Das runde Quadrat

Eine Reflexion zur Formel „Explizit religiös“

Andreas Mertin

Die November/Dezember-Ausgabe 135 des Londoner Kunst-Magazins FRIEZE widmete sich dem Thema „Religion & Spirituality[1] – offenkundig ein auch für die aktuelle Kunst interessantes Feld. Nun gibt es grundsätzlich eine angelsächsische Neigung, eher nach dem Spirituellen als nach dem Religiösen zu fragen.[2] Trotzdem ist angesichts der Weigerung bestimmter Leute der Kunstszene (weniger der Künstler, als vielmehr der Kunstvermittler und Kuratoren), sich mit Religion bzw. Kirche zu beschäftigen, der Tatbestand schon einmal interessant.

In der einleitenden Reflexion des Kunstkritikers Dan Fox unter dem Titel „Believe it or Not“ geht es dann auch zentral um Religion bzw. Spiritualität in der zeitgenössischen Kunst.[3] Und seine erste Frage an die Leserinnen und Leser lautet:

„When was the last time you saw an explicitly religious work of contemporary art?“[4]

Viel weiter bin ich in meiner Lektüre des Textes erst einmal nicht gekommen. Ich blieb schon an der Formulierung „explicitly religious work“ hängen. Was ist denn ein explizit religiöses Kunstwerk? Und wann kann man sagen, etwas sei definitiv nicht ein religiöses Kunstwerk? Dan Fox setzt mit seiner Fragestellung zunächst einmal voraus, dass das Antreffen „explizit religiöser Kunstwerke“ in der zeitgenössischen Kunst etwas extrem Seltenes ist, so dass man sich erst einmal vergewissern muss, wann man das letzte Mal eines gesehen hat. Aber wie könnte man die Frage – seriös – beantworten? Ehrlich gesagt, ich habe keinerlei Ahnung, weil ich nicht  weiß, woran man ein „explizit religiöses Kunstwerk“ erkennen können sollte.

Das hat zum einen etwas mit dem vagen „explicitly“ und zum anderen mit dem impliziten Konflikt von „religiös“ und „Kunstwerk“ zu tun. Hier fließen sehr viele Vor-Annahmen in die Betrachtung ein, die geklärt werden müssten, bevor man die gestellte Frage beantworten könnte.

Also stellen wir zunächst einmal ein paar Überlegungen an, woran man wohl „explizite religiöse Kunst“ erkennen könnte:

Die nahe liegende (und kultur- wie kunstgeschichtlich plausibelste) Vermutung wäre natürlich: am Sujet. Und diese Vermutung hat ja auch zwischen dem 5. und dem 18. Jahrhundert weitgehend gestimmt. Aber stimmt sie immer noch? Heute ist die Frage nach dem Sujet, wie nicht zuletzt die zahlreichen Konflikte im angelsächsischen Bereich im letzten Vierteljahrhundert zeigen, durchaus kontrovers. Ist Andres Serranos Werk „Piss Christ“, das ich mit Andrew Hudgins für eines der bedeutsamen Christusbilder dieser Zeit halte, ein „explizit religiöses Werk“? Das scheinbar eindeutige religiöse Sujet legt das nahe. Eine Kreuzigung im Lichte der Auferstehung unter Einbeziehung der Widrigkeiten und Absurditäten der Welt. Aber diese Wahrnehmung hat der Künstler Andres Serrano ganz gewiss so nicht gewollt. Man kann das Bild – mit Hudgins – in diesem Sinne deuten, aber der intentio auctoris entspricht das sicher nicht. Ist es dann aber noch ein „explizit religiöses Werk“? Reicht das Sujet für die Identifizierung? Ordnet sich dieses Bild ein in die lange Reihe der künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Kreuzigung und das auch dann noch, wenn der Künstler gerade kein „explizit religiöses Bild“ schaffen will, sondern ein (zudem höchst ironisches) Bild über Religion?

Das führt zur zweiten Vermutung: erkennbar wird das explizit Religiöse an der Intention des Künstlers. Als theologisch gebildeter Mensch weiß ich aber, dass zwischen dem was jemand will, und dem was er schafft, Welten, um nicht zu sagen Abgründe liegen können. Mit dem Apostel Paulus gesprochen: „Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ (Römer 7) Landauf, landab schaffen Menschen in den christlichen Kirchen Objekte, von denen sie behaupten, dass es sich zumindest ihrer Intention nach um religiöse Werke der zeitgenössischen Kunst handele. Aber ich würde das in nahezu 100% der Fälle energisch bestreiten - entweder fehlt ihnen die Religion oder es fehlt ihnen die Kunst. Keinesfalls machen der Wille oder die Intention eines Künstlers ein Werk schon zu einem religiösen Kunstwerk. Vielleicht ist es statt dessen der religiöse Hintergrund des Künstlers?

