Christentum kontrovers. Wie weiter mit Gott?

Eine Diskussion

Jörg Herrmann - Wilhelm Gräb - Herbert Schnädelbach

Jörg Herrmann
Heute Abend soll, wie der Titel ja schon sagt, die Gottesfrage im Mittelpunkt stehen, aber zuvor zwei Fragen zum Aufwärmen, zuerst an Herrn Prof. Schnädelbach: Wie würden Sie die aktuelle religionskulturelle Lage einschätzen, die Situation von Theologie und Kirche und Religion? Was halten Sie da für auffällig und bemerkenswert?

Herbert Schnädelbach       
Daniel Nikolaus Chodowiecki:»Practische Philosophie«, 1776, RadierungIch muss zunächst sagen, dass das meine Eindrücke sind als aufmerksamer Zeitungsleser, aber ich bin nicht bewandert in den empirischen Untersuchungen, da ist Herr Gräb einfach der Fachmann. Ich gehe davon aus, dass wir in einer modernen Kultur leben und ich beziehe mich jetzt nur auf Westeuropa - Amerika ist ein Sonderfall. Und moderne Kulturen haben die Eigenschaft, dass sie dezentriert sind. Das heißt, es gibt in der Moderne keine Instanz, die die gesamte Kultur steuern könnte. In unserer Tradition war das einmal das Christentum. Die Religion ist inzwischen zu einem Teilsystem unserer modernen Kultur geworden und dann haben wir andere Systeme, die relativ unabhängig davon sind: die Wissenschaft, die Politik, das Recht, die Wirtschaft usw. Diese Unabhängigkeiten dieser Teilsysteme unserer Kultur machen das aus, was wir als unsere persönliche Freiheit erleben. Also Religionsfreiheit meint die Unabhängigkeit der Religion von der politischen Einflussnahme und wir fänden es, glaube ich, unerträglich, wenn eines dieser Teilsysteme wieder beanspruchen würde, das Ganze zu steuern. Z. B. die Ökonomisierung aller Lebensbezüge fänden wir schauerlich. Die Politisierung von allem und jedem haben wir, gerade in Deutschland, schrecklich erlebt. Von da aus glaube ich, dass man nicht davon ausgehen kann, dass wir eine Phase wiedererleben, in der tatsächlich die Religion bzw. das Christentum wieder zu einer zentralen kulturellen Macht wird. Das ist zunächst einmal die Prognose, die ich riskieren möchte.

Das bedeutet natürlich auch für die Individuen sehr viel, denn wenn das der Fall ist, dass tatsächlich nicht die Religion die gesamte kulturelle Steuerung zu verantworten hat und wir dem auch keine Chance geben wollen, dann bedeutet das für die Individuen, dass sie auch in verschiedenen Lebensbereichen leben und diesen Sachverhalt in ihrer Identität irgendwie unterbringen müssen. Und daraus folgt dann, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass in der Moderne Menschen ein wirklich geistliches Leben führen können. Das gilt vielleicht dann nur noch für Ordenleute oder für Bischöfe. Dem entspricht dann das, was ich gleich zur Diskussion stellen möchte, und ich glaube, da werde ich mit Herrn Gräb auch keine großen Meinungsverschiedenheiten haben. Wir müssen davon ausgehen, dass wir vor allem im Protestantismus eine Subjektivierung, Individualisierung und eine Privatisierung von Religion erlebt haben. Das beginnt mit der Reformation. Der Ort des Glaubens ist das Individuum. Angelus Silesius dichtete: Wäre Jesus nicht in dir geboren, du wärst ewiglich verloren. Subjektivierung bedeutet aber im 16. Jahrhundert noch nicht, dass das Individuum im Mittelpunkt steht, das ist zunächst noch eine kollektive Subjektivierung, also ein „Wir", eine Gemeinde, die der Ort des religiösen Lebens ist. Dann kommt die Individualisierung, besonders durch die Romantik, aber dann vor allem auch durch den Pietismus. Heute sind wir noch einen Schritt weiter, nämlich bei der Privatisierung der Religion, d.h. der Tendenz, dass sich religiöse Menschen ihre Religion selber zurechtlegen. Und das bedeutet dann auch, dass der Ort des religiösen Lebens das einzelne Individuum ist und nicht mehr primär die Institutionen. Wie das bei den Katholiken ist, dass weiß ich nicht, aber ich vermute, das es dort genauso ist. Ich denke für den Protestantismus gilt das, und deswegen ist der Konsens in den evangelischen Kirche darüber, was eigentlich der Kern unseres Glaubens ist, außerordentlich umstritten. Das geht von sehr konservativ bis ganz liberal und gleichwohl sagt man dann, die evangelische Kirche ist eine Kirche der Freiheit, und Freiheit heißt hier, dass das Individuum selber autonom sein darf im Hinblick auf sein religiöses Leben. Und wenn man dann vielleicht noch buddhistische Elemente mit hineinnimmt oder vielleicht auch mit katholischen Lehren sympathisiert, dann wird man nicht rausgeschmissen. Das wollte ich vielleicht mal zum Auftakt sagen. Welche Chancen das für die Zukunft hat, darüber werden wir uns vermutlich in die Wolle kriegen. Das sehe ich voraus. Aber zunächst bin ich ja einmal nur nach der Situation gefragt worden, wie ich sie sehe.

Jörg Herrmann       
Okay, herzlichen Dank zunächst für diese erste Einschätzung. Die Frage geht natürlich auch an den Praktischen Theologen – Subjektivierung und dann Individualisierung des Religiösen, können Sie diese Einschätzung teilen oder wo würden Sie da andere Akzente setzen?

Wilhelm Gräb
Raffael: Stanza della Segnatura, Studie für Deckentondo, Die Theologie
Nein, ich teile diese Einschätzung vollkommen. Es ist in der Tat die religionskulturelle Entwicklung der letzten 250 Jahre, dass sich die subjektive Religion, die persönliche Religion, die Glaubensüberzeugungen immer stärker an den Ort der Individuen verlagert haben und die Individuen zum Organisationszentrum mehr und mehr eben auch der Artikulation ihrer religiösen Gewissheiten und das heißt ja letztendlich ihrer lebenstragenden Überzeugungen geworden sind. Aber damit ist die objektive Religion, ist die institutionalisierte Religion, sind unsere Kirchen nicht überflüssig geworden. Und sie sind um so deutlicher nach wie vor im Leben der Menschen dort präsent, wo das Passungsverhältnis stimmt zwischen dem, was die Kirchen anzubieten haben an Ritualen, Liturgien und Verkündigung und dem, was den Menschen in der Praxis ihres Lebens an Sinnorientierungsbedürfnissen entsteht. An Verlangen auch, ihre lebenstragenden Überzeugungen auf eine Weise artikuliert und ausgesprochen zu finden, die sie gerade über das subjektiv Beliebige, auch über das Private hinaushebt. Es ist natürlich richtig, dass wir nach wie vor Entkirchlichung zu konstatieren haben, die Kirchen verlieren Mitglieder, aber gleichwohl stellen sie immer noch die größten Organisationen in unserer Gesellschaft dar. Und vor allem verlassen die Mitglieder ja in den seltensten Fällen die Kirchen, weil sie zu Ungläubigen geworden wären, weil sie jetzt zu kämpferischen Atheisten werden möchten. Das ist ja überhaupt nicht der Fall. Und was wir in der Praktischen Theologie die Kasualien nennen, also diejenigen Gottesdienste, die an den Lebenswenden angesiedelt sind, die treffen nach wie vor die großen Sinnbedürfnisse der Menschen immer noch sehr gut und geben dem Ausdruck, woran Menschen letzthinsichtlich glauben. Gerade dann auch, wenn das Leben in seine Krisen gerät, wenn es sich in seinem Bestand gefährdet sieht. Das sehen wir auch, wenn die Gesellschaft von Krisen erschüttert wird. Denken wir an die Tsunamikatastrophe oder ähnliche Ereignisse, dann sind die Kirchen voll, weil das Verlangen danach da ist, dasjenige artikuliert zu finden, was den Bestand des Lebens über das hinaus, was wir selbst zu leisten im Stande sind, zu garantieren vermag. Also um die Religion steht es auch in der modernen Kultur überhaupt nicht schlecht. Das Problem ist nur, dass es der Institution angesichts der radikalen Individualisierung immer schwerer fällt, Allgemeines zu artikulieren. Das die Individuen in ihrem Glauben miteinander Verbindende so auszusprechen, dass die Individuen sich darin auch tatsächlich wiederfinden. Und ich meine natürlich, diese Herausforderung wäre dann auch an die Adresse der Theologie zu richten. Das entspricht ja auch ihrem eigenen Anspruch seit 250 Jahren, wobei sie sich ungeheuer schwer tut, dem auf breiter Ebene auch nachzukommen: Diese Umformung der christlichen Glaubenssprache, der Glaubenslehren, der Bekenntnissätze so zu bewältigen, dass tatsächlich die heute die Menschen tragenden Grundüberzeugungen sich darin ausgesprochen finden, artikuliert sehen. Gemeinhin kommt das Transindividuelle in unseren Gottesdiensten vor allem in Form von Bekenntnissen zur Sprache, die aus dem dritten oder vierten Jahrhundert stammen und wo vielfach nicht mehr zu sehen ist, dass sie dasjenige artikulieren, worin Menschen ihre letzten Überzeugungen finden können.

