Ästhetische Andacht als Unterhaltung

Überlegungen beim Hören von Detlev Prößdorfs "Sternklare Zahnschmerzen"

Harald Schroeter-Wittke

Mit dem Begriff Andacht wurden auch immer schon Phänomene bezeichnet, die gemeinhin als Kitsch[1] wahrgenommen wurden. Die Andachtsbilder und–sounds des Protestantismus in Geschichte und Gegenwart sind mindestens seit dem 19. Jahrhundert immer auch der Unterhaltungskultur zuzurechnen, gegen die eine sicht oft für Hochkultur haltende kirchliche Kultur gerne einmal zu Felde zog. Natürlich gab es auch eine beständige Gegenbewegung, derzufolge sich die kirchliche Kultur gegen die ästhetischen Ansprüche der jeweilgen Avantgarde verwahrte, weil sie sich als Volkskirchenkultur definierte und damit zu großen Teilen selbst begrenzte. Beide Seiten, die Kritik an der Popkultur wie die Kritik an der Avantgarde, gehören zu ein und derselben Medaille, insofern beide Seiten sich nicht vorbehaltlos auf die sie umgebende, von Gott und den Menschen geschaffene Welt wahrnehmend einlassen und stattdessen lieber verkirchlichte oder kirchliche vereinnahmende Kulturen als selbstständiges Profil ausgeben. Diese Tendenz nimmt ja gegenwärtig zu, wenn etwa die Forderung, nur das könne kirchlich sein, wo es auch etwas explizit Kirchliches zu erkennen gebe, wie ein Virus um sich greift und seine Opfer fordert.

Wenn man den Beginn der modernen Popkultur mit der Mitte des 19. Jahrhunderts ansetzt, [2]  dann bewegt sich der Diskurs um ästhetische Andacht in diesem Spannungsfeld zwischen Hoch- und Popkultur. Dabei zeigt sich, dass die Kirchen ebenso wie die Theologien und auch andere Formen von Religion ein gehöriges Problem mit dem Unsinn haben, weil sie diesen nicht als UnSinn[3] wahrzunehmen in der Lage sind. Dabei gibt es in der jüdisch-christlichen Tradition eine reichhaltige Tradition von UnSinn, angefangen von den göttlichen Inkonsequenzen etwa nach der Sintflutgeschichte oder am Ende des Jonabuches, über die prophetischen Performances bis hin zu den Gleichnissen Jesu oder auch manchen apokalyptischen Visionen. So steht die Frage im Raum, ob und inwiefern ästhetische Andacht auch als Unterhaltung begriffen und gestaltet werden kann.

Wer als kulturwissenschaftlicher Theologe in Deutschland ernsthaft über Unterhaltung[4] nachdenkt, vermeidet intellektuelle Sauberkeit und macht sich demzufolge die Finger schmutzig. Denn Unterhaltung hat keinen guten Ruf. Immer noch wirken die mentale Trennung von E- und U-Kultur bei der gebildeten Elite sowie die übliche intellektuelle Schelte massenmedialer Produktionen nach. Dazu kommt eine spezifisch deutsche Schwierigkeit, die in der Tatsache begründet liegt, dass Unterhaltung von den Diktaturen und Unrechtregimes im Deutschland des 20. Jahrhunderts missbraucht worden ist. Schließlich gilt Unterhaltung auch theologisch als fragwürdig. Bis heute hält sich das Vorurteil des Johannes Chrysostomos, Jesus habe nicht gelacht, in dessen Gefolge die Christen auch wenig zu lachen hatten. Und erst im 19. Jahrhundert ist diese Frage wohl endgültig geklärt worden, als es an prominenter Stelle in der gebotenen popkulturellen Massenwirksamkeit hieß: "Stille Nacht, heilige Nacht, Gottes Sohn, o wie lacht." Dabei hat Unterhaltung eine lange positive theologische Karriere hinter sich. Denn gute Unterhaltung führt ihre 3 Dimensionen zusammen: ihre ernährende (nutritive), ihre gesellige (kommunikative) und ihre genießende (delektarische) Dimension.

Unterhaltung hat es in der deutschen Sprache mit drei Dimensionen zu tun. Von seiner physischen Bedeutung - jemandem etwas unterhalten, jemanden unterstützen - herkommend entwickelt sich zunächst das nutritive Verständnis von Unterhaltung - jemanden erhalten, ernähren, unterstützen. Das Nutritive stellt bis ins 18. Jahrhundert die Hauptverwendung dar und bezeichnet nach den Gebrüder Grimm alles, "was der mensch zu seiner nahrung, kleidung und auferziehung von nöthen hat'" (DWb 24, 1595). Mit dem Aufkommen einer bürgerlichen Gesprächskultur im 18. Jahrhundert gewinnt das kommunikative Verständnis von Unterhaltung – ein Gespräch führen – immer größere Bedeutung. Aus dieser Gemengelage entwickelt sich der heute übliche Gebrauch von Unterhaltung als Amusement. Im 19. Jahrhundert entfernen sich durch das Auseinanderdriften von E- und U-Kultur die drei Dimensionen von Unterhaltung immer weiter voneinander bis zur Unkenntlichkeit ihres Zusammenhangs. Dadurch jedoch, dass die Unterscheidung von E- und U-Kultur angesichts der neuen Medienwirklichkeit ihre Plausibilität verloren hat, wird Unterhaltung in der Zusammengehörigkeit ihrer drei Dimensionen auch theologisch wieder interessant.

