Sünde theologisch

Markus Göschel

1. mea culpa

Schuld und Sünde sind zunächst Gefühle: etwas ist nicht so, wie es sein sollte, und ich bin dafür verantwortlich. Diese Regungen sind uns vertraut wie kaum ein anderes Gefühl und hängen eng mit weiteren Emotionen zusammen: Wut (auf sich selbst und andere), Angst (zur Rechenschaft gezogen zu werden), Traurigkeit (über das Vertane), Scham (vor Nicht-Schuldigen), Verachtung oder Empathie (für ebenfalls Schuldige). Ja, dieses Gefühl ist dem menschlichen Erleben so verinnerlicht, dass Paul Ekman es 1999 sogar als eine basic emotion identifiziert hat.

Die grundlegende Bedeutung der Schuld und des menschlichen Versagen ist ein Dauerbrenner und eine kontinuierliche Quelle der Inspiration für Künstler und Dichter zu allen Zeiten: in der Antike sticht sich König Ödipus vor Schmerz über diese Einsicht seine Augen aus[1]; Shakespeares Othello (1603) ersticht sich selbst, nachdem er seine unschuldige Desdemona zu Tode gebracht hat; und schließlich der Mörder in Edgar Allen Poes The Tell-Tale Heart, der, von Wahnvorstellungen getrieben, vor den Ermittlern seine perfekte Fassade niederreißt und bekennt – um nur einige prominente Beispiele aus der Literaturgeschichte zu nennen.

Auch in der christlichen Tradition ist die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der menschlichen Schuld und Sünde eine der umfangreichsten Thematiken: Judas erhängt sich, da er seine eigene Schuld des Verrates nicht ertragen kann[2]; Augustins Confessiones setzt sich maßgeblich mit dem Problem der Sünde, Versuchung und deren Erliegen auseinander; seit dem 11. Jhd. ist der Satz mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa zentraler Teil des liturgischen Schuldbekenntnisses; Martin Luthers frühes Denken kreiste bekanntlich elementar um dieses Problem[3].

Schuld und Sünde gehören auf der einen Weise zu unseren innersten Erfahrungen, mit denen wir von Kindheit an vertraut sind; auch die religiöse Konnotation dieses Phänomens ist aus dem kulturellen Gedächtnis des christlichen Abendlandes – und nicht nur dessen – nicht mehr wegzudenken. Doch gerade auf diesem Gebiet des Spirituellem und Theologischem zwischen Gott und Mensch ist es oft umso kryptischer, worum es dabei geht, was denn Sünde ist. Da es sich in dieser Perspektive um religiöse Kategorien des Christentums handelt, gehen wir zu den Anfängen dieser Religion zurück:

2. Vergehen und Sünden

Sünde, in den heutigen Bibelausgaben und -erläuterungen oft synonym mit den Begriffen der „Schuld“ und des „Vergehens“ gehandhabt, ist die geläufigste deutsche Wiedergabemöglichkeit für das hebräische chatá und das altgriechische hamartía.

Von der ursprünglichen Wortbedeutung haben wir es bei chatá mit einem Tätigkeitswort zu tun, nämlich verfehlen, wie ein den Feind verfehlender Pfeil, ein das Ziel verfehlender Schuss. Das bedeutet: die Vorstellung dahinter ist eine logistisch-militärische, dass ein gerichtetes Objekt seine bestimmte Richtung, sein Ziel verfehlt und damit seiner Bestimmung nicht gerecht wird. Auf den Menschen übertragen, findet diese Metapher in der Hebräischen Bibel da Anwendung, wo er

  • die Tora als gute Lebensweisung Gottes verfehlt, damit
  • Gottes Plan, Auftrag und Sinn für sein Leben verfehlt, und so
  • schließlich sich selbst verfehlt.

Viele Schriften denken dabei vom der zedaká ausgehend, in deutschen Bibeln meist missverständlich als Gerechtigkeit wiedergegeben[4]: die geschaffene Welt enthalte eine Ordnung[5], einen inhärent gestifteten Sinn, zu dem es sich adäquat zu verhalten gilt. Die Übertretung dieser Ordnung wird in der jüdischen Theologie auch bis heute als averá bezeichnet (hebr. Übertretung).

Anders die griechischen Schriften des Neuen Testaments: in der paulinischen Theologie, die als Interpretation des Christus-Geschehens für seine weitere Entfaltung prägender geworden ist als irgendein anderer Entwurf, findet sich die Differenzierung im Numerus:

  • beim Plural hamartíai handelt es sich um konkreten Vergehen, auch im Sinne der Hebräischen Bibel. Zentral ist auch hier die Vorstellung einer Abweichung vom göttlichen Gebot, wodurch der Mensch fehlt.
  • dem Singular hamartía hingegen entspricht eine „überindividuelle Macht“, ein „dem Machtbereich Christi gegenüberstehenden Machtbereich“[6]; der Glaube befreie den Menschen von der Herrschaft der Sünde[7].

Das bedeutet: die Sünde ist nach neutestamentlicher Auffassung eine gottesfeindliche Macht jenseits des Einzelnen; sie manifestiert und verwirklicht sich in den konkreten Vergehen jedes Menschen und wirkt dem Gottesverhältnis entgegengesetzt.

Dazu eine traditionsgeschichtliche Anmerkung: die uralte Vorstellung von einem Reich des Bösen (vgl. nur die Metaphorik und Mythologie des Zoroastrismus) wird in der christlichen Populartheologie später gern mit dem Teufel identifiziert. Denn der in der Hebräische Bibel ethisch zumindest neutrale und zu den „Gottessöhnen“[8] zählende satán (hebr. Ankläger) wurde in christliche Rezeption des Hiob- und Sacharjabuches zum Urbösen und diabolischen Verleumder (altgr. diabállo = durcheinander werfen, Chaos stiften). Vor dem Hintergrund von Jes 14 und Hes 18 wurde Lk 10,18[9] als Höllensturz des gefallenen Engels interpretiert, der nun die Welt in Chaos stürzen möchte[10] und umhergehe wie ein brüllender Löwe, um Menschen zu verschlingen[11]. Besonders die Vorstellung dieser beiden gegenübergestellten Reiche von guter und böser Macht wurde mit Augustins de civitas dei über Jahrhunderte wirksam.

3. das Gute am Schlechten

Ein Rabbiner erzählte mir in einem Lehrgespräch vor wenigen Jahren, dass das Christentum sich zu sehr auf das Negative versteife, der Mensch sei ein gutes Wesen, das es positiv zu würdigen gelte; ich antwortete ihm daraufhin, dass Identifizierung der Sünden in der christlichen Theologie im Gegenteil ein gänzlich konstruktiv gemeintes Unternehmen ist: gerichtet darauf, die Sünde an mir und vor mir zu erkennen[12]. Biblischer ausgedrückt: „So ist also das Gesetz heilig, und das Gebot heilig, gerecht und gut.“[13]

Gerade im ökumenischen Dialog hört man nicht selten, inzwischen jedoch weniger, Paulus hätte die jüdische Tora-Vorstellung einer guten Lebensweisung Gottes im Christentum zum bösen Gesetz pervertiert und damit das Kernstück jüdischen Glaubens abgekanzelt; das stimmt so nicht, audiatur et altera pars. Aber auch wie als Mahnmal gegen protestantischen Fundamentalismus, der eine missverstandene Rechtfertigung als Befreiung aller Verpflichtungen feiern möchte, schreibt Paulus ein für allemal klarstellend: „Das Gebot ist heilig, gerecht und gut“. Auch wenn man Paulus mit Friedrich Nietzsche als den „Erfinder des Christentums“[14], vom Glauben von Jesus zum Glauben an Jesus betrachten möchte, ist keineswegs davon auszugehen, dass er alle Brücken zum Judentum abgebrochen hat, im Gegenteil – welche lobenderen Worte hätte denn ein gläubiger Jude, um die Tora zu preisen?

Zurück zur Ausgangsfrage: Wozu Sündenidentifizierung? Schon allein aus der Notwendigkeit, das Gute zu definieren! Denn es gibt zwei Möglichkeiten, Verhalten zu beeinflussen: durch positive oder negative Verstärker (operante Konditionierung).

So kann man beispielsweise wie der Neuplatoniker Plotin (ca. 205-270) davon ausgehen, dass Schlechtes lediglich Abwesenheit von Gutem ist[15] und so gewissermaßen das Negative negativ definieren. Das bedeutet für die Ethik: nur positive Handlungsanweisungen, Gebote.

Andererseits kann man auch prinzipiell nur Verbote aussprechen, um das Spektrum menschenmöglichen Verhalten einzuschränken: nur negative Handlungsanweisungen, Verbote.