Das wäre also die dritte Vermutung: alles liegt an der Confessio bzw. Religio des Künstlers. Es gibt zahlreiche ‚Künstler’, die von dieser Behauptung leben und sich mit ihr von anderen Künstlern abzusetzen suchen. Nur gibt es zahlreiche Werke, die wir vermutlich konsensuell als religiös zu akzeptieren bereit sind, die aber von dezidiert atheistischen Künstlern geschaffen wurden. Insbesondere der französische Katholizismus, wie er von den Dominikanern M.A. Couturier und P. Régamey repräsentiert wird, hat das programmatisch eindrucksvoll bewiesen. Das religiöse Bekenntnis des Künstlers ist offenkundig kein notwendiges Kriterium – und (man muss es klar sagen) in aller Regel auch kein hinreichendes.

Bleibt als vierte Vermutung: die (religiöse) Rezeption: indem ich ein Werk als religiös wahrnehme, wird es zu einem religiösen Werk. Das hat einiges für sich, zerschlägt aber den Begriff der „expliziten“ Religiosität. Religiöse Werke wären dann solche, die von einer ausreichend großen Menge an Kunstbetrachtern als solche (als religiös und als Kunst) erfahren werden. Freilich sind das dann in der Regel keine „explizit“ als religiöse hergestellten Werke. Zwar verhält man sich seit der zweiten Moderne oftmals kultisch zu den zeitgenössischen Kunstwerken, aber nun gerade nicht im traditionellen Sinne religiös. Ich kann mich zumindest mit der Mehrzahl meiner Kollegen kaum darüber einigen, was ein religiöses Kunstwerk sein soll.

Vielleicht ist es aber auch eine Kombination der gerade beschriebenen Faktoren? Gehen wir einmal ein paar Beispiele durch:

Die späten Bilder von Marc Chagall und insbesondere seine Kirchen-Fenster werden sicher von vielen sofort als explizit religiöse Werke genannt werden. Chagall gehört unbestreitbar zu den großen Künstlern des 20. Jahrhunderts und in seinem Werk kommen eine Fülle religiöser Sujets vor. Und es war ihm ein Anliegen, dem Religiösen Ausdruck zu verleihen. Ein religiöser Mensch war er auch. Und unbestreitbar haben seine Werke weltweit eine religiöse Rezeption erfahren. 4:0 für ein „explizit religiöses Werk“? Wirklich? Beschleichen einen hier nicht sofort Zweifel, ob Chagall nicht seine religiöse Rezeption auf Kosten der künstlerischen Durchdringung ermöglicht hat? Gehen nicht gerade jene, die den religiösen Künstler Chagall so preisen, mit seinen Werken um, als seien es Kitschgegenstände? Sicher sagt man, wenn man die Bilder von Chagall sieht, sofort „religiöse Bilder“. Aber sagt man auch: „zeitgenössische Kunst“?

Nehmen wir deshalb als zweites Beispiel Joseph Beuys berühmte Kreuzigung aus der Stuttgarter Staatsgalerie, inzwischen zum Lieblingsobjekt selbst konservativer katholischer Kardinäle geworden. Das Sujet ist (beinahe) eindeutig christlich, die Intention ist sicher die einer künstlerischen Intervention zu einer religiösen Frage, die Confessio des Künstlers ist sehr breit, aber eher anthroposophisch, die religiöse Rezeption hat diese Arbeit zu einem Werk des 20. Jahrhunderts gemacht, das am häufigsten explizit religiös genannt wird. Nun ist auch dieses Werk schon beinahe 50 Jahre alt und könnte daher aus der Fragestellung „zeitgenössische Kunst“ herausfallen. Trotzdem ist es ein für die Fragestellung besonders geeignetes Reflexionsobjekt, denn wenn man ihm so in der Stuttgarter Staatsgalerie begegnet ist, dann fragte man sich sofort, was daran den religiös sein soll. Es ist inzwischen ein (künstlerisches) Kultobjekt, aber religiös? Wie müsste der Umgang mit dem Beuys’schen Objekt sein, damit man es zutreffend als „explizit religiöses Werk“ bezeichnen könnte? Dürfte es dann als ästhetisches Anschauungsobjekt in der Wand eines Museums stecken? Ich bezweifle es.