1. Unterhaltung ist nutritiv

Unterhaltung gewährt Unterhalt. Dieser Aspekt ist insbesondere in der protestantischen Orthodoxie theologisch als Lehre von der conservatio bedacht worden. Paul Gerhardt z.B. kann davon ein Lied singen: "Was sorgst du für dein armes Leben, wie du's halten wollst und nähren? Der dir das Leben hat gegeben, wird auch Unterhalt bescheren. Er hat ein Hand, voll aller Gaben, davon sich See und Land muß laben. Gib dich zufrieden!" (EG 371, Str. 7) Gott unterhält die Welt. He's got the whole world in his hands. Indem Gott aber die Welt unterhält, unterhält er auch sich mit der Welt. D.h., Gott liebt diese Welt. Er hat Wohlgefallen an ihr. Sie bereitet ihm Lust. Und: Gott redet mit der Welt, wenn er sich mit ihr unterhält. Nach protestantischem Verständnis geschieht dies vor allem im Gottesdienst, wo nach Luthers berühmter Definition Gott mit uns redet und wir ihm antworten durch Gebet und Lobgesang. Deswegen kann Luther Unterhaltung ebenso wie den Gottesdienst auch als öffentliche Reizung zum Glauben verstehen. Gute Unterhaltung gewährt uns Unterhalt. Schlechte Unterhaltung hingegen ist nutritiver Betrug. Ästhetische Andacht als Unterhaltung bedeutet daher, den Menschen in ihren Geschichten mit göttlichen Geschichten so Unterhalt zu gewähren, dass sie vorübergehend Halt gewinnen. Gute Unterhaltung heißt theologisch daher aber auch: Halt gibt es immer nur vorübergehend, en passant, im Übergang. Der Halt, den eine unterhaltsame Andacht gewährt, vergeht auch wieder, ist vergänglich. Dies wird besonders deutlich im Modus der Musik, des Singens und Hörens, denn Klänge sind die ästhetische Ausdrucksgestalt, die verklingen, am schnellsten vergehen, verschwinden.

2. Unterhaltung ist kommunikativ

Zwei oder mehr Menschen unterhalten sich miteinander, oft frei assoziierend. Gute Unterhaltungen sind meist lose, oft eignet ihnen eine lockere Atmosphäre. Gute Unterhaltung sucht das partnerschaftliche Gespräch unter Gleichberechtigten. Als erster hat der Pietismus die aufkommende bürgerliche Gesprächskultur als Konversation auch zu einer kirchlichen Kultur gemacht. Jedoch verfolgte er dabei von Anfang an, also schon in Speners Frankfurter Collegium pietatis, das Interesse einer Verkirchlichung und damit einer Hierarchisierung der Gespräche vom Predigtamt bzw. von der Bibel her. Erst Schleiermacher hat mit seiner Theorie der freien Geselligkeit, die in der liberalen Salonkultur Berlins um 1800 wurzelt, der kommunikativen Dimension von Unterhaltung auch in der Kirche den gebührenden Raum bereitgestellt. Unterhaltsame "Theologie als Gespräch" (David Tracy) schafft eine Atmosphäre der Partnerschaft unter Gleichberechtigten.

3. Unterhaltung ist delektarisch

Sie macht Spaß. Sie amusiert uns. Sie berührt uns. Sie ist rührend. Sie erheitert und erleichtert. Das delectare (das Unterhalten) spielt in der antiken Rhetorik eine große Rolle. Delectare gehört neben dem docere, dem Lehren, und dem movere, dem Bewegen, zu den drei Grundaufgaben einer jeden Rede in der Antike. Jede Rede hat zu lehren, zu unterhalten und zu bewegen: docere – delectare – movere. Während das docere als Lehre auf die intellektuelle Einsicht zielt, sprechen das delectare als Unterhaltung und das movere als Pathos die Affekte an. Dabei bedient das delectare die sanften Affektstufen, denn es soll der Übermüdung durch Lehre und Pathos vorbeugen. Das delectare berührt die Menschen und erleichtert sie so. Die Erleichterung als Erlösung von der Erlösung steht bei ihr im Vordergrund. Sie erleichtert, manchmal beschwingt sie sogar oder rührt zu Tränen.