Die bessere Lösung liegt hier wieder einmal in einem gesunden Mittelmaß. Ganz praktisch betrachtet, brauchen beispielsweise Kleinkinder gesunde (!) Grenzen, innerhalb derer sie wissen, bis wohin sie gehen können, und sich zur Entfaltung anregen lassen. Durch das Lernen dieser Grenzen, Regeln und natürlich auch Verbote, lernen Kinder einerseits vom Verbotenen; und andererseits, mindestens ebenso wertvoll, vom Gebotenen, Erwarteten und Unterstützten, was das Erlaubte und letztlich für sie Gute ist, im Idealfall – ein konstruktives Anliegen maßvoller und gesunder Pädagogik, zumindest in der Theorie. Die Crux liegt, theologisch gesprochen, darin, das Maß zu halten und auf keiner Seite in Bevormundung abzuweichen. So finden sich in der Tora nach klassischer Zählung 248 positive Handlungsanweisungen: Gebote, und 365 negative: Verbote. Das mag viel klingen (613), wenn es auswendig gelernt werden muss, ist es aber in der praktischen Ethik nicht, wenn es auf die Denk- und Undenkbarkeiten der unzähligen Einzelfälle des Lebens angewandt wird. Bekanntes und kontrovers diskutiertes Beispiel: ist Blutspende nach der Tora erlaubt? Und hier liegt wieder ein Grundproblem jeder Ethik:

  • habe ich eine Kasualethik, die in extremo jeden nur vorstellbaren Fall kasuistisch unmissverständlich abgedeckt haben will – und damit die Freiheit radikal einschränkt?
  • oder habe ich eine Prinzipienethik, die mir Richtlinien vorgibt – und damit dem Missbrauch Tür und Tor öffnet?    

Eine vertrackte Frage, faktisch sind die monotheistischen Weltreligionen den ersten Weg gegangen: jüdische Halachah, christliches ius canonicum und muslimische Shari’a – alles gut gemeinte Versuche, meine ich, die bis dahin überlieferten Schriften zu präzisieren, zu erweitern, auch um Sünde zu identifizieren und ihr zu entgehen.

3.1 Todsünden

Einen der prominentesten Versuche, Sünde im Kern zu entlarven, stellt Euágrios‘ von Pontus (345-399) Entwurf der Achtlasterlehre dar[16]: eine Art kommentierter Katalog verwerflicher innerer Regungen und Charaktereigenschaften (nicht Tätigkeiten!), die einen angehenden Wüstenmönch zur Sünde verleiten können. Dieser wurde zuerst unter Johannes Cassian (360-435), dann unter Papst Gregor dem Großen (590-604) in die heute bekannte Form der Kapitalsünden weiterbearbeitet, besser und missverständlicher als die sieben Todsünden bekannt:

  1. Hochmut – nicht mir zustehende Zufriedenheit, sondern eine narzisstische Nivellierung und Nicht-Anerkennung anderer;
  2. Gier – nicht natürliches Bestreben, vorwärts zu kommen, sondern ein Mehr um des Mehr willen;
  3. Wollust – nicht gesunde Sexualität, sondern eine den Menschen hintanstellende Ausprägung;   
  4. Zorn – nicht berechtigte Wut aufgrund von Ungerechtigkeit, sondern ein egoistischer Wunsch nach Leid des anderen; 
  5. Maßlosigkeit – nicht angenehmer Genuss, sondern ein egozentrischer Kontrollverlust sich selbst gegenüber;    
  6. Neid – nicht Hegen materieller Wünsche, sondern eine schädliche Orientierung am Besitz des Anderen, bis hin zur Missgunst;   
  7. Akedía – nicht angemessener Rückzug, sondern ein Nichtengagement, wo es nötig wäre.

Was ist also die Aussage? Es geht um Charaktereigenschaften, die zur Sünde führen. Allen gemeinsam ist, dass sie insofern selbstsüchtig sind (egozentrisch), als dass sie die natürliche Ausrichtung des Menschen auf seine Gemeinschaft (anthropozentrisch) und auf seine Gottheit (theozentrisch) den Menschen hintanstellen. Hintan wofür?

Um diesen – in einem gesunden Maß sinnvollen, berechtigten und guten – Regung soweit nachzugehen, dass das daraus resultierende Tätigkeit ein Selbstläufer wird, der um seiner selbst willen weiter verfolgt wird.

Wieder im Hinblick auf den Menschen bedeutet das, dass der (eigene) Mensch für aus diesen Regungen resultierende Tätigkeiten instrumentalisiert wird. Die entscheidende Haltung: Sinn und Ziel der Handlung bilden keine Kreisbewegung, die vom Menschen ausgeht und zu ihm zurückführt, sondern der Mensch dient als Mittel zum Zweck, und ist nicht Zweck.[17]

Auch kann man Euágrios‘ oktò logismoí – acht [verführende] Gedanken, woran man erkennt, dass es sich hierbei um versuchende Regungen handelt, nicht Sünden praktizierte Vergehen – anders verstehen: anhand der Bedeutung, die er der Akedía in seinem Hauptwerk Praktikós einräumt[18], lässt sich überlegen, ob nicht gerade ein Nichtengagement im tieferen Sinne die die Verführung ist, die alle anderen nach sich zieht und somit zum Grundproblem der Menschheit wird? Setzt doch gerade die elementare Einsicht, dass alles seine Zeit hat, voraus, dass zum Handeln ein Denken gehört: eine Selbstregulation, zwischen seinen notwendigen Bedürfnisse seiner Natur und den zusätzlichen Wünschen seines Willens, seinen negativen Ängsten und positiven Hoffnungen; sich diese Mühe dieser Reflexion nicht zu machen, ist Akedía.

Ebenso in der Tiefenpsychologie die interne Triangulierung, wenn ich für eine Regulierung von äußeren und inneren Ansprüchen zuerst in eine dritte Position gleichsam außerhalb meiner selbst zur Wahrnehmung treten muss (tertium comparationis – extra nos!), von der aus es gilt, abzuwägen und einen gesunden Kompromiss zu finden; sich diese Mühe der Reflexion nicht zu machen, ist Akedía.

Engagement da wo es nötig ist, setzt nämlich das Engagement voraus, dies vom Unnötigen unterscheiden zu wollen. Gerade die Akedía ist deshalb für den in sozialen und geistlichen[19] Berufen weit verbreiteten Helferkomplex so wichtig: zwar fallen „die hilflosen Helfer“[20] zuerst durch ein übermäßig großes Engagement für andere auf, doch die andere Seite der ohnehin kaum verliehenen Medaille ist häufig eine unmäßige erweiterte Selbstvernachlässigung. Gerade diese Unverhältnismäßigkeit ist es, auf die Kapitalsünden hinweisen und geradezu gutgemeint warnen: Mach’s wie Gott, werde Mensch!

Schließlich schärft Euágrios‘ Auflistung, vor allem in der uns von Papst Gregor überlieferten Form, die Wahrnehmung für das rechte Maß: die platonische Kardinaltugend der temperamentia, die Aristoteles als mesotês (altgr. Mitte) zentral in die philosophische Ethik eingebracht hat – Tugend sei das Mittlere zwischen zwei Extremen[21] –, erscheint umso mehr als das elementare Kriterium der Unterscheidung von Maß und Maßlosigkeit, nützlich und schädlich, gut und böse. Auch dieser Baum der Erkenntnis hat kulturgeschichtlich weite Zweige hervorgebracht: so stand medém ágan (altgr. Nichts zuviel!) treffenderweise neben dem gnôthi sautón (altgr. Erkenne dich selbst!) an der Vorhalle des berühmten Apollotempels zu Delphi; auch wird die Erinnerung an den manchmal belächelten Paracelsus (1493-1541) heute durch sein dosis sola facit venenum[22] (lat. Allein die Dosis macht ein Gift) auch in den Naturwissenschaften weiter wachgehalten.

3.2 des Pudels Kern

Nachdem Euágrios nun intrapsychische Neigungen identifiziert hat – dass er sie dabei als daímon bezeichnet hat, tut unserem Verständnis keinen Abbruch, denn das altgriechische Wort kann einen äußerlichen bösen Geist meinen wie eine innerliche Mentalität (etwa „hier herrscht der Geist der Einsicht“) –, die einen Menschen ab einer gewissen Ausprägung zur Sünde verleiten können, bringt uns einen entscheidenden Schritt näher zur Frage, was denn eigentlich Sünde und Schuld sind. Dazu gibt es zwei profilierte Antworten:

3.2.1 existentielle Schuld und Buridans Esel

Martin Heidegger sagt, liest man ihn vor diesem Horizont, dass wir ganz praktisch gar keine Wahl haben, als uns zu verschuldigen – insofern wir in Raum und Zeit überhaupt nur existieren, müssen wir sündigen. Warum? Die Crux liegt auch hier wieder am „in Raum und Zeit“. Ganz praktisch und in freier Interpretation: meine Zeit kann ich nicht wählen, meinen Ort schon. Wenn ich also in der mir vorgegebenen Zeit einen Ort wähle, kann ich nicht an einem anderen sein. Wenn ich dies tue, kann ich also nicht jenes tun; wenn ich hier bin, kann ich nicht dort sein. Allein durch meine existentielle Beschränkung, in Raum und Zeit existieren zu müssen, bin ich gezwungen, eine Wahl zu treffen: fürs Hiersein oder Dortsein. Und allein dadurch, dass ich nicht zugleich an zwei Orten sein kann, verschulde ich mich im Hiersein eben am Dortsein, und im Tun von Diesem eben am Unterlassen von Jenem – ohne Absicht, aber ohne Alternative. Heidegger nennt das Existentialschuld bzw. existentielle Schuld[23], weil sie der menschlichen Existenz fundamental zueigen ist.