Herbert Schnädelbach
Francisco de Goya: »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer« 1797-1798 Da bin ich ganz anderer Ansicht. Ich finde Ihre Beschreibung einfach viel zu optimistisch. Gut, wir haben andere Erfahrungszusammenhänge, aber ich möchte behaupten, dass in unserer Kultur so etwas wie religiöse Bildung fast überhaupt nicht mehr existiert. Ich habe immer wieder gesehen, dass der Religionsunterricht oder auch der Konfirmandenunterricht das gar nicht mehr zu leisten vermögen, aus vielen Gründen, die man nicht der Kirche allein in die Schuhe schieben muss. Der andere Punkt ist: Warum halten sich Menschen zur Kirche? Das sind alles empirische Fragen und ich kann nur Vermutungen äußern. Es gibt eine Nachfrage nach Spiritualität. Das ist eine bestimmte Form von Religiosität, bei der es nicht mehr um Dogmen geht, da geht es auch nicht um Wahrheitsansprüche „Ist Jesus wirklich auferstanden Ja oder Nein?", sondern es geht um eine Erlebnisqualität. Leute gehen auf Katholikentage, Kirchentage, oder gehen vielleicht in die Kirche oder geistliche Konzerte, weil da eine Seite in ihrer Seele angesprochen wird, die sonst in keinem anderen Kulturbereich berücksichtigt ist. Dieses Bedürfnis nach Spiritualität will ich gar nicht schlecht machen, es speist sich aus dem Gedanken „Auto, Häuschen, gesunde Kinder, Karriere" das kann doch nicht alles sein. Sondern es fehlt irgendetwas. Habermas hat das sehr schön formuliert „das Bewusstsein davon, das etwas fehlt". Das scheint mir ein ganz wesentlicher Punkt zu sein, weswegen Religion doch noch so lebendig ist, wie sie es ist. Die andere Frage ist: Warum kann die Kirche mit ihren Formen nicht leisten, was sie programmatisch fordert? Es müsste eine Reformation her. Man muss sich verabschieden von der Opfertheologie, dem Jüngsten Gericht, der Angst vor der Hölle, der Hoffnung auf den Himmel usw.

Jörg Herrmann       
Sie konzedieren also, dass es, unter dem Stichwort Spiritualität, so etwas gibt wie gelebte Religion. Es gibt religiöse Erfahrung, eine gewisse Bewegung. Das Thema ist nicht tot. Die Frage ist ja: Sind das zwei Paar Stiefel, die gelebte Religion, die Spiritualität auf der einen Seiten und die Kirche, die Institution auf der anderen Seite. Oder gibt es dazwischen auch Verbindungslinien und Brücken?

Wilhelm Gräb 
Ich kann das gar nicht auseinander dividieren. Ich sehe auch nicht, dass wir einerseits die verhölzerten und in sich verhärteten Glaubendogmen anhängenden Kirchen haben, die Thesen und Glaubenslehren verbreiten, hinter denen niemand mehr mit Überzeugung stehen kann. Ich glaube, Herr Schnädelbach, das ist eine Karikatur. So wenig es das Christentum gibt, so wenig gibt es die Kirchen. Und gerade im Blick auf die von Ihnen angesprochene Sühnopferlehre hatten wir im letzten Jahr breite Debatten durch alle Kirchenzeitungen und theologischen Fachzeitschriften um die Frage, ob es sinnvoll ist, an dieser Lehre festzuhalten und wenn ja, wie sie dann interpretiert werden muss. Klaus-Peter Jörns, der Vorgänger auf meinem Berliner Lehrstuhl, hat mit dem Buch „Notwendige Abschiede“ Furore gemacht. Darin übt er massive Kritik an der Sühnopferlehre. Es hat große Resonanz damit gefunden, auch in den Gemeinden, weil er seine Sicht auch mit praktischen Vorschlägen verbindet, zum Beispiel mit neuen Abendmahlsliturgien, in denen Reminiszenzen an diese Vorstellung getilgt werden. Aber es gibt auch Gegenstimmen. Was geben wir auf, wenn wir diese Lehre einfach der Dogmengeschichte überstellen?

Es ist mit all diesen Lehren so, dass es auf Ihre Interpretation ankommt. So betrachtet könnte man auch fragen, ob in der Sühnopferlehre zum Beispiel der Sinngehalt stecken könnte, dass Jesus mit seinem Tod am Kreuz, bei dem er sich vollständig in die Negativerfahrung des gewaltsamen Sterbens Gott hingegeben hat und die ihn treffende Gewalt nicht mit Gegengewalt beantwortet hat, dass also der Kreuzestod das Ende aller Opfer, die Durchbrechung des Gewaltmechanismus symbolisiert. Dann kann man damit auch wieder etwas anfangen. Mir fällt an Ihrer Kritik an bestimmten theologischen Sätzen auf, dass Sie die hermeneutische Anforderung, die mit ihrer Aufstellung verbunden ist, unterschätzen oder geradezu ausklammern und in ein literalistisches Missverständnis dieser Glaubenslehren hineingeraten, geradezu in einen Glaubensobjektivismus hineingehen und so tun, als würde es sich um das Bekenntnis zu so etwas wie Heilstatsachen handeln, die im metaphysischen oder vielleicht sogar historischen Sinne tatsächlich Geschehenes berichten. Da bleiben sie unter dem Niveau der Theologie, das sie seit ihren Anfängen ausgezeichnet hat. So reflektiert Sie als Philosoph sind, so naiv sind Sie als Theologe.