Nehmen wir als nächstes Beispiel die Bilder des tschechischen Künstlers Jan Knap. Insofern Jan Knap das ikonographische Motiv der Ausgestaltung von Familienszenen während der so genannten Ruhe auf der Flucht nach Ägypten aufgreift, kann man ohne Zweifel von einem religiösen Sujet sprechen. Intentional geht es dem Künstler gerade darum, im Durchgang und nach der Kunst der Moderne wieder schöne, wahre und gute Bilder zu malen, weshalb er eben explizit religiöse Bilder malt. Die Intention trifft hier also auch zu. Als Maler hat sich Jan Knap zudem zumindest temporär entschlossen, katholischer Priester zu werden. Das sollte für die Confessio reichen. Bleibt die Frage, ob es eine Rezeption gibt, die bereit ist, seine Bilder eben nicht nur als Ironie, sondern als religiöse Kunst zu lesen. Da bin ich etwas im Zweifel. Anders als noch vor gut 20 Jahren[5] würde ich heute Knaps Werk als für durchaus bedeutsam und bedenkenswert halten, glaube aber nicht, dass es uns zu explizit religiösen Reaktionen herausfordert. Es lässt uns vielmehr ästhetisch über Religion nachdenken.

Nehmen wir als abschließendes Beispiel Markus Lüpertz. Bei der Mehrzahl seiner Arbeiten ist das Sujet natürlich nicht religiös. Aber Lüpertz fertigt eben auch „explizit religiöse Werke“ im Sinne des Sujets, z.B. die Makkabäer-Fenster für St. Andreas in Köln. Und er möchte dabei auch religiöse Kunst  schaffen. Und seine Konfession ist mit der Konversion zur katholischen Kirche Mitte der 80er-Jahre eindeutig. Und soweit ich es vor Ort beobachten konnte, gab es an der religiösen Adaptionsfähigkeit seiner Bilder keinen Zweifel. Lüpertz meint aber meines Erachtens, die „explizit religiöse“ Konnotation seiner Fenster nur unter der Aufgabe der Moderne und dem Anschluss an die Tradition schaffen zu können. Wenn ich dann vor ihnen stehe merke ich das, das heißt, ich stehe eben nicht vor Werken der zeitgenössischen Kunst, sondern nur vor Arbeiten eines zeitgenössischen Künstlers.

Was lernen wir daraus? Zunächst einmal vielleicht nur dies, dass es gar nicht so leicht ist, auf den ersten Satz von Dan Fox eine Antwort zu finden. Spontan möchte man auf seine Frage „When was the last time you saw an explicitly religious work of contemporary art?“ antworten, gerade eben noch. Man geht schließlich auf Veranstaltungen wie die Biennale in Venedig, die documenta in Kassel oder auch eine der zahlreichen Kunstmessen, und sieht andauernd so etwas wie ein „religious work of contemporary art“. Aber wenn man sich dann fragt, was denn daran „explicitly religious“ ist, dann merkt man, dass man die betrachteten Arbeiten nur für religiös deutungsfähig hielt. Und das ist bei vielen Werken der zeitgenössischen Kunst so.

Recht hat Dan Fox darin, dass explizite Gehalte im Sinne der Tradition heute selten geworden sind. Waren vom 11. bis zum 13. Jahrhundert noch etwa 97% der Kunstwerke mit einem religiösen Sujet ausgestattet, so sind es im 20. Jahrhundert nur noch 4%.[6]

(c) Andreas Mertin

Das kann niemanden überraschen. Aber die Gründe, die Fox dafür benennt, greifen entschieden zu kurz. Denn der Verlust des kirchlichen Einflusses auf die zeitgenössische Kunst datiert bereits an den Anfang des 14. Jahrhunderts. Zu Martin Luthers Zeiten waren gerade noch zwei Drittel der Kunstwerke in diesem Sinne explizit religiös. Das heißt aber auch, dass es nicht am Finanzfluss gelegen haben kann, denn bis zum 18. Jahrhundert gehörten die Kirchen weiterhin zu den finanzstarken Mitspielern auf dem gesellschaftlichen Markt. Und auch die Aufklärung kann für den Verlust kaum verantwortlich gemacht werden, passieren die entscheidenden Entwicklungen (der sich entwickelnde Humanismus in der Kunst) doch deutlich früher.

Warum kann man nicht einfach anerkennen und respektieren, dass so der Differenzierungsverlauf der neuzeitlichen Gesellschaft beschrieben wird, der das Künstlerische als spezifische Aufgabe eines bestimmten gesellschaftlichen Sektors begreift? Und das Religiöse versteht sich so als spezifische Aufgabe eines anderen gesellschaftlichen Sektors. Und ja, es gibt scheinbare Begegnungen beider Bereiche, die aber in aller Regel ästhetische Interpretationen des Religiösen oder religiöse Interpretationen des Ästhetischen sind.