Klingt das abstrakt und unwirklich? Keineswegs: gerade dieses Denkmuster, zu sehr zu Herzen genommen, ist es, was eine Angstneurose mitbegründet: die bedrängende Angst, etwas falsch zu machen; auch in dem Bewusstsein, dass meine Zeit begrenzt ist und meine Entscheidungen daher tatsächlich eine mitunter eine Dimension der Relevanz haben und vor allem, einmal getroffen, eine unumkehrbare Unabänderlichkeit – was einmal geschehen ist, wird immer geschehen sein. Das nimmt mir unweigerlich jegliche Handlungsmöglichkeiten darüber und nimmt damit die völlige Handlungsunfähigkeit im eigenen Tod vorweg: ich werde einmal sterben, kann daran nichts ändern und mein Leben im Handeln wird nicht nur völlig eingeschränkt, sondern gänzlich ausgelöscht werden. In meinem handelnden Sein wird mir also mein Nichtsein schon jetzt vorweggenommen und macht mir Angst. Die christliche Perspektive bestünde darin, dass nicht das Nicht-Sein (Tod) das Letztliche, Gültige und Überlegene ist, sondern das Sein (Leben / Auferstehung)[24]; diese Perspektive begründet „Mut zum Sein“[25].

Interessanterweise geht gerade die Angst vor der Handlung nicht selten mit dem Drang zur Handlung einher, der Zwangsstörung: Dinge tun zu müssen, deren man sich sicher ist. Grundlegend dabei ist die Annahme, dass das negative Sanktionspotential und die (innere?) Bestrafung der falschen Entscheidung – in unserem Horizont „Sünde“, so erzwungen die Entscheidung auch sein mag – größer ist als das der richtigen, sodass kein (innerer?) Tadel das größte Lob wird, keine Bestrafung der größte Lohn. Das wiederum setzt voraus, dass ich die Situation mit ihren Möglichkeiten und Potentialen möglichst genau einschätzen kann und mithilfe aller möglichen internalisierten Regeln, Ge- und Verbote die beste, die „richtige“ Fragestellung ermitteln kann. Wenn mir das nicht gelingt, kann ich auch nicht die „richtige“ Entscheidung treffen, weil keine Alternative bedeutend besser ist als die andere.    

Glücklicherweise ist der Mensch ein psychosoziales Wesen mit Gefühlen und Intuitionen, sodass er im Allgemeinen auch unter diesen Voraussetzungen auf gut Glück eine Entscheidung treffen wird. Andernfalls wäre er bei vergleichsweiser Gleichwertigkeit der Alternativen rational – letztlich – zur Untätigkeit verdammt, da er doch konstant fürchten müsste, die falsche Entscheidung zu treffen.[26] In Anlehnung an den moralischen Determinismus Jean Buridans (ca. 1300-1358), eines der einflussreichsten Philosophen des Spätmittelalters, wurde dieses gar nicht so theoretische Problem in das pointierte Bild eines rationalen Esels gebracht, der in gleicher Entfernung von zwei Heuhaufen entfernt steht – und aus der Unfähigkeit heraus, eine zufällige Entscheidung zu treffen, was rational nicht die beste der Alternativen sein kann und damit zwangsläufig imperfekt, suboptimal und falsch sein muss, verhungert: Buridans Esel.[27]

3.2.2 Einschränkungen

Nachdem Euágrios uns auf die Versuchungen im Inneren aufmerksam gemacht hat und wir die Möglichkeit zur Kenntnis genommen haben, dass der Mensch, unter einer existentiell- absoluten Perspektive, in der Praxis nur fehlen kann, verlangt es doch nach einer differenzierteren Nahaufnahme: ab wann ist Sünde Sünde?       

Wenn nicht der gesunde Menschenverstand, so stellt doch schon die lebensweltliche Erfahrung infrage, ob denn ein Vergehen per se unabhängig von allen Umständen verdammt werden muss; oder ob es nicht vielmehr angebracht ist, notwendige Einschränkungen zu treffen. Dafür drängen sich zwei Kriterien auf[28]:

  1. Bewusstsein: das Vergehen in dem Wissen begangen werden, dass das Falsche, was ich tue, in dem Wissen getan wird, dass es falsch ist[29]. Wenn ich nicht vom Verbotenen wüsste, das es verboten ist, würde ich es wohl kaum als Verbotenes identifizieren[30]. Dagegen lässt sich der Gedanke eines Naturrechts formulieren, das dem Menschen, unabhängig von äußeren Instanzen, kraft der Vernunft, aus sich selbst ableitbare Regeln vorgibt[31]. Beide haben etwas für sich.
  2. Vorsatz: auch in heutigen Gerichtsverfahren eine für das Strafmaß zentrale Fragestellung, ob der Delinquent absichtlich-geplant aus eigenem Willen gehandelt hat oder spontan-affektiv „aus der Situation heraus“ oder gar vor einer dritten Instanz dazu gezwungen wird.

Beides wie gesagt bis in die heutige juridische Dimension der Kriminalistik maßgebende Unterscheidungen, auch wenn sie in der Praxis nicht so klar durchzuhalten sind. Diese Spannung zwischen Theorie und Umsetzung wird auch im „mosaischen“ Gesetz deutlich, wo ein eigener Passus für nicht näher definierte „aus Versehen begangene“ Vergehen eingeführt wird[32] - und klar wird, dass die in der römischen Moraltheologie sogenannten lässlichen Sünden nicht gleichwertig als zur Verdammnis führende Sünden zu werten, mithin anzuerkennen sind.

3.2.3 ein Evangelium

Von den äußeren und inneren Rahmenbedingungen abgesehen, ist Sünde noch präziser, biblisch definiert anomía[33]: Unrecht und Gesetzlosigkeit. Wovon? Man kann jetzt die 248 Gebote und 365 Verbote zu Rate ziehen, gibt es keine genauere Definition als Verfehlung im Einzelfall? Wärmer und auch präziser wird es bei den neutestamentlichen Laster-[34] und Tugendkatalogen[35]. Auch hier tut sich wie beim Dekalog die Frage auf, ob es denn nicht ein gemeinsames Zentrum gibt, in dem sich diese Schlaglichter konzentrieren lassen; schließlich heißt es beim Propheten Micha geradezu väterlich: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert“[36]. Was ist nun das Gebot, dessen Gegenteil Sünde ist? Der johanneische Jesus sagt dazu, historisch nicht ganz korrekt, aber inhaltlich medias in res: „ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt“. Auf gleicher (nämlich: gut jüdischer) Linie liegt Jesu Zusammenfassung der Gebote der Hebräischen Bibel: „Das erste [Gebot] ist das: >Höre, Israel, Yhwh unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft.< Das andere ist dies: >Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.<“[37] Damit schließt sich der Kreis zu Micha: „Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“[38]

Aber halt: Jesus sagt, sich dabei innerhalb des Judentums bewegend[39], das höchste positive Gebot ist Liebe. Er befiehlt somit Liebe – kann man das? Unsere Antwort muss, will man weder in fundamentalistische Verbalinspiration verfallen („Was in der Bibel steht, ist ewige Wahrheit, die uneingeschränkt gilt.“) noch diese beiden Kernelemente des Judentums als kategorisch unmöglich aburteilen (wie hätten sich Monotheismus und Nächstenliebe dann derart theologisch behaupten können?), eine differenzierte sein:

  • das Gefühl (altgr. éros), die existentielle Seelenberührung der Liebe, wie immer man diese anthropologische Konstante bestimmt, ereignet sich vorrangig auf emotionaler Ebene und kann selbstverständlich nicht befohlen werden; wie würde das Leben dann aussehen?.. Nein, das wäre unrealistisch zu kurz gegriffen, vielmehr geht es um     
  • die Haltung (altgr. agapé): nicht das Tun von diesem oder das Unterlassen von jenem ist die Pointe der Bergpredigt[40]. Sondern die Haltung, aus der christlicher Glaube sich als Leben und Handeln in der Welt verwirklicht. Gerade diese Haltung, nicht etwa ein alternativer Lebensstil – wovon auch?, stammte doch die Mehrheit der ersten Christen gerade nicht aus den oberen Schichten –, sondern eben ein alternatives Ethos war es, das seine hohe Attraktivität für die römische Umgebung begründete[41]: die ernstgenommene charismatische Haltung fasziniert. Denn das jesuanische Vertrauen („Glaube“) auf den sich uns in Erbarmen („Gnade“) zuwendenden Gott, der nicht auf einzelne Vergehen strafend schauen will, verlangt in ihrer Zuwendung wie in ihrem Ernst geradezu diese Haltung – die schon von sich aus in ihrem simpelsten Selbstverständnis nicht kasuistisch in einzelne vordefinierte grundsätzliche Handlungen heruntergebrochen werden kann: sie ist im Gegenteil situationsbezogen, den Menschen ansehend, im Gegensatz etwa zu festen Handlungsprinzipien geradezu „ungrundsätzlich“[42]. Insofern ist christliches Ethos auch zutiefst Gesinnungsethik.

