Auf der Suche

Reflexionen zum Populären im Pop

Andreas Mertin

Schlägt man in der populärkulturellen Wikipedia unter dem Stichwort „Popmusik“ nach, dann wird man von folgender, freilich eher verwirrender Auskunft erfreut:

Popmusik bezeichnet eine Musikform, die vorwiegend seit 1955 aus dem Rock ’n’ Roll, der Beatmusik und dem Folk entstand und von Musikgruppen aus dem angloamerikanischen Raum wie den Beatles fortgeführt und popularisiert wurde. Sie gilt als seit den 1960er Jahren international etablierte Variante afroamerikanischer Musik, die im Kontext jugendlicher Subkulturen entstand, elektroakustisch aufbereitet und massenmedial verbreitet wird. Im weiteren Sinne zählt jede durch Massenmedien verbreitete Art von Unterhaltungsmusik wie Schlager, Filmmusik, Operette, Musical, Tanzmusik, sowie populäre Adaptionen aus Klassik, Folklore und Jazz zur Popmusik. Diese Begriffsverwendung im Sinne von populäre Musik ist in der Musikwissenschaft jedoch umstritten.“[1]

Wenn aber jede durch Massenmedien verbreitete Art von Unterhaltungsmusik zur PopMusik zählen kann, was gehört dann in den heutigen Zeiten der Mediatisierung der Lebenswelten nicht zur PopMusik? Einsichtig zu machen ist schnell, dass PopMusik – ähnlich wie PopArt – nicht notwendig populäre Musik heißen muss, wie umgekehrt populäre Musik noch lange nicht PopMusik ist, so wie populäre Kunst ja auch keine PopArt ist. Populär ist natürlich auch Vivaldi mit den Vier Jahreszeiten oder Musik von Bach – die darum noch lange keine PopMusik sind, aber lange schon popmusikalisch aufbereitet wurden. Es ist und bleibt verwirrend.

Die Kunstrichtung PopArt war dadurch charakterisiert, dass sie Motive des populären Lebens und die Gestaltungsformen des populären Lebens aufgriff. Das ist nun gerade kein Kennzeichen der PopMusik. Ihr ist das Popkulturelle nicht vorgängig, sondern sie generiert es.

Der Streit darum, was Sinn und Gehalt des Populären ist, spiegelt sich auch in Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ am Anfang des 20. Jahrhunderts. Dort schreibt er:

„Die Idee einer populären Kunst schien mir ebenso wie die einer patriotischen Kunst wo nicht gefährlich, so doch auf alle Fälle lächerlich. Wenn dabei die Absicht bestand, die Kunst dem Volke zugänglich zu machen, indem man die Verfeinerung der Formen, die nur ‚für Müßiggänger da sind’, opferte, so hatte ich jedenfalls genügend mit Damen und Herren der Gesellschaft verkehrt um zu wissen, dass sie die wahrhaft Ungebildeten sind und nicht die Elektrizitätsarbeiter. In dieser Hinsicht wäre eine der Form nach volkstümliche Kunst eher für die Mitglieder des Jockeyclubs als für die der Gewerkschaft angebracht. Was ihren Gegenstand betrifft, so langweilen volkstümliche Bücher die Leute aus dem Volke ebensosehr, wie sich Kinder mit Büchern langweilen, die speziell für sie geschrieben sind. Man möchte sich anderswohin versetzen, wenn man liest, und Arbeiter sind ebenso neugierig auf Fürsten, wie Fürsten es auf Arbeiter sind.“[2]

Deutlich wird aus den Ausführungen Prousts, dass zunächst einmal der Ansatz der war, Kunst dem Populären zuzuführen und zwar durch Minderung der Komplexität. Dagegen protestiert Marcel Proust. In der PopArt ging es im Gegensatz dazu darum, das Populäre und weniger Komplexe der Kunst zuzuführen. Wenn es aber nur um Vermittlung des Komplexen geht, darin hat Proust recht, bräuchte es keine populäre Kunst.

Was also heißt populär in der PopMusik? Anders als es die oben zitierte Beschreibung der Wikipedia vermuten lässt, wird der Schlager nicht zur PopMusik gezählt. Und doch ist er außerordentlich populär. Freilich ist auch er schon lange nicht mehr vorgängig als vitales Element einer populären Kultur zu begreifen, sondern ist wie auch die PopMusik durch und durch Element der Kulturindustrie. Am Schlager ist wenig Volkstümliches, dennoch ist er überaus populär.

