Musikvideos im Religionsunterricht

Christoph Örley

Artist: MGMT

Video: Kids

Regie:  Ray Tintori

USA 2009

06:06 min

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Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht (Jos. 1,9 – Luther 1984)
Hab keine Angst und fürchte dich nicht (Jos. 1,9 – Zürcher)

MGMT, eine mir bis dahin unbekannte Größe, wurden mir mit deren Video “Kids“ von SchülerInnen nahe gebracht, die wissen wollten, „ob man das denn darf“: Ein Kind in Angst versetzen, um seine Angst sichtbar und damit kommunizierbar zu machen. Spannende Frage, die da so am ausfransenden Ende des vergangenen Schuljahres daherkam!

Ein seltsamer Vorspann mit einem falschen Zitat und ein verstörender Kurzfilm

Eine wabernde Feuerwand wie aus einem Werbespot für Feuerschadensversicherungen gibt den bewegten Hintergrund für ein hingekrakeltes Zitat ab, das vielen bekannt vorkommen dürfte, auch wenn die Zuordnung zu Mark Twain wie sie hier geboten wird falsch ist:

"He who fights with monsters might take care lest he thereby become a monster.
And if you gaze for long into an abyss, the abyss gazes also into you."[1]

Die (medien-)pädagogische Web-Präsenz „shmoop.com“ hält es für wahrscheinlich, dass die Urheberangabe des Zitates absichtlich falsch sei, immerhin kämen die Köpfe der Band von einer guten Schule und von daher sei zu schließen, dass sie wüssten was sie täten. Immerhin hätten sich ja Mark Twain und der eigentliche Urheber durch eine gemeinsame Stoßrichtung geteilt: „Both Twain and Nietzsche wrote extensively on the hypocrisy of humanity and the stifling nature of "civilized, adult society“."[2]

Ein Kleinkind von knapp zwei Jahren in seinem Gitterbett – mit dieser Einstellung beginnt eine kleine Episode („Geschichte“ wäre zu viel behauptet), die – hermeneutisch fragwürdig aber immerhin – versucht, kindliche Angst zu zeigen. Riesige, klauenbewehrte Hände beginnen, durch die Stäbe des Gitterbettes hindurch nach dem Kind zu grapschen, grauenerregende Köpfe – Gesichter kann man die Erscheinungen wahrlich nicht mehr nennen – beugen sich bedrohlich über das Gitterbett und versetzen das Kind in Angst & Schrecken, es weint, schreit, heult.

Zwei menschliche Hände: endlich Rettung! - so möchte man meinen. Aber es sind die Hände einer ziemlich unbeteiligt wirkenden Mutter (starring: Joanna Newsom!), die ihr Kind hochnimmt und in den Tag hinaus mitnimmt. Das Kind verbleibt in der Folge auf Mutters linkem Arm, die rechte Hand ist mit SMS und / oder Email am Handy beschäftigt, der Blick der Mutter ist auf das Gerät fixiert und so bleibt ihr verborgen, wie ihr Kind auf die Umwelt, insbesondere auf die Erwachsenen reagiert. Ein Großteil der Erwachsenen, denen Mutter und Kind über den Weg laufen ist entstellt oder mutiert, Zombies und Ghoule bevölkern die Stadt. Aber nur das Kind merkt das, der Mutter erscheint nichts auffällig, wir BetrachterInnen bleiben im Ungewissen, ob sie einfach die Wahrnehmung ihres Kindes nicht nachvollziehen kann oder ob sie es in Ordnung findet, wer da so alles durch die Straßen kraucht ...

Später büxt das Kind aus und erlebt einen Moment der Entspannung in einer parkähnlichen Landschaft. Außerdem begegnet das Kind der Band MGMT, die da ihren Song spielt – in Outfits, die jetzt mal zur Abwechslung für Erwachsene zum Grausen sind (zumindest für solche Erwachsene, die glücklich sind, dass die 70er Jahre vorbei, tot und beerdigt sind). Das Kind sieht und hört aber gebannt zu, trägt auf einmal ein Stirnband mit dem Namen der Band und wird einigermaßen unsanft von einem uniformierten Zombie in die Wirklichkeit zurückgeholt, soll heißen: in die treu sorgenden Arme der Mutter zurückgebracht. Diese schnappt sich das Kind und zupft ihm das Stirnband vom Kopf um es einfach wegzuwerfen. Das Kind wird auch  während der anschließenden Autofahrt nicht von seinen Visionen oder von seinem „Durchblick“ erlöst.

Eine Minute vor Schluss wird das Video plötzlich zu einem 2D-Animationsvideo, es folgen Sequenzen, die an die finsteren Teile aus Walt Disney's „Fantasia“ (1940) erinnern. Schließlich wird das Kind von einer Zeichentrickversion des MGMT-Sängers, der ebenfalls ins monströse morpht gefressen und fällt und fällt und trudelt unendlicher Schwärze und Leere entgegen.

Wenig Schwierigeres gibt es, als „Angst“ nicht nur auszudrücken sondern auch verständlich zu kommunizieren. Gerade in Bezug auf den Heftschwerpunkt „Vorschulische (Religions-) Pädagogik“ tun sich – alle LeserInnen, die selbst Kinder aufziehen werden es bestätigen – wahre Abgründe auf, sowie die Angst ins Spiel (und gerade eben nicht: zur Sprache) kommt. Im Folgenden möchte ich nicht wirklich auf die – eh nur vorläufigen – Ergebnisse der Auseinandersetzung mit der oben genannten Frage der Schüler eingehen, vielmehr möchte ich einen Überblick geben, über welche Aspekte des Unbenennbaren wir uns den Kopf zerbrochen haben.