Herbert Schnädelbach       
Zunächst bin ich kein Theologe. Und das, was Sie vertreten, kann ich nicht einfach als die Mehrheitsmeinung der evangelischen Kirche akzeptieren. Es gab doch den kompakten Begriff des Protestantismus, und der ist in den reformatorischen Bekenntnisschriften ausformuliert. Und es werden ja heute noch in den lutherischen Kirchen die Pfarrer auf die Bekenntnisschriften verpflichtet. Das hängen Sie mir zu tief. Wenn Sie sagen, ich wäre zu naiv, dann würde ich sagen, sie sind zu raffiniert. Sie nehmen die Fakten der kirchlichen Praxis auch des Standes des Bekenntnisses zu sehr auf die leichte Schulter. Und die Frage ist: was kommt bei den Gemeinden an? Das ist der für mich wichtige Punkt. Das mag ja in der Theologie inzwischen klar sein, und wir werden auch noch darüber sprechen, dass offenbar gerade bei der jüngeren Generation die Differenz zwischen Theologie und Religionswissenschaft immer mehr verschwimmt. So dass Theologie immer mehr zum Geschäft wird, bei dem man in der Beobachterperspektive über faktisches Christentum und historisches Christentum redet. Ich habe damals in Berlin die Frage gestellt: Wie ist es möglich, theologisch d.h. wissenschaftlich von Gott zu reden? Wenn man den Status quo richtig beschreiben möchte, muss man den Hiatus sehen.

Jörg Herrmann       
Also gut, dann haben wir im Moment zwei Ebenen. Einen großen Graben, den Sie konstatieren zwischen der Theologie als Wissenschaft und der gelebten Religion in den Gemeinden. Ich glaube, das muss man auch einfach zugeben, dass es diesen Graben in gewisser Weise gibt, oder?

Wilhelm Gräb 
Nein, dieser Graben tut sich nur dann auf, wenn man wie Herr Schnädelbach dahin tendiert, den Glauben über Gegenstände des Glaubens, über Glaubensinhalte, wie sie zum Beispiel das Apostolikum zusammenfassend formuliert, zu bestimmen. Wenn man so tut, als seien das dem Wissen äquivalente, propositionale Gehalte, über die der Glaube sich definiert. Als sei der christliche Glaube ein Glauben an etwas, daran, dass Gott der Schöpfer der Welt ist, dass biblische Sätze wahre Aussagen über den Ursprung und Anfang des Kosmos und des Weltgeschehens sind, dass Jesus Christus als Gottes Sohn am Kreuz für die Sünden der Welt gestorben ist. Als definiere sich der Glaube über diese Inhalte in einem gegenständlichen Sinne. Ich glaube, das ist ein tiefes Missverständnis dessen, was im christlichen Sinne glauben heißt. Glauben im christlichen Sinne heißt, ein vertrauensvolles Verhältnis zu haben zum Grund des eigenen Erlebens, zu dem, was mein Selbst- und mein Weltverhältnis grundiert, ermöglicht und trägt, was mir einen Halt gibt, worin ich Geborgenheit finden kann. (...) Also, ein Überzeugungsgefühl einer lebenstragenden Gewissheit, die sich nicht über diese Gegenstände beschreibt, sondern die in diesen Gegenständen des Glaubens - in dem was das Glaubensbekenntnis bekennt - dann mögliche Versuche erblicken kann, über diesen Grund des Glaubens, den wir in der christlichen Sprache Gott nennen, und sein Verhalten zu mir nähere Aussagen zu machen.

Daniel Nikolaus Chodowiecki: »Die Lehre von richtigen Verhältnissen«, 1791Diese Glaubensinhalte sind aber eben in einem indirekten symbolischen Deutungssinne zu verstehen. Es sind Deutungen dieses Grundverhältnisses meines Lebens, bei denen es darum geht, diese Grundgewissheit des Getragenseins angesichts von Krankheit, Tod, Sterben und all dem unsäglichen Unheil, das in dieser Welt geschieht, festzuhalten und dieses trotzige Dennoch des Glaubens dann im Blick auf das Symbol des Kreuzes riskieren zu können. Es handelt sich also um Deutungen, die mir hilfreich sein können im Umgang mit diesem Grundverhältnis des Lebens, das der Glaube artikuliert. Aber genau darin ist er eben Glaube, Überzeugungsgewissheit, Grundgefühl und kein Wissen, das propositionale Gehalte hätte. Sie wollen, und ich glaube, da ist Ihnen der Hegel einfach im Kopf, diese Glaubensvorstellungen letztendlich in ein Wissen überführen. Oder Sie behaften sie mit einem Anspruch, den das Wissen erhebt, der Glaube aber nicht.

Herbert Schnädelbach       
Ja, aber lieber Herr Gräb, ich meine, wir haben ja schon öfter darüber gesprochen. Ich habe immer betont, die Differenz zwischen faith und belief. Und wir sind uns ganz einig, dass man Religion nicht über beliefs konstituieren kann. Es ist noch niemand durch Erzählungen und noch niemand durch Argumente fromm geworden. Das ist aussichtslos. Ich denke, da sind wir uns einig. Nehmen Sie Mose, nehmen Sie Samuel, nehmen Sie Paulus, nehmen Sie die ersten Zeugnisse über die Auferstehung, das sind alles Evidenzerlebnisse gewesen. Und dann wurde das natürlich in einen bestimmten Kontext hinein artikuliert, dieses Urerlebnis gewissermaßen. Aber Sie können doch jetzt nicht die beliefs vom faith ganz abtrennen. Da stimmt etwas nicht. Der Punkt ist: Ich kann doch nur auf etwas oder eine Instanz vertrauen im Leben und im Sterben, von der ich auch etwas weiß. Das heißt, die Kognition muss hinzutreten. Und davon ist doch die Bibel voll. Also, da gibt’s die erste Offenbarung am Sinai und dann kommt die zweite Offenbarung durch Jesus Christus. Und dadurch verändert sich auch kognitiv in der Weltinterpretation eine ganze Menge, vor allen Dingen auch im Verhältnis zur Geschichte, die Geschichte erscheint dann als Heilsgeschichte. Mit Hegel hat das gar nichts zu tun. Hegel hat gemeint, die Religion sei eine unfertige Form von Philosophie und das muss man alles in Begriffe fassen und dann haben wir das Schäfchen im Trockenen - dann haben wir eine christliche Philosophie. Aber das ist gerade nicht meine Meinung. Man kann doch die kognitiven Elemente, über die die Theologie über Jahrhunderte gestritten hat, nicht einfach ausklammern und sagen, das hat mit Wissen gar nichts zu tun, sondern wir haben hier ein großes Angebot an religiöser Rede, an religiöser Symbolik und jeder kann dann seine eigene Religiosität damit instrumentieren, wie er will. Ja, wenn das wirklich der Fall ist, Sie können ja Recht haben, aber dann ist das für mich dasselbe wie das Ende des Christentums, wenn man mit Christentum wirklich so etwas wie eine konfessionelle Identität verbinden will.

Jörg Herrmann       
Ja, das ist ja jetzt ein spannender Punkt. Also, ist es nicht so, dass die vormodernen Menschen das, was Sie jetzt als Inhalte bezeichnet haben, im Grunde als Tatsachen betrachtet haben und dass wir aufgeklärte TheologInnen das heute symbolisch verstehen? Das wäre ja im Grunde die Frage an die Theologie. Und würde das dann zugleich bedeuten, dass wir mit diesem symbolischen Verständnis, indem wir die Bibel als Interpretation des Lebens verstehen, vielleicht auch als poetische Interpretation, zugleich das Ende des Christentums eingeläutet hätten?