Denn wenn man sich einmal ein Phänomen wie die „Best-of“-Kompilation der Schlagersängerin Andrea Berg anschaut, deren CD seit 2001(!) mit kleinen Unterbrechungen sage und schreibe 337 Wochen in den deutschen Charts zu finden ist,[3] was besagt dann das Kriterium Popularität für die Kategorisierung dieser Musik? Ist Andrea Bergs Werk Pop und ist sie eine PopMusikerin? Und warum schreibt dann kaum einer meiner Kolleginnen und Kollegen, die sich doch sonst so sehr an der Populärkultur orientieren, einmal etwas über dieses Phänomen? Von dieser Best-of-Kompilation sind über 2 Millionen Exemplare verkauft worden. Michelle, die in der Kulturdenkschrift der EKD unter dem Stichwort „Trivialkultur“ zu zweifelhaften Ehren gekommen ist, kann mit ihrem erfolgreichsten Produkt, ebenfalls einer Best-of-Kompilation, nicht einmal 25 Wochen Chart-Erfolg aufweisen.[4] Andrea Berg wäre also das besser geeignete Studienobjekt für eine am Populären orientierte Kulturtheologie. Auf die Ergebnisse dieser Analysen bin ich sehr gespannt!

Evolution of Dance - Eine popkulturelle Entspannung

Szenenwechsel. In jeder Minute des Tages, so wird kolportiert, laden Menschen zwanzig Stunden Videomaterial nach YouTube hoch. Ein Verhältnis von 1:1200. Das hat schon wirklich biblische Ausmaße im Sinne von 2. Petrus 3, 8: Eins aber sei euch nicht verborgen, ihr Lieben, dass ein Tag vor dem Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag. Man muss schon nicht von dieser Welt sein, um dieser Fülle Herr zu werden.

Nach aller menschlichen Erfahrung kann das dort Abgeladene nur Schrott sein, Youtube eine schier unendliche Abraumhalde der Spaßindustrie. Allerdings, dies wissen wir nicht erst seit den einschlägigen Studien der Cultural Studies, vermögen die Rezipienten bzw. Konsumenten mit dem eingestellten Material souveräner umgehen, als man es auf den ersten Blick meinen könnte. Dass man alles noch so Trashige auf Youtube einstellen kann, heißt ja noch lange nicht, dass es auch auf die entsprechende Aufmerksamkeit stößt. Keinesfalls wird das weitgehend rhizomatisch präsentierte Angebot bei YouTube auch rhizomatisch rezipiert. Dafür sorgen Schalter wie „am häufigsten aufgerufen“ oder „am besten bewertet“, die dazu führen, dass sich sehr schnell das Belanglose vom Interessanten trennt, welches dann zum Populären werden kann.

Was also ist Pop(ulär) bei YouTube? Vielleicht muss man hier eine Zeitenwende beachten und die Zeit von Youtube in eine vor und eine mit (und hoffentlich bald eine nach) Lady Gaga einteilen. Wenn mich mein Gefühl nicht trügt, nimmt im Augenblick die Kommerzialisierung bei Youtube überhand, kaum ein Video, bei dem man nicht von aufdringlicher Werbung erschlagen wird. Und die Eingeborenen der Kommerzialisierung neuesten Typs wie Lady Gaga, die selbst ihre Videoclips noch zu Werbeplattformen für stylische Handys umgestalten, sorgen dafür, dass irgendwann Video und Werbung ununterscheidbar werden. Spätestens dann wäre die Zeit von Youtube aber zu Ende. In der Youtube-Zeit vor Lady Gaga war die Plattform aber noch in einer gewissen Weise seismographisch im Blick auf das, was Pop(ulär) war. Und da war es doch überraschend, dass nicht der Schrott die Wahrnehmung dominierte, sondern die ironische Reflexion der Popkultur und der Alltagskultur. Sicher, es gab solche Phänomene wie die Diätcola-Mentos-Experimente, bei denen Symphonien an Fontänen erzeugt wurden. Aber schon die Reaktion auf das Statement von Pepsi-Cola, der Verbraucher, der nacheinander eine Diät-Pepsi und ein Mentos-Dragee zu sich nähme, brauche um seine Gesundheit nicht zu fürchten, bewies einigermaßen populäre Intelligenz: reihenweise wurden Videos gezeigt, bei denen Menschen, die Cola tranken und danach Mentos lutschten, explodierten. Eine Medien-Meme nennt man das in Fachkreisen.

