medina beim Töten von Zivilisten beobachtete, beim zweiten mal landete er, als er sah, wie US-Soldaten eine Gruppe von 16 Frauen, alten Männern und Kindern erschießen wollte. Er befahl seinem Bordschützen, die Waffen auf die eigenen Kameraden zu richten, damit sie davon abließen und flog die Gruppe aus. Lt. Calley forderte Unwillige, die es auch gab, zum Töten auf, einige weigerten sich erfolgreich, andere, wie Paul Meadlo, gaben klein bei. Im Reisfeld kam es zu einer von Calley befohlenen Massenexekution von 100 Personen. Am Tag nach dem Massaker trat Paul Meadlo auf eine Mine und verlor seinen linken Fuß. „Das hat Gott mir angetan als Strafe für das, wozu du mich gezwungen hast, “schrie er Calley an, „Gott wird auch dich kriegen.“ (zit 354). Ein Foto zeigt, wie die GIs nach dem Massaker sich ausruhen und Zigaretten rauchten. „Sie saßen lässig da, rauchten, scherzten, ganz so als wäre nichts passiert. 300, 400 Meter entfernt von ihnen lagen 500 bis 600 Leichen: ich habe es einfach nicht verstanden.“ (Thompson, zit 338).

Erschreckend ist bei Greiner nachzulesen, wie aus jungen Männern in kurzer Zeit Mordmaschinen wurden. Wie ist das zu erklären? In einem Krieg ohne Fronten war das Töten tatsächlicher oder angeblicher Gegner vor allem ein Mittel der eigenen Identitätsgewinnung. „Disposable soldier und instant death, Überflüssigkeit und Sekundentod. Um diese Achse kreisen die Erinnerungen der grunts … Der Feind war entweder nicht greifbar oder diktierte das Kampfgeschehen an Orten und Zeitpunkten seiner Wahl, überlegene Bewaffnung brachte keinen Vorteil … allen drohte jederzeit und aus dem Nichts der Tod durch Minen, Sprengfallen; Heckenschützen. ’Do something physical’. Mit diesem Satz machten die GIs die Gewalt gegen Wehrlose als Botschaft an sich selbst kenntlich – als Beglaubigung von Macht mit anderen Mitteln und als Signum soldatischer Präsenz auf imaginierten Schlachtfeldern.“ (Greiner 35) Der heroische Soldat aus der Unterschicht, der sich noch mit den national männlichen Vorbildern identifizierte, erfuhr sich auf einmal als disposable soldier, den man wie ein Ding hin- und herschob. In wenigen Wochen entwickelte er sich zur Kriegsmaschine, zum Berserker, schließlich wie in My Lai sogar zum Massenmörder, dessen Identität nur noch in der Gewaltausübung bestand - auf alles zu schießen. „Ihr werdet in Vietnam getötet werden, wenn ihr nicht tut, was ich euch sage“. Keine Gefangenen machen, zur Abschreckung töten; Gegner verstümmeln.

Diese von Greiner herausgearbeitete Haltung des unterschiedlosen Tötens zwecks Identitätsgewinnung war eine Entwicklung, die auch Fried schon sehen konnte. Für ihn waren die US-Soldaten einerseits gefühllose Mörder (Preislied für einen Freiheitskrieger, 395), andererseits aber auch zweifelnde. So sagt ein Soldat: „Wenn ich weiß, dass ich nicht mehr weiß, wofür ich hier kämpfe.“ (Letzter Brief nach Boston; Gedichte 1,381) Polemisch und sarkastisch ging er mit den militärischen und politisch Verantwortlichen ins Gericht – mit den Generälen (Im Pentagon 390) und mit Präsident Johnson (Pressekonferenz LBJ Frühjahr 1966, Gedichte 1,388; Messung eines Staatsoberhauptes; Neue Rangordnung; Gedichte 1,389). Die eigentlichen Beweggründe der drei US-Präsidenten für das Vietnam-Engagement erfasste er so nicht - zu erinnern ist an die Dominotheorie, an die Frage der Glaubwürdigkeit gegenüber den Kommunisten, an das Konzept imperialer Präsidentschaft. „Es den Kommunisten zeigen, ihnen den Hintern versohlen“ (Johnson) – „wir mussten die Sache durchstehen“ (Nixon). Die „Torheit der Regierenden“ (Tuchman) ist immer schlimmer und banaler, als man denkt.