Herbert Schnädelbach       
Wenn man den Paulus nimmt, 1. Korinther 15, da steht das ganz eindeutig drin: wenn Jesus nicht auferstanden ist, dann ist unser Glauben hinfällig.

Wilhelm Gräb 
Ja, aber was heißt denn, wenn Jesus nicht auferstanden ist? Das heißt, dass…

Herbert Schnädelbach       
Ein Faktum, ein historisches Faktum, was wirklich geschehen ist!

Wilhelm Gräb 
Michelangelo Buonarroti: Auferstehung, 1550-1564
Das ist doch kompletter Unsinn! Auferstehung als historisches Faktum. Also, wenn man dem Sinngehalt dessen, was mit Auferstehung gemeint ist, nur anfänglich nachdenkt, muss man zu dem Schluss kommen, das kann ein historisches Faktum gar nicht einlösen, was an Sinngehalt in dem Symbolwort Auferstehung steckt. Also, wenn es ein historisches Faktum wäre, dass der Leichnam Jesu zu neuem Leben erweckt die Grabestür aufstößt und wieder hinein ins Leben tritt, also wenn Jesus so ein wieder ins Leben erweckter Toter gewesen wäre, hätte er erstens noch einmal sterben müssen. Zweitens könnte er doch gar nicht für diesen Durchbruch des Bedingten ins Unbedingte, des Endlichen ins Unendlichen, des Zeitlichen ins Ewige stehen, wofür Auferstehung eben steht! Dass in diesem Jesus und seinem Gottesverhältnis den Menschen ein solcher Gotteskontakt eines Menschen begegnet ist, dass in ihnen diese Glaubensgewissheit entstehen konnte. In diesem Glauben auf einen Gott bezogen zu sein, der das eigene Leben im Tode nicht enden lässt, sondern in eine Ewigkeit hinein führt, die Gott selbst ist.

Herbert Schnädelbach       
Aber lieber Herr Gräb, ich hab den Eindruck, jetzt werden Sie zum Gnostiker. Das ist doch reine Spiritualisierung, denn was die Bibel, die Bekenntnisschriften und auch die Glaubensbekenntnisse als wirklich geschehene Fakten darstellen.

Wilhelm Gräb       
Das ist Spiritualisierung. Aber warum sollen wir denn…

Herbert Schnädelbach       
Ich bin ja noch nicht zu Ende. Die Gnosis kann ja auch Recht haben. Aber der Witz beim Christentum ist doch, da wird gesagt, das Wort ist Fleisch geworden. Inkarnation. Das heißt, Gott hat sich in der Geschichte in einer Person offenbart. Und diesem Jesus wird immer in den Mund gelegt, „wer mich sieht, sieht den Vater“. Das heißt also, wenn man diese ganze geschichtliche Wirklichkeit, Geburt, Kreuzigung, Auferstehung, Himmelfahrt, was immer das sein mag, wenn man das wegstreicht und das rein symbolisch interpretiert, dann haben wir wieder die gute, alte Gnosis, die sagt, es kommt überhaupt nicht drauf an, ob Jesus wirklich am Kreuz gehangen hat, ob er wirklich am Kreuz gestorben ist, es kommt auf den Sinngehalt an. Und ich kann nur wieder sagen, da ist gewiss mit der Identität des Christentums irgendetwas passiert. Und ich interpretiere das wirklich als das spirituelle Ende dessen, was die Menschen über 2000 Jahre als Christen geglaubt haben.

Wilhelm Gräb 
Aber wie sollen denn zufällige historische Tatsachen unbedingte Glaubenswahrheit werden und...

Herbert Schnädelbach       
Das ist die Frage von Kierkegaard.

Wilhelm Gräb 
… tragen können. Das können sie nicht! Deswegen müssen wir ohnehin immer interpretieren, selbst wenn wir auf historisch Tatsächliches zurückgehen - was ja gar nicht nötig ist abzustreiten, dass Jesus gelebt hat, dass die Menschen, die er in seine Nachfolge gezogen hat, in ihm den Gott erkannt haben, den Mensch gewordenen Gott, dass von da aus eben diese Revolutionierung des Gottesgedankens durch das Christentum provoziert wurde. Gott ist eben nicht der, der da im Himmel irgendwo sitzt und die Strippen zieht, sondern er ist einer von uns geworden. Was zugleich in uns nun die Dimension ins Göttliche, in die Transzendenz, in die Verbindung mit Gott eröffnet, die nichts von dieser Welt und aus dieser Welt uns nehmen kann. In Römer acht sagt Paulus, dass nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist unserem Herrn. Genau das ist das Glaubensbekenntnis des Paulus, dass er an der Botschaft von der Auferstehung festmacht. Er hat die Auferstehung ja selber nicht erlebt, für ihn war sie keine historische Tatsache, sondern das Wort von dieser Erkenntnis des Jesus als des Christus als des Mensch gewordenen Gottes. An die Bedeutung dieser Menschwerdung Gottes hängt sich der Glaube, doch nicht an ein historisches Faktum.

Herbert Schnädelbach       
Ja, aber ich meine, das ist…

Wilhelm Gräb 
Was hilft es auch gegenüber dem historischen Jesus, über den irdischen Jesus hinauszugehen. Was hilft mir ein vorbildlicher Mensch, der da vor 2000 Jahren durch Galiläa gewandert ist und ein paar Leute mit sich zu ziehen vermochte, schöne Reden gehalten hat, das eine oder andere erstaunliche Wunder vollbracht hat, denn dieser Jesus ist längst tot.

Herbert Schnädelbach       
Raffael: Auferstehung Christi, Studie, Am Boden hockende Soldaten, 1513
Ich meine, ich werde Sie jetzt bestimmt nicht überzeugen, und Sie mich wahrscheinlich auch nicht. Aber was wir vielleicht doch machen könnten, wären dann die Differenzpunkte mal genau festzuhalten. Natürlich ist das, was Sie sagen alles richtig. Natürlich ist diese Auferstehung ja nicht bloß ein Mirakel im Verstoß gegen alle Naturgesetze, sondern es hat eine Bedeutung. Das ist ganz klar. Aber zu behaupten, das hätte für die frühen Christen und überhaupt für das ganze Christentum jahrhundertelang keine Rolle gespielt, ob das wirklich passiert ist oder nicht, das stimmt einfach nicht. Denn bei Paulus im Korinther 15, da steht doch dann auch, er ist gesehen worden, von Kaiphas, von dem, von 500 anderen usw. Das wird ja immer gerade betont. Gegen die Möglichkeit, die Jünger hätten vielleicht den Leichnam geklaut, wird immer wieder gesagt, das ist wirklich passiert. Gott hat sich in diesem Menschen zu einem historischen Zeitpunkt wirklich so offenbart, dass wir da auch auf historische Punkte kommen. Ich glaube, das hat Käsemann doch schon vor Jahrzehnten gesagt: Den historischen Jesus werden wir nicht einfach los, indem wir sagen, das ist alles uninteressant, was der gemacht und gesagt hat, wichtig ist nur die Bedeutung, die er für bestimmte Leute gehabt hat. Aber vielleicht können wir den Punkt auch erst mal abschließen.

Wilhelm Gräb 
Es geht nicht darum, die Historizität loszuwerden, sondern sie eben nicht von der Bedeutung abzukoppeln. Und die Bedeutung liegt in der Historizität. Aber was wir aus der Historizität gewinnen, ist eben die Bedeutung, die sie uns einstiftet, auch heute noch.

Herbert Schnädelbach       
Das bestreite ich ja nicht.

Jörg Herrmann       
Ich glaube, Bultmann hat doch mal gesagt, was wir über Jesus wissen, das geht so ungefähr auf eine Postkarte. Insofern ist es ja auch nicht so viel.