Dass das Kunstsystem inzwischen selbst wie ein Kultsystem (nicht aber wie ein Religionssystem) aufgebaut ist, widerspricht dem nicht. Kultsysteme finden wir aber auch in den Medien, in der Politik, im Fußball oder im Konsum. Und ich halte alle diese Bereiche nicht für religiöse Ersatzphänomene. Das Kultische ist ein Merkmal, aber kein Spezifikum des Religiösen. Entscheidende Elemente des Religiösen fehlen dem Kunstsystem aber. Niemand geht ins Museum, wenn Verwandte gestorben sind. Kaum jemand befragt Künstler, wenn es um die Legitimität von Präimplantationsdiagnostik (PID) geht. Und nur wenige Künstler würden eine nahezu 2000 Jahre alte Textur als bindendes Element ihres Schaffens akzeptieren. Das ist aber der Kern zumindest der christlichen Religion. 

Bleibt eine letzte denkbare Lösung, für die ich zunächst einmal eine bekannte Formulierung umwandle: Explizit religiöse Kunstwerke sind solche ästhetischen Objekte, die explizit geschaffen wurden, um religiöse Erfahrungen auszulösen. Und wenn man das liest, weiß man sofort: das funktioniert nicht. Und das hat nichts mit möglichen Tabus des Kunstsystems zu tun, wie Dan Fox meint. Es hat etwas mit der Beschreibung von Kunsterfahrung zu tun. Denn solange die Objekte ästhetische Erfahrungen im modernen Sinne auslösen, unterminieren sie notwendig religiöse Erfahrungen.[7] Und wenn sie spezifisch religiöse Erfahrungen auslösen, hat man ebenso notwendig den Modus der ästhetischen Erfahrung bereits verlassen, insofern man nicht mehr im Bereich des interesselosen Wohlgefallens ist. Das weiß auch jeder an der Kunsttheorie Interessierte, denn es ergibt sich zwingend aus der Lektüre von Kants „Kritik der Urteilskraft“.[8] In diesem Sinn hat der Künstler und Theologe Thomas Lehnerer gemeint, dass die Grenze zwischen Kunst und Religion darin liege, „dass sich Kunst auf einem zunehmend identischen Feld ... als nicht-religiöses System entfaltet“, ja, dass sie bestimmte Negation von Religion sei.[9] 

Explizit religiöse Kunstwerke, so kann man schließen, waren vielleicht (aber wirklich nur vielleicht) bis Giotto, also bis etwa 1300 möglich, sind aber nach dem Durchgang durch die Neuzeit und die Moderne eine klare contradictio in adiecto, also faktisch so etwas Ähnliches wie ein rundes Quadrat.

Anmerkungen

[1]    http://www.frieze.com/issue/category/issue-135/

[2]    Tuchman, Maurice; Freeman, Judi; Weisberger, Edward; Oliver, Steve (1986): The Spiritual in Art. Abstract Painting, 1890-1985 ;

[3]    Fox, Dan (2010): Believe it or Not. Religion versus spirituality in contemporary art. In: Frieze (135). Online verfügbar unter http://www.frieze.com/issue/article/believe-it-or-not/, zuletzt geprüft am 22.01.2011.

[4]    „Wann haben Sie in der letzten Zeit ein explizit religiöses Werk im Kontext zeitgenössischer Kunst gesehen?

[5]    Vgl. Verf., (1999): Schön, heilig, schrecklich. Marginalien zur Gegenwartskunst. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 1, H. 0. https://www.theomag.de/classics/am3.htm.

[6]    Schaubild: Der Anteil religiöser Themen in der Kunst im Verlauf der Jahrhunderte nach A. Sorokin: The Western Religion and Morality today; in: J. Matthes (Hrsg.): Internationales Jahrbuch für Religionssoziologie, Bd. II Köln und Opladen 1966, S. 9-49.

[7]    Vgl. dazu Menke, Christoph (1988): Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt am Main: Athenäum (Athenäums Monografien / Philosophie, 255). Sowie Verf., (1994): Die ästhetische Kritik der Ethik in Theodor W. Adornos "Minima Moralia". http://www.amertin.de/aufsatz/1994/magister0.htm

[8]    Kant, Immanuel; Weischedel, Wilhelm (2009): Kritik der Urteilskraft. 1. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 57).

[9]    Lehnerer, Thomas (1987): Kunst - Selbstzweck und Totalität. Über die Autonomie der Kunst gegenüber der Religion. In: Kunst und Kirche (1), S. 39–41, hier S. 41.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/69/am342.htm
© Andreas Mertin, 2011