Und wie verhält sich das zu den Geboten und Verboten der Hebräischen Bibel? Denn es lag dem frühsten Christentum fern, sich vom Boden der Religion der Schöpfung, der Gerechtigkeit und des Gesetzes zu entfernen – er ist ja auch ihr Boden und selbstverständliche Gedankenwelt ihres Begründers. Paulus expliziert diese Synthese so: „Die [Haltung der] Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes“[43]. Etwas freier noch formuliert Augustin über drei Jahrhunderte später dilige et quod vis fac[44] - liebe, diese Haltung vorausgesetzt, tue, was dir beliebt.

Fazit: auch nach christlichem Verständnis, gemessen am neutestamentlichen Befund, ist die Torá „heilig, gerecht und gut“, da sie nach wie vor zum ethischen Realitätsabgleich dient, um Sünde an und vor mir zu identifizieren. Gleichzeitig gibt es einen Perspektivwechsel von Sünde auf Heil, eine Fokusverschiebung von Hamartiologie zur Soteriologie. Liebe kann man nicht befehlen? Richtig, aber eine Grundhaltung einüben. Sünde besteht dann darin, negativ formuliert, dieser Gesinnung nicht gerecht zu werden.

3.3 Arten der Sünde

Auch nach diesem Verständnis dürfte die Frage nach einer möglichen Klassifizierung von Sünden eine sinnvolle sein. Klar ist, dass es in der Scholastik des Spätmittelalters eine weite Verästelung von Sündensystemen gab, die gestaffelt nach der Art der Strafe und Schwere kategorisiert wurden. Das schlägt sich repräsentativ (auch wegen ihrer Volkssprachigkeit!) im womöglich bekanntesten Beispiel von Dantes monumentaler Dichtung Commedia[45] nieder (1308-1321). Um die Sache einzugrenzen, will ich hier nur auf die zwei meiner Meinung nach naheliegendsten Möglichkeiten eingehen, Sünden zu klassifizieren: nach Schwere und Opfer.

3.3.1 Schwere

Wie schon die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 als das älteste „deutsche“ Strafgesetzbuch zwischen causae maiores und minores unterscheidet, ist auch im neutestamentlichen Befund zweifach[46] davon die Rede, dass es – im Gegensatz zu „normaler“ Schuld - auch Sünde zum Tode gibt (altgr. hamartía pròs thánaton). Das wird nicht näher ausgeführt, aber im antiken Christentum machte man sich schnell konkrete Vorstellungen davon, namentlich in aufsteigender Reihenfolge ihrer Schwere:

  1. Ehebruch (altgr. moicheía) – die Zerstörung der Gemeinschaft auf sozialer Ebene,
  2. Mord (altgr. phónos) – die Zerstörung der Gemeinschaft auf physischer Ebene und
  3. Abfall vom Glauben (altgr. apóstasis) – Zerstörung der Gottesbeziehung.

Lange Zeit herrschte vor allem im christlichen Milieu die Meinung, dass diese drei Sünden so schwer wiegen, dass sie prinzipiell gar nicht vergeben werden können; zumindest auf Seiten deren, die daran nicht schuldig geworden waren. Erst seit dem römischen Bischof Callixt I. (217-222), durch die nachträgliche Transformation des römischen Bischofsamts zum päpstlichen Primat auch heute von offizieller Seite[47] als Papst angeführt, lässt sich die Idee wirkmächtig verorten, dass diese Sünden nicht zur unwiderruflichen Verdammung führen, sondern sogar schon zeitlebens und ohne Aufschub vergeben werden können – mehr dazu gleich.

3.3.2 das Opfer

Wenn man die Welt aus der Perspektive der Sündenlehre (Hamartiologie) schon als Tatort wahrnehmen möchte, lohnt die Frage, wer denn eigentlich Opfer dieses Deliktes ist. Und wie bereits angeklungen, spielt dabei der Gedanke eine entscheidende Rolle, dass der Dekalog als ethischer Meilenstein für Judentum und Christentum doch nach klassischer Überlieferung aus zwei Tafeln besteht[48]:

  • einer Kulttafel für die ersten drei Gebote, die die Beziehung des Menschen zum monotheistischen Gott bestimmt;
  • einer Sozialtafel, die die Beziehung des Einzelnen zu seinem „Nächsten“ bestimmen möchte.

Beide zusammen formen eine Aufeinanderbezogenheit von Gottesverhältnis (nach oben, vertikal) und Weltverhältnis (untereinander, horizontal)[49]. Und gerade dieses Zusammen bildet die Pointe des Dekalogs: die Verschränkung von Gottes- und Weltverhältnis, mit der Gott als Anwalt der Sozialtafel den Einzelnen anspricht. Das bedeutet auch nach christlichem Verständnis: keine Trennung zwischen profan und heilig[50], Gott im ganzen Lebensvollzug ernstnehmen.

Bisher haben wir haben die Begriffe Sünde und Schuld synonym gebraucht, aber jetzt können wir eine sachgemäße Differenzierung treffen: Sünde betrifft das Gottesverhältnis, Schuld das Weltverhältnis. Denn nach Rudolf Bultmanns „Entmythologisierung des Neuen Testaments“ (1941) und Max Webers „Entzauberung der Welt“ (1922), hat sich die inzwischen postmoderne Gesellschaft scheinbar doch nicht von der Vorstellung einer Sünde gelöst, die ein bloßes punktuelles Ungleichgewicht überschreitet. Sünde ist nun einmal religiös konnotiert, nicht weltlich. Und das äußert sich auch in dem Wunsch, manche Vergehen der jüngsten Zeit sollten nicht nur moralisch verurteilt, sondern auch religiös verdammt werden: das religiöse Ethos bleibt eine andere Ebene als die weltliche Moral.

Ein Gedankenexperiment: obwohl wir von Verkehrssünden sprechen und Ehebruch als Kavaliersdelikt abtun, scheint mir – trotz der immer wieder angeprangerten fehlenden „religiösen Scheu“ und gerade wegen dieser eigentümlichen Dialektik – in unserem kulturellen Gedächtnis[51] im Grunde tief verankert zu sein, dass es mit der Sünde nicht leichtfertig zu nehmen ist. Denn es handelt sich dabei um eine sprachliche Diminuierung: ein als gewichtig überliefertes und intuitiv so aufgenommenes Wort wird – gerade bewusst kontraintuitiv – in eine Patina heruntergespielt, die seiner Bedeutung nicht entspricht. Damit haben wir es rhetorisch mit einer Ironie zu tun: einer Ironie, deren Entfremdungssignal gerade ihr eigener Inhalt ist. Somit wird der Begriff zur Persiflage seiner selbst gemacht. Gerade diese Umkehrung der Verhältnisse erzeugt ja das Schmunzeln von Fremdsprachlern über „Verkehrssünde“ und „Kavaliersdelikt“!

Zurück zum Thema: Sünde ereignet sich auf zweifacher Ebene, sie betrifft das Gottesverhältnis und die Schuld das Weltverhältnis. Opfer ist also einmal Gott, einmal der „Nächste“. Beide Verhältnisse des Menschen sind nach dem Dekalog, als Wahrzeichen theologisch durchdrungener Moral, aufeinander bezogen. Für den einzelnen bedeutet das, dass beide im Selbstverhältnis zusammenkommen: ich reflektiere, ob[52] und wie ich mich Gott gegenüber verhalte; ich reflektiere ob und wie ich mich meinen Mitmenschen gegenüber verhalte; ich reflektiere, wie ich mich zu mir verhalte.

Denn beide kommen im Selbstverhältnis zusammen. Es tut sich damit die Frage nach dem einzelnen Sünder auf: wie ist das geschehen? Welche Möglichkeiten habe ich? Welche Konsequenzen hat mein Handeln?

4. Genese

Die Frage, wie und warum unsere Welt so geworden ist, wie sie ist, gehört bekanntlich zu den ältesten Frage der Menschheit, die im wachsenden Alter immer weniger gestellt wird. Es gibt dafür im Großen und Ganze zwei Erklärungsmodelle[53]:

  1. Mythos: eine ätiologische Erzählung, die durch eine repräsentative Ursage der Vergangenheit die Gegenwart erklären möchte. Bekanntestes Beispiel ist die Urgeschichte der Genesis.
  2. Logos: eine rationale Darlegung, die mithilfe (proto-)wissenschaftlicher Argumentation den Jetztzustand erklären möchte. Bekanntestes Beispiel ist der Urknall.

Auffällig ist, dass sich die der Mythos in dieser typologischer Verknappung eher auf phylogenetischer Ebene bewegt – wie haben sich der Mensch und das Tier entwickelt? –, während der Logos geradezu biographisch seine Ursprünge im ontogenetischen Denken hat – wie verhält sich dieses etwas im Einzelnen? Dagegen lässt sich der berechtigte Einwand vorbringen, dass beide aufeinander bezogen sind: in der Stoa die Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos, in der Evolutionsbiologie die Entsprechung von Ontogenese und Phylogenese[54].