Herbert Schnädelbach       
Karl Barth hat sogar gesagt, ich kenne diesen Herrn nicht.

Wilhelm Gräb 
Ich meine, da ist man zwar heute in der neutestamentlichen Forschung auch wieder darüber hinaus und eher geneigt, den Evangelienberichten doch mehr abzugewinnen als Bultmann damals meinte. Man ist zum Beispiel dabei, die Erscheinung des Auferstandenen wiederum so mit dem Erleben der Person Jesu zusammenzubringen, dass man sagt, das, was von diesem Menschen ausgegangen ist, muss eine solche Eindrücklichkeit gehabt haben, eine solche – wir würden heute sagen - bewusstseinsprägende, das religiöse Bewusstsein konstituierende Kraft, dass sie eben Erscheinungen, die sie nach der Kreuzigung hatten, dann so deuteten, dass ihnen darin dieser Jesus als der jetzt Lebendige, im Geist Lebendige begegnet ist. Und im Geist ist er ja auch bei uns in der Gemeinde präsent. Ohne den Geist und damit eben ein lebendiges Verhältnis zur Sinnbedeutung der Person Jesu ist sie ohnehin nicht gegenwärtig. Die Gegenwart Gottes oder die Gegenwart Christi im Geist ist eine Gegenwart, die sich artikuliert in unserem Unsselbstverstehen. Und von diesem Uns-Selbst-In-Gott-Verstehen ist dann natürlich auch wiederum unser Weltverstehen und unsere ganze Lebenspraxis geprägt. Daran müssen wir uns halten. Ich möchte die Glaubensinhalte, wie sie im Bekenntnis formuliert sind, nicht vergleichgültigen, sondern frage immer, welches Selbst- und Weltverhältnis drückt sich in diesen Glaubensgehalten aus und in welche Lebensform weisen sie ein? In welche Lebenspraxis? Über die müssten wir uns dann unterhalten. Und da können wir uns im Grunde auch schon wieder an der Art und Weise, wie beispielsweise Martin Luther die Artikel des apostolischen Glaubensbekenntnisses ausgelegt hat, orientieren. Das sind alles Aussagen im Grunde über das Sichselbstverstehen des Christen, indem er sich zu Gott als dem Schöpfer bekennt. Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen. Ich glaube, dass Jesus Christus sei mein Herr, der mich erlöst hat von all meinen Sünden. Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann. Das sind alles im Grunde Selbstaussagen des Glaubens über sich und sein Verhältnis zu dem, woran er glaubt. Es sind keine Aussagen über objektive Tatbestände metaphysischer oder historischer Natur, sondern es sind Explikationen des Sichselbstverstehens des Glaubens, der Glaubenden in der Gemeinschaft der Kirche.

Jörg Herrmann
Vielleicht können wir das einen Moment so stehen lassen und noch einmal den Versuch unternehmen, uns an dieses Problem aus der Perspektive der Gottesfrage heranzupirschen. In dem Buch „Sinnfragen“ betonen Sie ja, dass der Theologe in seiner Gotteslehre eigentlich anthropologisch beginnen sollte. Sie sagen, Gottesvorstellungen sind eine Sache der Interpretation. Aber der anthropologische Sachverhalt, auf den sich diese Interpretationen beziehen, ist doch eigentlich objektiver gedacht. Können Sie das noch etwas ausführen? Wie kann man das verstehen? Auf welche Grunderfahrung ist das Deutewort Gott bezogen? Wie ist da die existenzielle Grunderfahrung, an die dann so eine Interpretation wie „Gott“ deutend anknüpfen kann?

Wilhelm Gräb 
Caspar David Friedrich,  Eule in gotischem Fenster
Wenn man näher über die Gottesfrage handeln möchte, muss man erst deutlich machen, ob wir von außen in einer Beobachterperspektive über Gott reden und den Glauben an ihn oder ob wir in der Teilnehmerperspektive sprechen, in der Perspektive derjenigen, die sich selbst als Glaubende verstehen, sich zu ihrem Glauben bekennen. In der Teilnehmerperspektive, und das ist ja diejenige, die wir normalerweise in unseren Gottesdiensten einnehmen, da reden wir nicht darüber, wie sich der Glaube jetzt begründen lässt, was mit dem Wort Gott gemeint ist, sondern wir reden so von Gott und dem Glauben an ihn, dass eben diese Selbstauslegung des Glaubens, von der ich gerade gesprochen habe, darin zu Wort kommt. Wir legen die biblischen Texte daraufhin aus, wie eben der Glaube darin seine Sprache findet und versuchen, das in die Sprache unserer Zeit hinein zu übersetzen. Aber wir können eben den Glauben in dieser Weise nicht mehr allgemein voraussetzen. Das ist wiederum diese moderne Situation und auch die moderne Reflektionskultur unserer Zeit. Dass für viele gar nicht mehr klar ist, was es heißt zu glauben. Und dass auch das Wort Gott in seiner Sinnbedeutung sich vielfach verflüchtigt hat und nicht mehr erschließt. Deswegen brauchen wir, glaube ich, diese Außenperspektive und müssen über den anthropologischen Ort gehen, über die Bestimmung des anthropologischen Ortes von Glaube und Gott. Da würde ich sagen, Gott ist gewissermaßen ein Abschlusssymbol, ein Deutewort zur Bezeichnung dieses Vonwoher meiner Selbst- und Daseinsgewissheit. Also ein Wort für den Grund meiner Daseins- und Selbstgewissheit und Weltgewissheit, den ich eben wissend - und handelnd schon gar nicht – nicht einholen kann. Ein Wort für diese Vorausgesetztheit in meinem Selbst- und Weltverhältnis.

Herbert Schnädelbach       
Ja, aber ich glaube, von Luther gibt es doch das Wort „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“. Zunächst will ich mal vorausschicken, dass ich diese Teilnehmerperspektive nicht einzunehmen vermag. Ich habe mich ja auch als frommer Atheist geoutet. Also, ich gehöre zu den Menschen, die diese Teilnehmerperspektive nicht einzunehmen vermögen. Somit kann ich nur etwas sagen aus der Perspektive des durchaus sympathisierenden Beobachters. Insofern stimme ich Ihnen da auch zu, dass man diesen Perspektivenunterschied machen muss. Nur frage ich mich dann, sind dann nicht eigentlich alle Religionen gleich gültig? Es gibt dann eigentlich nicht mehr so etwas wie einen Wahrheitsanspruch des Christentums, sondern das ist kontingent und hängt von der jeweiligen Kultur ab. Wenn ich mal diese anthropologische Voraussetzung, dass jeder Mensch eigentlich so etwas wie ein religiöses Bedürfnis hat, unterstelle, (was ich auch noch in Zweifel ziehen könnte, aber das will ich jetzt nicht machen,) dann ist es ja eigentlich zufällig, wie sich dann Religiosität artikuliert in den verschiedenen Kulturen. Und dann fällt natürlich so etwas wie ein propositionaler Wahrheitsanspruch für die religiösen Aussagen weg. Und wenn das stimmt, dann gibt es eigentlich auch keinen spezifischen Wahrheitsanspruch der Theologie als Wissenschaft, sondern dann ist sie halt Religionswissenschaft und ist in Wahrheit eine Kulturwissenschaft. Das will ich alles gar nicht bewerten. Aber ich finde, das ist doch ein ganz großer Unterschied gegenüber dem, was mindestens bis 1800 Konsens in den christlichen Kirchen war. Vielleicht können Sie dazu noch etwas sagen? Beunruhigt Sie das nicht? Aber wenn diese Differenz wegfällt, wenn man nicht mehr sagen kann, in der Theologie wird mit Wahrheitsanspruch von Gott geredet, sondern wenn man sagt, Wahrheitsansprüche kann man nur in der Beobachterperspektive erheben, ja dann ist die Theologie Religionswissenschaft. Na gut, dann ist es das gewesen. Aber das scheint mir dann wieder so ein Untergangssymptom für das traditionelle Christentum zu sein.