Fried hat auch in den folgenden Jahren weiter Vietnam-Gedichte geschrieben. Sie sind ähnlich gebaut, aber, wie ich finde, von unterschiedlicher Qualität. In dem Text Aufzählung vermerkt er lapidar die Tötungsfakten, nachdem im November 1969 das Massaker von My Lai bekannt worden war. (Gedichte 2,41) In der Landschaft ( Für die Partisanen der Befreiungsfront in Vietnam) ist eher ein Naturgedicht über das den Partisanen schützende Gras. In seiner bedingungslosen Parteilichkeit unterschlägt Fried die Gräueltaten der Vietcong, idealisiert so ihren Kampf. (Gedichte 1, 507f) Oder: Der Dichter sieht zwei lachende Soldaten in St. Pauli. Er muss dabei zwanghaft an den Oberst Long denken, der lachte, wenn er gefangene Vietcong erschießt. Das wirkt nicht sehr glaubwürdig (Gedichte 1,509). In Mutter in Vietnam (581f) schildert er, ausgehend von der Gleichzeitigkeit der Hochzeit der Präsidententochter Luci in Washington und des Begräbnisses von 14 Kindern, die bei einem Bombenangriff der US-Luftwaffe umkamen, die traurigen Gedanken einer vietnamesischen Mutter. Oder in Urlauber in Saigon: „Denk dir Geliebte / wir liegen in keinem Bett / wir liegen auf kleinen Kindern“ – eben den wimmernden halb verbrannten Kindern von Vietnam. (Gedichte 1, 512) Diese Methode der identifizierenden Parallelisierung von Inkommensurablen, dazu dienend Empörung anzufachen, nutzt sich ab, wirkt propagandistisch.

Obwohl die Vietnam-Texte Zeitgedichte sind, die den tagesaktuellen Bezug eingebüßt haben, haben sie wenig an politischer Brisanz verloren. Bis heute sind die Grundzüge der US-Außenpolitik durch Frieds Text Greuelmärchen und das ihm zugrunde liegende Bild des Menschenfressers treffend charakterisiert: „Der Menschenfresser frißt keinen, der nicht sein Feind ist / Wen er fressen will, den macht er sich zuerst zum Feind.“ (Gedichte 1,385) Bekanntlich hat Dorothee Sölle zur Zeit der Friedensbewegung dies Bild aufgenommen und einen Band mit Texten und Gedichten unter dem Titel Im Haus des Menschenfressers veröffentlicht. Der 2. Irak-Krieg, der 2003 begann, zeigte, wie wenig die USA aus dem Vietnam-Desaster gelernt hatten. Junge Männer, geschickt in ein Land, das sie nicht kannten, entwickelten sich auch hier zu Folterern und Tötungsmaschinen.

Höre Israel, Frieds Gedichtzyklus zum Sechstagekrieg 1967, kurz danach entstanden, aber erst 1974 veröffentlicht, zeigen Fried wieder als einen, der unbequeme Wahrheiten ungeschminkt ausspricht. So sagt er im Vorwort, der „Rollentausch“ nach dem Zusammenbruch des Nazismus (die Siegermächte, aber auch Israel übernahmen Nazi-Methoden) muss bekämpft werden. „So kam ich auch dazu gegen das zu protestieren, was Israelis den Palästinensern und anderen Arabern antun“, zuerst verschlüsselt, 1967 nach dem Sechstagekrieg dann deutlich. „Ihr habt die überlebt / die grausam zu euch waren / Lebt ihre Grausamkeit in euch jetzt weiter?“ Denn kriegsgefangene Ägypter mussten ihre Schuhe ausziehen und wurden in die Wüste geschickt, wo die meisten elendiglich zugrunde gingen. „Wie den Sündenbock habt ihr sie / in die Wüste getrieben / in die große Moschee des Todes / deren Sandalen Sand sind / doch sie nahmen die Sünde nicht an / die ihr ihnen auflegen wolltet. Der Eindruck der nackten Füße / im Wüstensand / überdauert die Spur / eurer Bomben und Panzer“ (Gedichte 2,123) Wenn Fried den Anfang des Glaubensbekenntnisses „Höre Israel“(Dtn 6)zitiert, wenn er auf den Ritus vom Sündenbock verweist, der am Versöhnungstag mit den Sünden des Volkes beladen in die Wüste geschickt wird (Lev 30), so wendet er die jüdische Tradition kritisch gegen die Täter, die eben diese vergessen haben.