In der Theologiegeschichte wurde natürlich auch die Sündenthematik unter diesen beiden Gesichtspunkten behandelt, teils nacheinander („vom Mythos zum Logos“[55]), teils ineinander verwoben.

4.1 peccatum originale

Programmatisch erzählt das dritte Kapitel der gesamten Bibel, christlicher wie Hebräischer, vom Sündenfall: er dient als ätiologischer Mythos, der die negativen Aspekte menschlichen Daseins und Alltagserlebens auf das schlechte menschliche Verhalten und damit die eigene Verantwortung zurückbezieht. Dieser Sünden-fall auf der Erde wird kontrastiert durch die spätere Legende vom Höllen-sturz[56]. Instruktiv beim Sündenfall ist die narrative Theologie: erst wendet sich der Mensch gegen Gott, dann gegen seinen Nächsten – die Interdependenz von Gottes- und Weltverhältnis der Geschichte ist nicht von der Hand zu weisen.

In der altprotestantischen Orthodoxie wurde diese biblische Erzählung entsprechend systematisiert[57]: der Mensch befindet sich von der Schöpfung ausgehend im status integritatis, der freien integeren Verbundenheit mit Gott und seinem Willen. Durch seine Entscheidung gegen Gottes Willen – durch das Essen des fälschlicherweise berüchtigten Apfels[58] – verliert er diese Integrität und damit die similitudo-Gottesebenbildlichkeit[59] (=Verwirklichung der Gottesbeziehung) und verfällt er in den status corruptionis. Durch Christus aber kann der Mensch in den status gratiae (lat. Zustand der Gnade)versetzt werden, wodurch das vormals positive Gottesverhältnis wiederhergestellt wird.

Bleiben wir in der Gedankenwelt dieses Dreierschritts, ohne uns auf den Altprotestantismus festzulegen: Der Mensch entscheidet sich gegen Gott, verwirkt seine similitudo-Gottesebenbildlichkeit und verfällt in den status corruptionis. Dort ist er Sünder; nicht umsonst stammt nach der biblischen Urgeschichte die Menschheit auch vom Mörder Kain ab. Insofern ist der Mensch Sünder und kann nichts dagegen machen: er kann nicht nicht-sündigen (non posse non peccare[60]). Das ist nicht gut, denn so wird die Verhaftung in der Sünde, der status corruptionis, immer weitervererbt; ein Gedanke, wie ihn Augustin ausgeführt hat:    

Denn dieser Mann, der selbst in der protestantischen Tradition mit Paulus, Luther, Schleiermacher und Barth zu den maßgeblichen Theologen gezählt wird, nahm seine „tolle lege“[61]-Berufung zur Theologie ernst und versuchte dementsprechend ebenfalls mit der eingangs gestellten Frage nach dem „wieso?“ für sich eine Antwort zu finden. Er nahm also seine lateinische Bibel und las, eines Tages auch Röm 5,12. Um die Problematik zu erklären, mit der diese Stelle verhaftet ist und die sich in seiner Gedankenwelt zu viel verheerenderen Konsequenzen weiterentwickelt hat, eine Gegenüberstellung:

Paulus‘ Original (gr.)

Augustins Ausgabe (lat.)

Text

Dià toûto hósper di‘ henòs anthrópou he hamartía eis tòn kósmon eisêlthen kaì dià tês hamartías ho thánatos,    
kaì hoútos eis pántas anthrópous ho thánatos diêlthen,     
eph‘ hô pántes hémarton.

Propterea: sicut per unum hominem in hunc mundum peccatum intravit et per peccatum mors,          
et ita in omnes homines mors pertransiit.     
In quo omnes peccaverunt

Übersetzung

Deshalb, wie durch einen einzelnen Menschen die Sünde[62] in die Welt kam und durch die Sünde der Tod,
so ist auch der Tod zu allen Menschen vorgedrungen,           
insofern alle gesündigt haben.

Deshalb: wie durch einen einzelnen Menschen die Sünde in diese Welt kam und durch die Sünde der Tod,
so ist auch der Tod zu allen Menschen vorgedrungen.           
In ihm haben alle gesündigt.

Dieses „in ihm“ (in quo), das Augustin in seiner lateinischen Bibel las – Griechisch hasste er[63] – wurde von ihm so verstanden, dass in Adam, virtuell vorhanden, alle Menschen gesündigt hätten[64]: in Adam waren, denkt man den Paradies-Mythos konsequent weiter, alle Menschen biologisch angelegt; sündigt also der ganze Adam, in dem die Menschheit ist, und der somit die Menschheit ist, sündigt die Menschheit. Insofern wird diese Sünde also buchstäblich vererbt und der Mensch ist von Geburt an unwiderruflich dem Tode verfallen; wohlgemerkt ist die Sünde, genauer Erbsünde, in dieser Vorstellung keine Tat, sondern ein Zustand. Insofern ist der Mensch nach Augustin nicht Sünder, weil er sündigt; nein er sündigt, weil er Sünder ist[65]. Ein Zustand, der damit Grund dafür gibt, den Säugling möglichst schnell zu taufen, um ihn den Klauen der Hölle zu entreißen(!), in denen er sich seit der Zeugung befindet. „Nur ein katholisches Dogma“, wie manche Protestanten es abtun wollen? Mitnichten, widmet doch auch das Augsburger Bekenntnis diesem existentiellen Befund seinen zweiten Abschnitt[66] - eine für beide Konfessionen verbindliche Glaubenslehre!   

Sünde, Tod und Finsternis als Grundverfassung der Menschheit also: das ist ein Gedanke, der im Manichäismus tief verwurzelt ist. Was wundert es also, dass Augustins frühere Zugehörigkeit zu dieser spätantiken Religion, die von manchen als Höhepunkt der Gnosis bezeichnet wird[67] – Marco Polo (1254-1324) traf während seiner Chinaexpeditionen immer noch auf Manichäer! – tiefe Spuren in seiner Theologie hinterließ? Sünde sei zutiefst materiell verhaftet: sie wurzele im leiblichen Menschen und werde gerade durch den fleischlichsten und egoistischsten aller Akte, Sexualität, weitergegeben. Das augustinische Sündenverständnis gleicht dem einer der Menschheit unweigerlich innewohnenden Krankheit, ein Gendefekt.

Wir haben es mit einem Mythos zu tun, der sich nicht nur durch die erzwungene Säuglingstaufe (gelegentlich auch in Salzwasser) für Kinder – also perspektivisch alle Menschen, die gesamte nächste Generation –, sondern auch durch den dem jesuanischen Ethos faktisch zuwiderlaufenden Antifeminismus für Frauen ausgesprochen negativ ausgewirkt hat: heißt es doch im 1. Tim 2,14 allen Ernstes, dass „Frauen“ aufgrund der Sünde der prototypischen Frau Eva zur Sünde neigen und als „dem Mann“ nachgeordneten Geschöpf in der theologischen Stellung hintanstehen![68]

4.2 peccatum personale

Wenn klar ist, dass Sünde „den Tod gebiert“[69], warum entscheidet man sich denn dafür? Unter den oben genannten Einschränkungen: in der Raumzeit, absichtlich, vorsätzlich. Oscar Wilde meint: „The only way to get rid of a temptation is to yield it”[70], aber das kann ja wohl kaum der Königsweg gegen Versuchung sein. Doch „das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, tue ich.“[71] Wieso?!

Sigmund Freud spricht seit spätestens 1920 davon, dass der Mensch aus zwei Gründen handelt: um positive Empfindungen zu steigern (Lustprinzip) oder negative Empfindungen zu vermeiden (Unlustprinzip). Soweit. Aber wie kommt es dann, dass der Mensch sich mit der Sünde doch die schlechthin existentielle „Unlust“ einhandelt? – denn nach dem Freudschen Schema verspricht er sich davon, die besserer der zwei Alternativen zu wählen. Zumindest im Augenblick, und in der Situation; also aus dem Blickwinkel von Raum und Zeit, nicht unter dem Blickwinkel der Ewigkeit (sub specia aeternitatis)[72]. Und gerade darin liegt, theologisch gesprochen, die Crux: die Tatzeit ist keine mythologische Urzeit und der Tatort kein jenseitiges Paradies; beides ist überaus diesseitig, im Hier und Jetzt. Das bedeutet, dass im fatalen Augenblick der Entscheidung aus der Situation heraus sich die Lage affektiv so darstellt, als würde ich damit die bessere Wahl treffen: je nachdem, welche Alternative das größte Sanktionspotential hat.