Jörg Herrmann       
Ja, oder es ist ein Transformationsphänomen. Das könnte man ja möglicherweise auch …

Caspar David Friedrich, Eule vor MondHerbert Schnädelbach       
Ja, aber worin besteht dann noch die Identität des Christentums? Das weiß ich dann nicht mehr. Wenn das gewissermaßen kontingent ist, ob man sich an der Religion oder an der Religion oder an Mischungen von dem oder dem orientiert und darin dann vielleicht seinen Gott findet. Ulrich Beck hat ja sein Buch genannt „Der eigene Gott“. Das wäre mit dem, was Sie eben gesagt haben, durchaus vereinbar.

Jörg Herrmann       
Ist es dann möglicherweise die Kontingenz von Kulturräumen, die das Religiöse bestimmt?

Wilhelm Gräb 
Ich meine, zunächst mal muss man das doch einfach zugeben, dass sehr viel kontingent ist, wenn nicht sogar alles. So wie Rousseau schon gesagt hat, welche Religion ich habe, ist eine Frage der Geographie, wo ich eben geboren, aufgewachsen, sozialisiert bin. Ich finde, das ist schlechterdings evident, aber für mich keine beunruhigende Angelegenheit. Ich weiß auch nicht, weshalb schon der Wahrheitsanspruch der Theologie und das, was sie von der Religionswissenschaft unterscheidet, dahingefallen sein soll. Ich würde eben da ansetzen, wo es zunächst einmal darum geht, die Vernunft des Glaubens überhaupt zu verteidigen. Und wenn ich da Philosophen finde, die dieses Interesse mit mir als Theologen teilen, ist mir das lieb und recht. Ich hab da gar kein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber solchen Philosophen wie etwa Volker Gerhardt, die das eben auch energisch zu betreiben versuchen. Die Religionen die sind in der Tat historisch kontingente Erscheinungen, die eben unterschiedliche Deutungskulturen im Umgang mit diesen Grundverhältnis, das unserer Weltstellung und unserem Selbstverhältnis eingeschrieben ist, darstellen. Also es sind unterschiedliche Deutungssysteme, die sich auf die impliziten Glaubenssysteme beziehen, die wir leben, die wir praktizieren und die sich dann eben auch den verschiedenen Kulturen und Religionskulturen eingeschrieben haben. Insofern, wenn man dann genauer hinschaut, wird man da auch nicht nur reine Zufälligkeit, nicht nur Kontingenz feststellen im Blick auf die kulturellen Konturen im Grundverhältnis unseres Lebens, dem was sich als Grundüberzeugungen artikuliert, ohne gleich schon in religiösen Systemgebilden und rituellen und symbolischen Praktiken kondensiert zu sein.

Herbert Schnädelbach       
Aber der Punkt ist doch der: Ich meine, was Volker Gerhardt macht und wo Sie sich auch angeschlossen haben, das ist Religionsphilosophie. Und da wird versucht, unabhängig von allen Bekenntnissen so ein allgemeinstes Wesen von Religion und Religiosität festzuhalten. Das führt zu einer totalen Überanstrengung des Begriffs der Religion. Ich meine, es ist ja völlig klar, wir leben alle aus Ressourcen, meinetwegen Sinnressourcen, Orientierungsressourcen, die wir nicht erfunden haben, sondern in die sind wir einsozialisiert wurden. Es ist völlig klar, dass die Wissenschaften zum Beispiel unterstellen, dass die Natur vernünftig erklärt werden kann, dass es keine Wunder gibt. Es gibt doch eine ganz große Menge von Selbstverständlichkeiten, die nicht in Frage zu stellen gerade unser Leben ermöglicht. Aber das alles unter Religion zu subsumieren, da möchte ich doch davor warnen.

Wilhelm Gräb 
Ja, aber genau, weil es Leute gibt wie Sie. Die sich dann auch noch damit brüsten fromme Atheisten zu sein.

Herbert Schnädelbach       
Entschuldigung, damit hab ich mich nicht gebrüstet!

Wilhelm Gräb 
Geschenkt! Nur deswegen, meine ich, kann auch die Theologie nicht darauf verzichten Religionsphilosophie zu betreiben. Oder ich würde dann lieber mit Schleiermacher sagen, philosophische Theologie, die eben, wie Schleiermacher auch sagte, überhalb des Christentums, übergeordnet im logischen Sinne des Wortes, einen Begriff der Religion auszuarbeiten hat. Um dann zu zeigen, wie sich das Christentum und die verschiedenen anderen Religionen, die wir kennen, einzeichnet in diesen Begriff der Religion. Dann hat er aber gesagt, die Theologie, insbesondere in ihrer Gestalt als Glaubenslehre, kann sich nicht einfach jetzt in Fortsetzung ihrer philosophischen Theologie…

Herbert Schnädelbach       
Das ist ja genau mein Punkt!

Wilhelm Gräb 
Ja, wenn Sie dann aber nicht bereit sind, in die Teilnehmerperspektive mit überzuwechseln, dann können Sie eben auch kein weiteres Interesse daran finden, in diese hermeneutischen Operationen einzutreten.

Herbert Schnädelbach       
Das will ich ja auch nicht.

Wilhelm Gräb 
Raphael, Die Philosoghie
Ja, aber da bin ich dann eben Theologe! Und würde dann eben mit Schleiermacher sagen, der Theologe, der begründet den Glauben nicht mehr. Er muss es eben in Personalunion mit dem Religionsphilosophen oder philosophischen Theologen tun. Da wird der Glaube begründet, die Vernunft des Glaubens in diesem allgemeinen Sinne, dass jeder viel mehr glaubt als er weiß. Das wäre da eben zu zeigen. Aber wenn wir uns über den spezifischen Sinn des christlichen Glaubens und das was der Christ glaubt und wie der Christ lebt, unterhalten, dann begründen wir diesen Glauben nicht, weil Glauben sich nicht begründen lässt. Dann wären wir eben wieder beim Wissen. Sondern dann entfalten wir diesen Glauben. Dann stellen wir ihn dar, wie Schleiermacher gesagt hat. Dann führen wir unsere Rituale auf, dann feiern wir unsere Liturgien. Dann legen wir die Heilige Schrift aus, um eben diesem Glauben so eine Sprache zu geben, dass wir uns darin als Glaubende wiedererkennen und dieser Glaube dadurch auch neue Nahrung erhält, wieder neu seiner selbst sich vergewissert findet und einer Lebenspraxis im Geiste dieses Glaubens dann Orientierung gibt.

Herbert Schnädelbach       
Also, jetzt rennen Sie bei mir wirklich offene Türen ein. Sie sagen, ich sei nicht bereit die Teilnehmerperspektive einzunehmen. Da kann ich nur sagen,…

Wilhelm Gräb 
Das haben Sie gesagt!

Herbert Schnädelbach       
Ich habe gesagt, es ist mir nicht möglich, sie einzunehmen. Das ist etwas anderes! Sie werden ja nicht behaupten, dass man sich entschließen kann gläubig zu werden. Das ist ja nicht meine Unbereitschaft oder meine Verstocktheit, dass ich einfach sage, ich kann diese Teilnehmerperspektive nicht einnehmen.