Gute Unterhaltung beinhaltet alle drei Aspekte der Unterhaltung: Sie muss uns erstens etwas zu Beißen geben und zugleich Heimat auf Zeit gewähren. Sie führt uns zweitens in den Freiraum des partnerschaftlichen Gesprächs mit theologischen Traditionen und Problemen. Und sie macht schlussendlich einfach auch Spaß. Oder anders gesagt: Ästhetische Andacht als gute Unterhaltung tut schlicht gut.

So ging es mir bei der CD "Sternklare Zahnschmerzen" (2010) des Leverkusener Pfarrers Detlev Prößdorf, in dessen Gemeindearbeit die regionale Karnevalskultur eine hervorgehobene Rolle spielt. [5] Dieser Background wird auf der CD jedoch explizit gar nicht erwähnt. und das ist gut so. Denn Prößdorfs Anspruch resultiert nicht aus seinem Amt, sondern aus dem, was er sagt und singt und womit er unterhält. Man merkt dem Klavierkabarettisten die Lust am Spielen -Machen an. Das wird auch deutlich an seinem Internet-Auftritt www.detlev-proessdorf.de, wo seine Hauptbeschäftigung in seine Kleinkunstaktivitäten eingereiht erscheint. Dabei lautet das Programm des promovierten Praktischen Theologen[6]: "Ich singe Lieder über Gott und die Welt und beantworte Fragen, die überhaupt keiner stellt." (aus dem 1. Lied "Hallo und guten Abend") Prößdorfs Songs sind sprachlich herrlich frech. Sie machen keinen Hehl daraus, was sie bewundern , z.B. Bach, oder hassen, z.B. das Ganzkörpererlebnis Zahnarzt. Sie sind aber auch seelsorglich-sentimental, indem sie Mut machen, sich der eigenen Alltagswirklichkeit zu stellen oder bekunden einfach das, was sie immer lieben werden, in dem wunderbaren abschließenden "F und C Lied". So dringen die großen Themen des Alltags mit einem unaufdringlichen Augenzwinkern an unser Ohr. Dabei ist der Gesang keineswegs perfekt – zum Glück. Gerade weil hier keine große Kunst zu hören ist, ist diese CD eine große Kunst, weil sie berührt. Es kann durchaus sein, dass meine Begeisterung nur für solche Menschen verständlich ist, die mit der kölschen Lebensart etwas anzufangen wissen. Doch die Wahrnehmung solcher Regionalisierung gehört aus meiner Sicht zu einer sachgerechten Reflexion über ästhetische Andacht zumeist dazu, ist doch die Inkulturation als überzeugende Erfahrung ihr Hauptgeschäft.

Anmerkungen

[1]      Vgl. dazu Bettina Wittke, Art. Kitsch, in: Kristian Fechtner / Gotthard Fermor / Uta Pohl-Patalong / Harald Schroeter-Wittke (Hg.), Handbuch Religion und Populäre Kultur, Stuttgart 2005, 154-158; sowie Lutz Friedrichs / Hans-Jürgen Kutzner, Stephan A. Reinke (Hg.), Kitsch und Gefühl. Potenziale des Populären. Zeitschrift der Gemeinsamen Arbeitsstelle für gottesdienstliche Fragen der EKD 22 (2008) Heft 3.

[2]     Vgl. dazu grundsätzlich Hans-Otto Hügel (Hg.), Handbuch Populäre Kultur, Stuttgart 2003, bes. 1-22.

[3]    Vgl. dazu Dietrich Zilleßen, Der Sinn des Unsinns. Zur Ausstellung künstlerischer Arbeiten im kirchlichen Raum, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 45 (1993), 634-639..

[4]    Vgl. dazu grundsätzlich Harald Schroeter-Wittke, Unterhaltung. Praktisch-theologisches Exkursionen zum homiletischen und kulturellen Bibelgebrauch im 19. und 20. Jahrhundert anhand der Figur Elia, Frankfurt/M. 2000; ders., Art. Unterhaltung , in: Theologische Realenzyklopädie 34 (2002), 397-403; sowie ders., Art. Unterhaltung, in: Kristian Fechtner u.a. (Hg.), Handbuch Religion und Populäre Kultur, Stuttgart 2005, 314-325.

[5]     Vgl. dazu Detlev Prößdorf / Harald Schroeter-Wittke (Hg.), Rheinische Karenvalstheologie, PROT's Sitzungen & jecke Predigten, Rheinbach 2202; sowie Detlev Prößdorf / Harald Schroeter-Wittke, Karneval. Verkehrte Welt feiern, in: Thomas Klie (Hg.), Valentin, Halloween & Co. Zivilreligiöse Feste in der Gemeindepraxis, Leipzig 2006, 42-62.

[6]    Vgl. Detlev Prößdorf, Die gottesdienstliche Trauansprache. Inhalte und Entwicklung in Theorie und Praxis, Göttingen 1999.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/67/hsw10.htm
© Harald Schroeter-Wittke, 2010