Der Ton ähnelt den Buß- und Weherufen der alttestamentlichen Propheten. „Kehrt um, kehrt um“. „Komm Volk Israels, erhebe dich aus deinem Unrecht! Laß ab von dem, was dich zum Gespött der Völker macht.“ (In der Sprache der Alten, Gedichte 2,171) Frieds Israelgedichte sind poetische Erinnerung an die notwendigen(?) Untaten im Überlebenskampf Israels, die so schnell vergessen werden. Die Untaten der anderen Seite spart er insofern aus, als er den Überlebenden des Holocaust eine besondere Ethik zumutet – die Nichtwiederholung der Untaten ihrer früheren Mörder. Dass die Araber 1948 den jungen Staat vernichten wollten, dass Nasser die Israelis ins Meer treiben wollte, das wird nicht erwähnt. Diese besondere Ethik ist vielleicht zuviel verlangt und sie ist doch unbequemes prophetisches Erbe der Deportierten während des babylonischen Exils, die ihren Hass auf die Unterdrücker Gott anheim stellten. Es ist mutig, die Untaten des eigenen Volks nicht zu verschweigen, auch wenn die Kritik von außen kommt, von jemandem, der nicht in Israel lebt. Aber sie geschieht in Verteidigung derer, die im Land ihre Stimme dagegen erheben.[6] Wenn man heute diese Gedichte liest und die Bilder von den Aktionen Israels aus dem Gaza-Krieg vom Dezember 2008, wie sie im UNO-Bericht dokumentiert sind, vor Augen hat (Angriff auf die Schule der Unesco; die Patrouille, die zwei angeschossene junge Palästinenser verbluten lässt vor den Augen ihres Vaters), so ist auch hier die Aktualität Frieds deutlich.

Die Zeit solcher lyrischen Intervention ins Politische scheint vorbei. Auch die Gelegenheit das Private, die Liebe und das Politische so nachvollziehbar engagiert und zärtlich miteinander zu verbinden wie Fried das tat. „sich lieben in einer Zeit in der menschen einander töten, mit immer besseren waffen und einander verhungern lassen. Und wissen daß man wenig dagegen tun kann und versuchen nicht stumpf zu werden und doch sich lieben“ (Gedichte 2,404). Bei einer Preisverleihung schafft es Wolf Biermann noch mit einer poetisch grundierten Attacke (meist zur Verteidigung der USA und Israels) Aufmerksamkeit zu erregen. Es gibt eine hoch artistische junge deutsche Lyrik, aber sie ist eine Angelegenheit von Minderheiten.

Vielleicht ist das auch richtig, denn das gewollte politische Gedicht misslingt meist, auch wenn es ein paar gelungene Gedichte über 1989 gibt wie das von Durs Grünbein.[7] Und so einen wie Fried wird es nicht wieder geben, der das so überzeugend verband. Es war ein besonderer Moment in der deutschen Literatur, ausgelöst durch ein schreckliches Geschehen, den Vietnamkrieg, und daran wollte ich erinnern.

Anmerkungen

[1] P.Rühmkorf, Die Jahre,die ihr kennt, Hamburg 1968, 212f

[2] Übrigens habe ich damals dasselbe versucht durch knappe Kommentare und Analysen der FAZ-Berichterstattung über den Vietnam-Krieg in der Zeitschrift radius

[3] Ich zitiere im folgenden aus E.Fried, und VIETNAM und in:E.Fried;Gesammelte Werke.Gedichte 1,Berlin 1993,363-400

[4] Zit.H.-E. Bahr/ H.-J. Benedict, Hg, Kirchen als Träger der Revolution, Hamburg 1968, 153

[5] B.Greiner, Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburg 2008.

[6] Ich habe 1968 auf einer Reise in den Nahen Osten, Anlass war eine Konferenz des Christlichen Weltstudentenbundes in Beirut, die riesigen Flüchtlingslager der Palästinenser im Libanon und Jordanien gesehen und war erschüttert. In einem Artikel habe ich um Verständnis für die palästinensischen Motive des Widerstands gegen die israelische Besatzungspolitik geworben und bin darauf schnell in dem Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt (von Siegried v. Kortzfleisch) als Antisemit beschimpft worden.

[7] Novembertage, in: H.J. Simm, Hg, Deutsche Gedichte, Frankfurt/M 2001, 1042f

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/69/hjb03.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2011