Das „Making-Of“-Video zeigt, dass der kleine Knabe, der hier die Hauptperson abgibt gerade in den Szenen, die im Zusammenhang mit den Monstren stehen, quietschfidel & keineswegs einem sittenwidrig herbeigeführten emotionalen Stress ausgesetzt war. Leider ist das aber keine Antwort sondern die Voraussetzung für eine wichtige weiterführende Frage: „Wie weit wird von den ProduzentInnen des Videos eine zumindest halbwegs adoleszente, in jedem Fall aber einigermaßen Medien-erprobte ZuseherInnenschaft als für das Gelingen des Videos unabdingbar vorausgesetzt?“

Geht es also – um es noch deutlicher zu fragen – um echte Ängste eines Kleinkindes von 18 Monaten oder geht es um die Ängste eines als „erwachsen“ gedachten temporären Kollektivs von BetrachterInnen des Videos?

Ein Kleinkind äußert in meiner Erfahrung Angst dann, wenn überwältigende Sinneseindrücke, vor Allem Geräusche seinen Weg kreuzen. Je unerwarteter noch dazu ein solcher Sinnesreiz daherkommt desto heftiger die Reaktion. Auf der anderen Seite ist eine ängstliche Reaktion auf Figuren aus der Kinoliteratur seit 1968 (George A. Romereo's „Night Of The Living Dead“, Pflichtfilm i.m.h.o.!) von solchen Kindern eigentlich nicht zu erwarten, die mit altersgemäßer Buchliteratur bis zu diesem Zeitpunkt gut versorgt und altersadäquat gefördert worden sind. „Das ist der Bär. Ja: Bä-är! Und der Bär hat einen...? Richtig! Einen Ball. Balllll!“ und so weiter, wir kennen das ja. Dass der Bär ein halbertes Raubtier ist, seine Kumpels Fuchs und Wolf sich von „lieben“ Vöglein und „pfui“ Kadavern ernähren interessiert in diesem Alter noch nicht, könnte als Information nicht verarbeitet weil nicht verstanden werden. Folge: Keine Angst vor Bären, Wölfen, Füchsen oder Allem, was wir Erwachsenen als bedrohlich zu interpretieren gelernt haben.

Wenn Dreijährige in ihrer Begierde nach immer neuen Vorlesegeschichten dann so langsam an Hänsel und Gretel, an Rotkäppchen oder diversen Disney-Machwerken (ich sag nur: „Bambi“!) anstreifen, dann kommen in der Folge auch kindliche Äußerungen von Angst vor „Hexe“, „Wolf“, „Feuer“ etc. heraus, ohne dass sich das dreijährige Kind beispielsweise unter „fressen“ konkret etwas vorstellen könnte. Allein, dass der Wolf das Rotkäppchen belügt / hereinlegt und der Umstand, dass er am Ende von der Ordnungsmacht erle(di)gt wird sind für die kindliche Einordnung des Tieres ins Reich der Untiere ausschlaggebend.

Das alles bedeutet für die Beantwortung der Frage nach der qualifizierten BetrachterInnenschaft letztlich ganz deutlich: So sehr sich dieser kurze Film hier bemüht, „kindliche“ Erlebniswelten und Verarbeitungsweisen vorzuführen, so sehr scheitert er auch an diesem selbst gesteckten Ziel, denn eigentlich ist das Thema die Angst von Erwachsenen, von jungen Menschen, die – soviel muss gesagt werden – die Filmliteratur nicht nur konsumiert sondern auch interpretiert haben.

Die auf dieses Video bezogenen Seiten von shmoop.com sind der Meinung, es gehe wohl um die Befürchtung des Fast-Nicht-Mehr-Kindes, erwachsen und damit zum Zombie zu werden. Naja. Der Gedanke ist nicht besonders neu, lediglich die künstlerische Verarbeitung bietet Neues. Die Liste von Verhaltensweisen, Missständen etc, die die Erwachsenenwelt geeignet erscheinen lässt, als „Zombie-Welt“ gezeichnet zu werden ist wohl nicht allzu kurz – und je nach eigenem Vorauswissenshorizont individuell unterschiedlich zu beantworten.

Wer seine Angst konkret benennen kann, hat schon fast keine mehr.
(frei nach Helmut Qualtinger: Wer seine Vorurteile revidieren kann, hat goar kane)

(Meinen Schülern und vor allem) mir hat sich in der Folge eine weitere Frage aufgedrängt: „Ist diese Diskrepanz zwischen kindlichem Erleben einerseits und erwachsenem Bild von kindlichem Erleben andererseits nicht eine solche, die in allen menschlichen Beziehungen zwischen jedweden menschlichen Wesen bestehen bleiben muss, weil Angst zu haben eine kulturell antrainierte aber immer nur individuell erlebbare und niemals exakt kommunizierbare Existenzform darstellt?“ Oder verkürzt: Kann ich mit irgendjemandem über meine Angst sprechen?

Was sich hier vom Sachthema her andeutet ist die Diskussion um den Unterschied zwischen „Angst“ als einem numinosen Gefühl ohne eindeutig aus zu machende Quelle und „Furcht“ als einer schon ziemlich rationalen Reaktion auf eine konkrete Bedrohung.

Wenn dem so ist, dann würde das heissen, kindlichen Ängsten, menschlichen, zumal kindlichen Ängsten zunächst dergestalt zu begegnen, dass das einzige Angebot lauten kann: Nähe. Und zwar so lange, bis ein Sprechen über die Furcht möglich wird.

Zum Weiterlesen / Hintergrund-Infos: http://en.wikipedia.org/wiki/Kids_(MGMT_song)
http://www.shmoop.com/mgmt-kids/

Anmerkungen

[1]    Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. [Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Werke Bd. 2, S. 636]

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/68/coe2.htm
© Christzoph Örley, 2010