Wilhelm Gräb 
Ja, aber dann dürfen Sie nicht auf der anderen Seite sagen, Sie sehen nicht mehr ein, was den Theologen vom Religionsphilosophen unterscheidet. Der Theologe unterscheidet sich genau dadurch vom Religionsphilosophen, dass er eben die Teilnehmerperspektive einnimmt.

Herbert Schnädelbach       
Ich kann aber doch sehr wohl als Philosoph die Religionsphilosophie, die angeboten wird, kritisieren. Und das hab ich auch gemacht. Und das hat ja mit der Frage Atheismus gar nichts zu tun. Sondern ich glaube eben, dass das irrig ist, was Herr Gerhardt macht und auch das, was Sie da unterschreiben. Das ist philosophisch nicht zu halten. Und Volker Gerhardt sagt sogar, wenn er das entwickelt hat, dieses mit der letzten Sinnressource usw., dann sagt er noch, das sei der wahre Gehalt der christlichen Botschaft. Das können Sie auch nicht unterschreiben. Der Punkt ist wirklich, wenn wir über Religion reden, dann ist das auch ein Thema von Religionsphilosophie. Und da fühl ich mich durchaus kompetent. Ich will Ihnen in das theologische Geschäft, so wie Sie es verstehen, überhaupt nicht reinwirtschaften.

Jörg Herrmann       
Aber die interessante Frage ist ja, ob Sie im Blick auf diese Schnittstelle der Religionsphilosophie, etwa der religionsphilosophischen Seite von Schleiermachers Glaubens- und Religionsverständnis, etwas nachvollziehen können, lassen wir mal Volker Gerhardt vielleicht außen vor. Aber ob das religionsphilosophische Konzept so weit für den Philosophen nachvollziehbar ist oder ob es schon an dem Punkt einen großen Dissens gibt? Ich hatte Sie jetzt so verstanden, dass Sie da weitgehend auch Dissens sehen. Aber vielleicht können wir an dieser Stelle noch einmal versuchen, das aufzuklären und zu vertiefen. Wie sieht dieses religionsphilosophische Feld aus, wenn man an Schleiermacher anknüpft, an seine Erfahrung der schlechthinnigen Abhängigkeit, diese Erfahrung des Sichgegebenseins des Subjektes, was dann im Christlichen weiter interpretiert wird mit dem Deutewort Gott? Vielleicht ist es möglich, dass Sie das noch einmal ein wenig erläutern?

Wilhelm Gräb 
Das hat man eben bei Schleiermacher so schön, dass er auf der einen Seite eben als Philosoph argumentiert. Und wenn er als Philosoph argumentiert eben strikt als Philosoph argumentiert und sagt, jetzt bin ich nicht Theologe. Und dann kommt er als Philosoph in seiner Dialektik dahin, einen Gott zu postulieren als den transzendenten Grund unseres Wissenkönnens, Wissenwollens und auch unseres Handelns. Wir müssen, weil wir auf Wissen hinauswollen, das die Einheit von Denken und Sein zu realisieren anstrebt, letztendlich diese Einheit immer schon voraussetzen. Also, da ist eine Einheit, die wir voraussetzen, als transzendenten Grund postulieren, von dem Schleiermacher zugleich sagt, er schattet sich ab in unserem unmittelbaren Selbstbewusstsein. Wir sind in unserem Selbstbewusstsein genau von der Art, dass wir eben eine Einheit mit uns fühlen. Die ist da, ohne dass wir sie wissend vor uns zu bringen in der Lage sind. Aber, sagt er, in der Philosophie postulieren wir diesen transzendenten Grund anders als in der Frömmigkeit. Er ist im Grunde ein Postulat unseres Denkens. Zugleich sagt Schleiermacher dann eben in der Theologie, wir nehmen nun unseren Ausgangspunkt vom Glauben, von der gelebten Frömmigkeit, in der dieses unmittelbare Selbstbewusstsein immer zusammengehört mit unserem sinnlichen Selbstbewusstsein, mit unsere konkreten Selbst- und Weltverhältnissen in allen Bezügen unseres Daseins. Das beschreibt die Glaubenslehre und definiert darin dann die Frömmigkeit als dieses Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Aber eben nicht schlechthinniger Abhängigkeit von Gott! Das ist ihm ganz wichtig, das deutlich zu machen. Es ist kein Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott, wo dann Gott eben als ein intentionaler Gegenstand dieses transzendentalen Einheitsbewusstseins zu stehen kommt. Sondern er sagt, Gott ist nur der Ausdruck, der symbolische Ausdruck für dieses Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, also für dieses Bewusstsein, dass wir immer schon in unserem Dasein Bedingungen unterliegen, deren wir insgesamt gar nicht wissend und handelnd mächtig sind. Eben in dieser Grundabhängigkeit von Voraussetzungen zu leben, die wir selber nicht herstellen können. Das ist das religiöse Grundverhältnis. Und das drückt sich eben im frommen Bewusstsein der Christen darin aus, dass sie sich zu Gott bekennen, dass ihnen Gott das Gegenüber ist, zu dem sie sich im Gebet wenden, den sie anreden als den Geber aller guten Gaben und als denjenigen, an den sich die Bitten richten. Aber wohlgemerkt: immer im Namen Jesu, das heißt eben in einer bestimmten Richtung, die dieses Gottesbewusstsein in der christlichen Deutungskultur gewonnen hat.

Jörg Herrmann 
Das heißt also, um den Versuch zu machen, es ganz kurz zusammenzufassen, Gott ist nur eine mögliche Interpretation dieser Wahrnehmung des Sichnichtselbstsogesetzthabens, wie Schleiermacher es unter anderem bezeichnet. Kann damit der Philosoph etwas anfangen?

Herbert Schnädelbach       
Gustave Doré: Bibelillustrationen: Da sprach Gott: »Es werde Licht»
Ja, ich möchte nochmal auf den Untertitel unserer Veranstaltung kommen: Wie weiter mit Gott? Und aus der Beobachterperspektive ist das ja eine ganz interessante Geschichte gewesen: unser christlicher Gott, ursprünglich eine Stimme aus der Wüste, ein nicht Sichtbarer, der nur durch seine Stimme sich den Menschen zuwendet. Dann ist es ein Clan-Gott für Abraham. Dann ist es ein Volksgott für das alte Israel, aber weit entfernt noch von so etwas wie Monotheismus. Und dann wird das verallgemeinert und dann kommt die Offenbarung in Jesus. Dann wird das kontaminiert mit den Gottesbeweisen, mit der Aristoteles-Rezeption. Da haben wir was unglaublich Kompliziertes geerbt. Und man kann doch sagen, alle anschaulichen, alle anthropomorphen Vorstellungen, selbst die Vorstellung des Vaters treten doch immer mehr in den Hintergrund. Und dann kommen wir bei Schleiermacher an. Ich finde den ja auch ganz diplomatisch für die Moderne. Und dann ist Gott plötzlich nur noch ein Symbol, ein Symbolwort. Alles, was man damit assoziieren möchte aus der monotheistischen Tradition, alles das, was die Bibel davon sagt, das ist alles gar nicht mehr irgendwie wahr, sondern das sind nur noch Bedeutungsgehalte, die man dann mit diesem Symbolwort verbinden kann. Also, so weit ist es damit gekommen. Und wie soll’s jetzt weitergehen?

Wilhelm Gräb 
Ja, aber das war doch noch nie anders. Das war schon immer ein Symbolwort.