Wundert es von daher, wenn Generationen von Denkern den freien Willen kritisch gesehen bis verflucht haben? Wenn die alexandrinische Theologie unter Clemens und Origenes vom autexoúsion spricht (altgriechisches ungefähres Äquivalent für „freier Wille“), schwingt mit, dass es dem Menschen zwar ermöglicht ist, sich für (oder gegen) die Sünde zu entscheiden; aber wer sich einmal dafür entscheidet, bleibt in Sünde verhaftet und wird abhängig von ihr. Diese Sucht steigert sich bei Luther zum Bild vom in sich selbst gekrümmten Menschen (homo incurvatus in se ipsum[73]). Man fragt sich also: was bringt den Menschen dazu, sich freiwillig zu diesem Gollum-Dasein zu entscheiden?

  1. er muss sich entscheiden, will er nicht vor den Heuhaufen verhungern. Das birgt nun einmal das Risiko einer falschen Entscheidung in sich, denn „Freiheit ist der Zwang, sich entscheiden zu müssen.“ (José Ortega y Gasset)
  2. vielleicht steht ja fest, dass er es falsch machen muss? Zugespitzt: vielleicht ist ein Mensch ja dazu prädestiniert, den falschen Weg zu gehen, ohne dass er sich gegen seine Bestimmung wehren kann. Zumindest trägt das den Gedanken der verpflichtenden Erbsündenlehre fort (non posse non peccare): in gottwidriger Grundhaltung seines Willens wendet er sich in Hochmut (superbia) und Selbstliebe (amor sui) von seinem Schöpfer ab wird in Neigung zum Bösen (concupiscentia) auf sich selbst zurück geworfen – in sich gekrümmt.
5. Konsequenz

„Kleinen Sünden bestraft der Liebe Gott zuerst, große später.“ Allseits bekannt, empirisch widerlegt. Aber für die Hebräische Bibel hat diese Vorstellung, dass ein nicht gemeinschaftstreues Verhalten, das nicht der zedaká[74] entspricht (s.o.), tatsächlich alltägliche Relevanz: Tun und Ergehen eines Menschen hängen unmittelbar zusammen, insofern sein Tun mindestens indirekt sein Ergehen beeinflusst – der Tun-Ergehen-Zusammenhang (TEZ). „Unheil verfolgt die Sünder; den Gerechten wiederum wird mit Gutem vergolten“[75] – wohlgemerkt nicht im Jenseits oder nach dem Tod, sondern wieder im Diesseits, vielleicht nicht heute und nicht morgen. Diese Vorstellung ist uns heute nach meiner Erfahrung vor allem aus drei Lebensbereichen bekannt:

  • Mahnpredigten: der Versuch, Moral unter Androhung der Bestrafung einzutrichtern;
  • Pädagogik: Kinder fürchten oft die Konsequenz einer ausgleichenden Gerechtigkeit;
  • Intuition: der geradezu instinktive Gedanke, dass eine böse Tat eine böse Schicksalsmacht gegen mich wenden wird.

Das funktioniert natürlich auch umgekehrt: mir ergeht es gut – womit habe ich das verdient? mir ergeht es schlecht – habe ich etwas böses getan?[76] Der Großteil des zeitlosen Hiobbuches setzt sich damit auseinander, dass „wie du getan hast, dir wieder geschehen soll, und wie du verdient hast, so auf deinen Kopf kommen soll.“[77] Das bedeutet im Falle der Sünde: Bestrafung. Doch wer soll bestraft werden?

Wie oben ausgeführt, kann Sünde zweifach verstanden werden:

  1. phylogenetisch: im Kollektiv der Menscheit als peccatum originale. Wird der Mensch wie im Alten Orient, der Antike bis hin zum Spätmittelalter als corporate personality[78] angesehen, wirft das augenblicklich die Frage der Gerechtigkeit auf: inwiefern ist es denn gerecht, dass meine Gemeinschaft, Familie, Gruppe ein Unheil ausbaden muss, das ich fabriziert haben? Inwiefern ist umgekehrt von Gerechtigkeit zu sprechen, wenn ich für etwas leiden muss, für das meine Gemeinschaft, Familie, Gruppe verantwortlich ist? Ganz brisant wird es, wenn Gott als Gewährsmann des Tun-Ergehen-Zusammenhangs betrachtet wird, da sich unmittelbar die Frage stellt, wie und ob sich das Motiv eines gerechten allmächtigen Gottes (altgr. pantokrátor) überhaupt mit einem kollektiven Leid vereinbaren lässt – kollektive Theodizee?[79] Bekannte Beispiele dieser Vorstellung einer Haftungsgemeinschaft sind die Eroberung Ais[80] oder die Legitimierung der Pflichtopfer an den Kaiser(kult) während der decischen Verfolgung durch den Staatskult und salus publica (249-252).      
  2. ontogenetisch: im einzelnen Menschen als peccatum personale. Wird der Mensch, wie es der Prophet Ezechiel betont hat[81], als Einzelner für seine Taten zur Rechenschaft gezogen, bedeutet das eine Individualisierung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Aber es wirft die Frage auf, wie und ob sich Leid und ein unschuldiger Mensch überhaupt in Einklang miteinander bringen lassen? – ein leidender Unschuldiger wäre demzufolge ein Widerspruch in sich. Die übliche Antwort der christlichen Theologie wäre, dass es keinen unschuldigen Menschen gibt.[82] Was aber ist mit Christus, der doch explizit[83] ohne Sünde war[84]?..

Nachdem also in der Theologiegeschichte deutlich geworden war, dass ein kollektiver Tun-Ergehens-Zusammenhang ebenso wie ein individueller[85] sich nicht mit der lebensweltlichen Erfahrung deckten, aber man die Vorstellung einer ausgleichenden Gerechtigkeit nicht dem Nihilismus anheim geben wollte, verlagerte sich der Ausgleich in die Zukunft: nach dem Tod[86] (individuelle Eschatologie) oder beim Endgericht[87] (kollektive Eschatologie).

Was man sich unter diesem Ausgleich ganz konkret vorzustellen hat, darüber gehen die Meinungen auseinander: von einer dunklen, staubigen und stillen Grabhöhle[88] (hebr. sheôl) und Abgrund[89], über eine eisig-kalte Hölle[90] und ein mit nie verlöschendem Feuer[91] brennenden See[92] hin zu einem finsteren Gefängnis.[93] Eine der detailliertesten und beeindruckenden Darstellungen des Jenseits stellt unzweifelhaft wieder Dantes Commedia dar (1308-1321); aber dazu ein andermal.

6. Möglichkeiten

In einer Lehrrede des Buddha an den Mönch Malunkyaputta[94] macht der Buddha - wenn auch in einem anderen Kontext – sehr einleuchtend deutlich, wie existentiell irrelevant es doch ist, woher oder wie es dazu kommt, dass ich mich im Leid befinde: es spielt in der Situation keine Rolle. So heißen die letzten der sieben Bitten des Vaterunser schlicht: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“[95] Denn wenn ich die Situation ernst nehme, werden sich meine Gedanken darauf richten, von ihr zu entkommen; ich werde überlegen, welche Möglichkeiten ich habe.

Aber langsam: die Tatsache, dass diese existentielle Verstrickung in Schuld mir immer noch die Möglichkeit lässt, sie also solche zu erkennen und darüber nachzudenken, zeigt an, dass nicht alles von mir durch Sünde verdorben ist, sonder ich immer noch eine Instanz habe, die sich in reflektierende Distanz zum Geschehen und Sein begeben kann – die Vernunft. Sie steht, so auch Tertullian, über der von Schuld angesteckten Seele und sie kann damit weiterhin dazu dienen, die Situation zu beurteilen und Auswege zu finden. Die Alternativen bestünden darin, sich der Situation fatalistisch anheim zu geben und grundlegend indifferent zu werden: „Mir ist alles egal, auch ich mir selbst.“; oder weiterhin auf der emotionalen Ebene zu bleiben und sich davon bis zum Wahnsinn überwältigen zu lassen – wie etwa Luther sein Gefühlsleben einmal geschildert hat.[96]

6.1 Buße für Anfänger

Es kann also nach einer gewissen Zeit der inneren Einsicht vorausgesetzt werden, dass der einzelne Mensch ein starkes Interesse daran entwickelt hat, sich aus den Fängen der Sünde zu befreien.

Nur wie? Im antiken Christentum waren dazu drei Schritte nötig:

  1. eine glaubhafte Reue – denn ohne a) die Einsicht des Schuldigen, dass der gefehlt hat und b) die Akzeptanz dieser Tatsache für die Gegenwart kann es keine tief gespürte Reue geben, die erst eine positive Trauer ermöglicht[97]
  2. das öffentliche Bekenntnis[98] - sodass, nach der inneren Auseinandersetzung des Schuldigen, die Schuld nicht nur zur Aussprache und damit externalisierenden Realisierung gebracht, sondern quasi als Beweis der Ernsthaftigkeit seiner Absichten auch soziale Stigmatisierung in Kauf nehmen muss (bedanke, was bei den Geboten der Sozialtafel bedeutet!); und
  3. die ernsthaft bemühte Wiedergutmachung, selbstverständlich – in dem Schuldige ganz diesseitig sein menschenmöglichstes versucht, das (an)getane Unrecht auszugleichen.       