Lange Zeit aber dominierte ein Video Youtube und dieses Video war „Evolution of Dance“ des US-Komikers Judson Laipply aus dem Jahr 2004. Normalerweise vermischen wir nur selten die Tanzstile (sonst wären es auch keine Stile). Faktisch bleiben wir bestimmten Rhythmisierungen und Gesten treu. Judson Laipplys Video „The Evolution of Dance“ fasst die Rhythmisierung und Gestik der letzten 50 Jahre im Tanz zusammen: vom körpernahen Ausdruck eines Elvis Presley bis zum Hip-Hop und der Dancefloor-Szene der Gegenwart. Das Video ist eine Aufnahme aus dem seinerzeitigen Programm des Komödianten. Es zeigt, wie differenziert die Gestenkultur des populären Tanzes und der populären Musik allein in den letzten 50 Jahren war und es zeigt auch, wie eng sich die Musik in dieser Zeit auch mit dem visuellen Eindruck, also mit Fernsehen und Videoclip verbunden hat.

Jede der hier zu sehenden Gesten war ein Bekenntnis und viele dieser Bekenntnisse sind natürlich untereinander unvereinbar. Am Spannendsten ist es, wenn man sich die Zeit nimmt und parallel die historischen Filmaufnahmen der Bands ansieht. Es ist ein Feuerwerk der Stile und Gesten. Der Auftritt beginnt jedenfalls mit Elvis Presleys legendärem „Hound Dog“ aus dem Jahre 1956, wechselt dann zu Chubby Checkers „The Twist“ von 1960, um dann etwas später mit „Y.M.C.A“ von den Village People einen weiteren Höhepunkt zu erreichen. Mit „Mr. Roboto“ von Styx aus dem Jahr 1983 wird erstmal die technoide Beeinflussung des Tanzstils deutlich. Zunehmend wird aber auch einsichtig, wie das Crossover von Tanz- und Musikstilen, die gegenseitige Referenzierung eine immer größere Rolle spielt. Die Postmoderne erreicht die Popmusik.

1956
1960
1972
1974
1975
1977
1978
1980
1981
1982
1982
1983
1985
1989
1990

Hound Dog - Elvis Presley
The Twist - Chubby Checker
Keep On - The Brady Bunch
Kung Fu Fighting - Carl Douglas
Y.M.C.A. - The Village People
Stayin' Alive - The Bee Gees
Greased Lightnin' - John Travolta
You Shook Me All Night Long - AC/DC
Mony Mony - Billy Idol
Billie Jean - Michael Jackson
Thriller - Michael Jackson
Mr. Roboto - Styx
Walk Like An Egyptian - The Bangles
Love Shack - The B-52's
Ice Ice Baby - Vanilla Ice

1990
1990
1992
1992
1993
1994
1994
1994
1995
1997
2000
2002
2003
2004

Jump Around - House of Pain
U Can't Touch This - MC Hammer
Apache - The Sugarhill Gang
Baby Got Back - Sir Mix-A-Lot
What Is Love - Haddaway
Break Dance - West Street Mob
Cotton Eye Joe - Rednex
Macarena - Los Del Rio
The Chicken Dance - Bob Kames
Tubthumping - Chumbawamba
Bye Bye Bye - N'Sync
Lose Yourself - Eminem
Hey Ya! - Outkast
Dirt Off Your Shoulder - Jay-Z

Jedenfalls ist diese Zusammenstellung eine interessante Antwort auf der Suche nach dem Populären im Pop – vor allen Dingen eine entspannte Antwort. Blickt man auf die Jahreszahlen, dann sieht man, dass auch das Populäre einem Historisierungsprozess unterworfen ist: steht für die 50er und 60er Jahre jeweils nur eine Geste, so sind es für die 70er fünf, für die 80er sieben und die 90er 11 Gesten. Was heute Pop ist, kann morgen schon vergessen sein.

Anmerkungen

[2] Proust, Marcel (1979): Die wiedergefundene Zeit. Übersetzung von Eva Rechel-Mertens. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 10), S. 3965

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/68/am334.htm
© Andreas Mertin, 2010