Herbert Schnädelbach       
Ja, also, das muss ich erst mal verdauen. Aber der Punkt ist nur einfach, wie soll es denn nun weitergehen? Was passiert denn noch alles? Ich meine, wir haben den Gott der Philosophen. Wir haben den Gott vom Glauben der Philosophen bei Jaspers, da ist Gott nur noch eine Chiffre. Aber wie soll man denn sagen, Vater unser, wenn Sie sagen, Vater, das macht ja gar keinen Sinn, und was wir unter Gott verstehen ist ein Symbol, ein Grenzwort. Schleiermacher sagt ja sogar, das hab ich nochmal nachgelesen, Gott ist nur das objektive Pendant zu unseren subjektiven religiösen Zuständen. Ich kann nur sagen, ich sehe, dass das immer mehr verdampft. Und alles das, was Sie formulieren als das religiöse Grunderlebnis oder die religiöse Grundbeschaffenheit, das kann ich mir als Philosoph auch ganz unabhängig von irgendeiner Offenbarungsreligion vorstellen. Zum Beispiel, etwas wozu ich sehr neige, ist dieses unglaubliche Wort, das mal Freud zitiert hat aus dem Danton von Büchner, wo der dann sagt, „wir werden schon nicht aus der Welt fallen, wir sind einmal drin“. Das ist für mich auch ein religiöser Satz. Und das hat dann mit Offenbarung oder so gar nichts zu tun. Aber das würde alles zu dem passen, was Sie gesagt haben.

Jörg Herrmann       
Ja, vielleicht ist ja Offenbarung in bestimmter Hinsicht auch gar nicht so wichtig.

Wilhelm Gräb 
Man muss doch auch wieder weiterfragen. Offenbarung ist doch ein Erschließungsgeschehen. Es geht mir etwas auf, es zeigt sich mir etwas. Aber ein Erschließungsgeschehen findet doch nur dort statt, wo ich eben als dieses Subjekt auch mit dran beteiligt bin. Wenn ich eine Offenbarung als Offenbarung glauben muss, sozusagen auf Treu und Glauben, weil es da geschrieben steht, dass andere eine Offenbarung hatten, eine Erscheinung, in der sich ihnen Gott gezeigt hat, dann ist es doch nicht meine Offenbarung. Dann ist es ein Autoritätsglaube Behauptungen gegenüber, die auf Offenbarung verweisen. Mein Interesse, die Subjektivität zur Geltung zu bringen, ist im Grunde genau ein solches, das auf Offenbarung zielt, auf ein Erschließungsgeschehen, an dem auch ich, an dem wir alle heute in den Bezügen unseres Lebens immer noch teilhaben können. Ich könnte dann vielleicht auch sagen, ich würde es nicht Gnosis nennen, aber ein Christentum des Geistes, für das ich plädiere. So geht es weiter mit Gott, dass wir ihn nicht in ein Mausoleum hineinsperren, mit biblischen Buchstaben die Tür zunageln und sagen, Gott, das ist Geschichte. Nein, diese Geschichte geht fort, seine Offenbarung, seine Selbstbezeugung in meinem Bewusstsein.

Jörg Herrmann       
Obwohl, es gibt noch einen Stachel, der jetzt noch in mir arbeitet, von dem Votum her von Herrn Schnädelbach. Das ist die Frage: Wenn ich jetzt auf der einen Seite das Vaterunser bete und auf der anderen Seite religionsphilosophisch über den Glauben und Gott reflektiere und zum Beispiel - wie der Theologe Ulrich Barth es einmal formuliert hat – denke, Gott ist die Idee des Unbedingten. Liegt das dann nicht sehr weit auseinander? Einerseits in der Religionspraxis das Vaterunser zu beten und auf der anderen Seite religionsphilosophisch zu denken, Gott ist die Idee des Unbedingten?

Wilhelm Gräb 
Aber gerade Ulrich Barth hat ja immer deutlich gemacht, das ist ein wichtiger Punkt bei ihm, dass man sich davor hüten muss, diesen philosophischen Gedanken der Idee des Unbedingten in Letztbegründungszusammenhängen eben in eins zu setzen und zu verwechseln mit der gelebten Religion, mit der Frömmigkeit des praktizierten Glaubens. Denn es geht beim Glauben nicht um Letztbegründungsfragen, sondern um ein lebendiges Sichverstehen von Menschen im Horizont eines für sie Letztgültigen, unbedingt Wichtigen, von etwas, woran ihr Herz hängt, von woher sie sich dann auch in ihrer Lebenspraxis bestimmen lassen. Es geht um etwas, was sehr viel mehr in Gefühlen, in dem was Schleiermacher religiöse Gemütszustände nennt, seinen praktischen Ort hat als in Bewegungen des Gedankens. Wir müssen den spekulativen Gedanken unterschieden halten von den Bewegungen des religiösen Gefühls. Obwohl für Schleiermacher dann eben das zumindest auf dem Sterbebett in eins zu gehen vermochte. Aber es ist eben ganz, ganz wichtig, das nicht miteinander zu vermischen. Und dann hat man doch auch gar keine Probleme dabei, dass ich selbstverständlich im Gottesdienst in der Anrede des Gebets mich nicht an das Unbedingte wende oder gar an die Idee des Unbedingten, sondern eben an den Gottvater, den Vater Jesu Christi, der mir aber völlig eins ist mit dem Gott der Philosophen, in meinem Denken der Sache. Ich kann zum Gott der Philosophen nicht beten, aber dieser Gott der Philosophen ist kein anderer Gott.

Herbert Schnädelbach       
Das ist jetzt wieder eine religionsphilosophische These, die man sehr kontrovers diskutieren kann. Aber ich will Sie wirklich nochmal ganz im Ernst fragen, kann man denn unter Bedingungen der Moderne wirklich Christ sein ohne Theologie studiert zu haben?

Wilhelm Gräb 
William Hogarth: Satire auf Kirbys »Perspektive«
Ja, wenn ich das auseinanderhalte, auf der einen Seite die Außenperspektive, in der ich philosophische Begründungsleistungen unternehme, eben um den Glauben zu rechtfertigen, um die Vernunft des Glaubens zu erweisen, dass das also kein Obskurantismus sein muss, wenn ein Mensch sich zu seinem Glauben bekennt. Wenn ich das unterschieden halte von der Praxis eines Lebens auf der anderen Seite, in der der Glaube ja dasjenige ist, was auf der anderen Seite diesem Leben seine Lebensgewissheit einstiftet, dieses Leben letztendlich lebensfähig macht, dann ist doch da gar kein Problem. Also, dass ich morgen, auch wenn mir überhaupt nicht danach sein wird, trotzdem wieder froh und munter aus dem Bett springe und an mein Tagewerk gehe, ist für mich eine Tat des Glaubens. Dieser Glaube, aus dem meine Lebens- und Daseinsgewissheit erwächst, den sehe ich immer wieder neu artikuliert und darin eben dann auch gestärkt, nicht begründet, aber in Worte gefasst, so symbolisch die auch immer sein mögen, wenn wir Gottesdienst feiern.

Jörg Hermann 
Gut, aber dann kann man an dieser Stelle vielleicht mal festhalten, dass bei Wilhelm Gräb die Reflexion den Glauben eher stärkt und bei Herbert Schnädelbach die Reflexion den Glauben eher marginalisiert, angreift und langfristig erodiert. So hab ich jedenfalls Ihre Äußerungen dazu verstanden.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/67/hgs2.htm
© Herrmann / Gräb / Schnädelbach, 2010