Es ist schwierig und muss der Überwindung enormer Hemmschwellen bedurft haben, aber so wurde lange Zeit verfahren. Die theologische Brisanz liegt darin, nicht in einen gesetzlichen Absolutheitsanspruch zu verfallen („Wenn ich jetzt nur den kleinsten Fehler mache!“), sondern vielmehr die Grundhaltung des christlichen Ethos einzuüben. Der vielseitige talentierte Samuel Butler (1835-1902) kommentierte diese Situation mit: „Life is like playing a violin solo in public and learning the instrument as one goes on.”[99]

6.2 Beichte für Anfänger

Aber historisch ist es nicht beim reinen Apell an die Gesinnung geblieben; im Gegenteil hat sich im Mittelalter eine Buß- und Beichttheologie etabliert, die für Laien wohl im Einzelnen nicht immer ganz verständlich gewesen sein muss. Seit dem 4. Laterankonzil von 1215 ist es jedem erwachsenen Christen (der dieses Konzil anerkennt) vorgeschrieben[100], mindestens einmal jährlich zur Ohrenbeichte einen Priester seiner Wahl aufzusuchen. Die Pointe der Beichte besteht dabei darin, dass es eben darum geht, Sünden zu beichten; nicht sich sein Innenleben von der Seele zu reden, das ist sekundär. Die Beichte besteht dabei chronologisch wieder aus drei Schritten:

  1. Reue (lat. contritio cordis): der Sünder benötigt geradezu ein bestimmtes Maß an emotionaler Erregung, um die Tiefe seiner Sünde und seiner Vergehen einzusehen und zu akzeptieren; es ist ein gewisser Grad an Reueschmerz[101] notwendig, um die Absolution zugesprochen zu bekommen. Problem: wie urteile ich institutionell in Herzensachen?
  2. a) Bekenntnis (lat. confessio oris): das Zugehen des Menschen auf Gott äußert sich darin, dass er seinem Mittler, dem Priester, ein vollständige Beichte aller seiner Vergehen seit der letzten Beichte ablegt. Die Vollständigkeit, soweit dies dem Pönitenten/Beichtenden in der Situation möglich ist, gilt dabei als Garant seiner Absicht, ohne die der Priester dem Beichtenden seine Absolution nicht zusprechen muss.
    b) Lossprechung (lat. absolutio): nicht etwa der Priester vergibt dem Sünder, wie es völlig falsch in manchen säkularen Schulbüchern (!) dargestellt wird[102], nein, der Priester spricht dem Beichtenden im Namen Christi, also in Christi Sinne und Christi Autorität, die Vergebung seiner Sünden zu – damit spendet Christus das Bußsakrament durch den Priester hindurch, der wie gesagt Mittler ist.
  3. „Genugtuung“ (lat. satisfactio operis): Sünde hat zwei Dimensionen; eine ewige, innerliche und eine zeitliche, äußerliche. Dass der Beichtende in der absolutio von Christus seiner Sünden losgesprochen wird, bedeutet, er ist der ewigen Dimension seinen Sünden ledig – deren Konsequenz unter Umständen die Hölle wäre. Bleibt die irdisch-zeitliche Dimension, die es zu verbüßen gilt: bei den zwischenmenschlichen Geboten der Sozialtafel (um dieses Bild aufzugreifen) ist es also notwendig, das getane Unrecht aus eigener Kraft auszugleichen zu versuchen; bei den Geboten der Kulttafel ist eine entsprechend andere Bußleistung notwendig. Der Beichtvater legt in diesem Falle dem Beichtenden eine Buße auf, die seiner persönlichen Situation Rechnung trägt[103] - dies erlässt die irdisch-zeitliche Dimension und wird auch Ablass genannt.

Wichtig war ebenfalls, dass die Bußleistung nicht zu gering war – sonst würde der Pönitent für die irdisch-zeitliche Dimension nicht ausreichen büßen und müsste den Rest im Fegefeuer (purgatorium) ableisten, bevor er, von Sünd und Fehl befreit, Ihn schaut in Ewigkeit. Andererseits war es noch wichtiger, dass die Bußleistung nicht zu groß war – sonst würde der Gläubige gegen eine kirchliche Anordnung verstoßen, und damit ganz sicher in der Hölle (lat. infernus) ewig bestraft werden.

Seit dem Frühmittelalter ist es nun weit verbreitet, dass bestimmte spirituelle Übungen Teil der abzuleistenden Bußleistung sind – etwa eine gewisse Anzahl von Gebeten, um ein häufiges Beispiel zu nennen. Es war aber ebenfalls ab einem gewissen Zeitpunkt weit verbreitet bis üblich, dass mächtige und wohlhabende Männer ihre eigenen Haus- und Hofkleriker hatten, die in ihrem Interesse sich um die religiösen Aspekte von Haus und Hof kümmerten. Von daher war der Gedanke naheliegend, sobald die Bußleistung festgesetzt war, seinen Hofpriester eine gewisse Anzahl von Gebeten sprechen und Messen feiern zu lassen, wozu hatte man ihn sonst?       
Wenn also jemand anderes – in dieser Mentalität gedacht, wohlgemerkt – die religiösen Leistungen erbringen kann, auf die man selbst verpflichtet ist, und sie werden nichtsdestotrotz anerkannt werden, ist es also prinzipiell möglich, eine Leistung gegen die andere zu tauschen: ich könnte also auch jemanden dafür bezahlen, dass er für mich betet, Messen feiern, fastet, etc. – wie es im frühmittelalterlichen Eigenkirchenwesen gang und gäbe war. Im gleichen Atemzug wird es denkbar, dass ich doch auch ein Geldopfer für die Buße meiner zeitlich-irdischen Bußstrafe geben könnte.[104] Modifiziert und theologisch untermauert wird dieser Gedankengang durch die seit dem 11. Jhd.[105] sich festigende Idee, dass, knapp gesagt, die guten Taten der Heiligen sozusagen einen immensen Pool bilden: einen Gnadenschatz (lat. thesaurum ecclesiae), dessen Verwaltung der Kirche obliegt, wie der Name sagt[106]. Dieser Gnadenschatz wurde von der Kirche (gegen Bezahlung) dazu eingesetzt, die irdisch-zeitlichen Bußstrafen auszugleichen. Insofern ist Ablass nicht Sündenvergebung, sondern Sündenstrafenvergebung.

Das Ganze ist aus Sicht des Sünders von einer dialektischen Emotionalität umgeben.[107] Einerseits unterwirft die heilsnotwendig vorgeschriebene Beichte den Gläubigen einer teils kasuistischen Gesetzlichkeit der Angst: die Freiheit des eigenen Urteilens und Handelns wird eingeschränkt und institutionalisiert; Buße kann damit als Instrument geistlicher Herrschaft dienen (besonders nach der Aufwertung der priesterlichen Schlüsselgewalt durch den Priester und Theologen Duns Scotus). Denn die Durchsetzbarkeit von oben beruht auf dem Zugang zum und der Macht über das Gewissen.   

Somit ergibt sich eine gewisse Spannung: zwar spielt die Gesinnung beim Beichtsakrament eine zentrale Rolle (der Reueschmerz, die vollständige Beichte, das Leisten-wollen der satisfactio), dennoch werden die Sünden in sog. Beichtspiegeln aufgelistet. Diese auch Beichtsummen genannten Sündenkataloge sind seit dem Frühmittelalter[108] eine Art Abhakliste während der Beichte, die dem Beichtvater und Pönitenten helfen soll, die einzelnen Vergehen möglichst einzukreisen, gewissermaßen zur Exploration[109]. Den Autoren dieser teils sehr langen Listen waren in Länge und vor allem Phantasie keine Grenzen gesetzt. Heutzutage werden sie, wenn überhaupt, dann vereinzelt zur Gewissensforschung und Vorbereitung auf die Beichten vom Pönitenten genutzt, etwa als Handzettel.

Andererseits vermittelt das Beichtinstitut auch Trost: es nimmt die quälende Ungewissheit von Heil und Gottesverhältnis, welche nun die Kirche als Mittlerinstanz orientierend vermittelt; das Beichtinstitut bietet aus Sicht des Pönitenten einen handgreiflichen und praktischen Weg zur Erlösung – nicht jedem wird ja wie Goethes Faust der unendliche Segen zuteil, mit Lethes Tau benetzt zu werden[110] und sich nicht den Erinnerungen und der Verantwortung seiner Taten aus der Tragödie erster Teil stellen zu müssen. Denn ein großer Teil der spätmittelalterlichen Abbildungen lassen sich bei näherem Hinsehen als Trostbilder lesen.

Insofern ist die Behauptung, Luther hätte den Menschen durch die Abschaffung des Bußsakraments die Angst vor dem Tod genommen auch nicht ganz richtig, hat er doch das Problem in Richtung Heilsgewissheit verlagert: „woran merke ich denn jetzt, dass ich vor Gott gerecht bin?“[111]

7. open end

Ich hoffe, dieses kleine Sackhüpfen durch die abendländische Geistesgeschichte war nicht zu verwirrend. Klar dürfte sein, dass Schuld und Sünde zu allen Zeiten für die Christenheit ein großes Thema gewesen sind; ob man nun Sünde mit dem katholischen Katechismus als „Beleidigung Gottes“ definiert[112] oder wie der gerechtfertigte Lutheraner (als simul iustus et peccator[113]) meint, nur der Verlust des eigenen Glaubens würde einen markanten Unterschied machen[114] – die Frage bleibt: wie gehen wir damit um?

Die Kunst des Sterbens (lat. ars moriendi) versuchte, Verantwortung für das eigenen Leben mit Blick auf dessen Ende zu lehren, um sie mit ständigem Blick auf den Tod im Alltag zu übernehmen. Das ging in pietistischen Kreisen so weit, dass sog. „Leichenpredigten“ den Lebenslauf des Verstorbenen an seinem Grab als Vorbereitung auf ein seliges Sterben darstellten, im positiven Fall. Aber entspricht das der christlichen Bejahung des Lebens?

Umgekehrt entschlossen sich Eiferer wie Symeon Stylites (390-459), der Sünde der Welt in solcher Ausprägung der einsiedlerischen Askese zu entfliehen, dass sie sich auch räumlich vom diesseitigen Leben entfernten – und zwar ganze drei Meter, auf einer Säule lebend.[115] Aber entspricht das etwa dem psychosozialen Wesen des Menschen als zôon politikón[116]?

Nein, beides bedeutet, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Ich meine, mit der Sünde verhält es sich wie mit den anderen anthropologischen Grundkonstanten Chaos, Finsternis und Tod, durch deren Metaphorik ihr so oft versucht wird, Gehör zu verschaffen:

  • Chaos ist kein eigener Weltzustand, der als Natur per se erklärbar wird, im Gegenteil zeichnet ihn gerade der Gegensatz zum seienden Kosmos aus (altgr. Ordnung)[117];
  • Finsternis ist so gesehen ein Grundzustand, der aber durch sein dazukommendes seiendes Gegenteil Licht erst als Finsternis erkannt werden kann;
  • Tod auf physischer Ebene wird in der Religion oft nicht als eigener körperlicher Zustand, der eo ipso erklärbar ist, sondern er wird gerade durch ein Fehlen von wachsamer ganzheitlicher Energie und Lebendigkeit definiert.

Ebenso ist auch Sünde nicht ein eigenes Sein, ein positiv definiertes Vorhandensein von etwas[118]; sondern sie ist ein Nichtsein, ein negativ formuliertes Fehlen von etwas[119]: sie lässt nach christlichen Verständnis eben diese Grundhaltung des jesuanischen Ethos vermissen. Ich glaube daher, die Antwort auf die Frage nach dem angemessenen Umgang mit

  1. der eigenen schuldbehafteten Vergangenheit und
  2. der sündigen Existenz der Gegenwart 

muss daher, ganz praktisch, in der angemessenen Grundhaltung einer gesunden Ethik liegen. Diese gesunde Ethik, sich der schuldbehafteten Vergangenheit stellend und der sündigen Existenz bewusst, wird sich durch drei Dinge hervorheben: 

  • der Blick nach vorne: keinesfalls die Vergangenheit ignorieren wollen, weder die Schuldfrage als die unwichtigste abtuend[120] noch sich durch die „Gnade der späten Geburt“[121] von Verantwortung erlöst sehend; aber auch nicht in der Vergangenheit verhaftet bleibend einen letztliche fruchtlosen Schuldkomplex nährend.
  • die Achtsamkeit auf die respektierende Haltung: stattdessen der Realität gewahr sein, dass sowohl ich als auch die Menschen um mich herum gefehlt haben und fehlbar sind, eine von beiden Parteien gegen die andere auszuspielen würde jeder Grundlage entbehren; diesen Fakt akzeptierend in anderen und sich selbst dieselbe Menschenwürde sehen und sie achten.
  • die Zuwendungen zu den Mitmenschen: die jesuanische Konsequenz ziehen, dass die Fehlbarkeit anderer Menschen mich nicht davon abhalten soll und kann, der vorweggenommenen Annahme der Welt und des Menschen durch Gott entsprechend, die Grundeinstellung des christlichen Ethos als Haltung einzuüben.
Anmerkungen

Die in diesem Aufsatz abgebildeten Holzstiche stammen von Hieronymus Cock nach einer Vorlage von Pieter Bruegel dem Älteren, 1557.


[1]    Zumindest in der wirkmächtigen Interpretation von Sophokles (497-407).

[2]    Mt 27,5.

[3]    „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“

[4]    vgl. Schmid, Hans Heinrich: Gerechtigkeit als Weltordnung, Tübingen 1968.

[5]    Die auch Hinweise auf den Schöpfer erlaube: diese Denkstruktur ist Angelpunkt des kosmologischen Gottesbeweises, wie er in Röm 1,20 anklingt und in der christlichen Tradition durch Thomas von Aquin ausformuliert und in seine bekannteste Fassung gebracht wird: Summa Theologica I, quaestio 2, articulus 3.

[6]    Schnelle, Udo: Theologie des Neuen Testament, Göttingen 2007, S. 315;550.

[7]    Röm 6.

[8]    „Gottessöhne“ (hebr. bnê ha-älohîm) hat hierbei keineswegs leibliche oder genetische Bedeutung, wie es auch in Ps 2 und bei der frühen Bedeutung vom Titel „Gottes Sohn“ der Fall ist, sondern meint: Gott vertikal zugehörig. Gerade beim Hiobbuch wird der himmlische Hofstaat dem persischen Königshof nachempfunden, Gott dabei als Großkönig, von einem stehenden Stab aus Beratern und Ministern umgeben.

[9]    Jesu Vision: „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen.“

[10]   BSLK 75, 1-8: CA XIX: De causa peccati.

[11]   1. Petr 5,8.

[12]   Röm 3,20: „Durch Gesetzeswerke wird niemand vor ihm gerecht werden; durch die Tora kommt es vielmehr zur Erkenntnis der Sünde.“

[13]   Röm 7,12.

[14]   Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum, Abschnitt 39. Der gleichen Auffassung ist auch Karlheinz Deschner in: Kriminalgeschichte des Christentums, Bd. I. Die Frühzeit, Reinbek bei Hamburg 62006, S. 124.

[15]   Plotin: Enneaden I,8,1.

[16]   Von der exklusiv christlichen Attribuierung sollte man sich nicht verwirren lassen, findet sich ein vergleichbarer Lasterkatalog doch bereits in den „Testamenten der zwölf Patriarchen“, einer deuterokanonischen Schrift aus dem zweiten Jahrhundert mit wahrscheinlich jüdischen Ursprüngen, auch in Qumran belegt.

[17]   vgl. dazu Kants imperativische Definition der Menschenwürde in Kant, Immanuel: Grundlegung zu Metaphysik der Sitten, Riga 21786, S. 64.

[18]   Evagrius Ponticus: Praktikos, §12.

[19]   Vgl. Von Heyl, Andreas: Zwischen Burnout und spiritueller Erneuerung, Frankfurt 2003.

[20]   So auch der Titel des gleichnamigen Buches von Wolfgang Schmidbauer 1977.

[21]   Aristoteles: Ethica Nicomachea, II, 7.

[22]   Paracelsus: Defensio tertia, 1538.

[23]   Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 1927.

[24]   So druckt das Time-Magazin von Freitag, 20. April 1962 als Aufhänger für einen Karl-Barth-Artikel über seinem Bild: „The goal of human life is not death, but resurrection.“ Vgl. „Wenn sich aber diese Vergängliche mit Unvergänglichkeit bekleidet und dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit, dann […] ist der Tod verschlungen vom Sieg“ (1. Kor 15,54), „damit so das Sterbliche vom Leben verschlungen werde.“ (2. Kor 5,4).

[25]   Paul Tillich führt diesen Gedanken vielversprechend in seinem gleichnamigen Buch von 1953 aus.

[26]   Aristoteles: de caelo II,13,3.

[27]   Populärstes Beispiel: Adrian Monk, Protagonist der gleichnamigen Erfolgsserie.

[28]   So eine mir bekannte Lesart von Röm 7,7f.

[29]   vgl. Ps 19,13: „Wer bemerkt seine eigenen Fehler? Sprich mich frei von der Schuld, die mir nicht bewusst ist!“

[30]   Röm 7,7: „Ich hätte ja von einer Begierde nichts gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Du sollst nicht begehren.“

[31]   Vgl. die Argumentation in Kant, Immanuel: Grundlegung zu Metaphysik der Sitten, Riga 21786, S. 51.

[32]   Lev 4.

[33]   1. Joh 3,4b.

[34]   Röm 1,29-31; 1. Kor 6,9f; 2. Kor 12,20f; Gal 5,19-21.

[35]   Gal 5,22f. Aber auch der Tugendkatalog ist keine christliche Erfindung, zumal bei den damaligen Bestsellern Seneca und Epiktet ebenfalls sog. Haustafeln angeführt sind.

[36]   Mi 6,8a.

[37]   Mk 12,29-32parr.

[38]   Mi 6,8b.

[39]   Ebenso antwortet Rabbi Aqiva ben Joseph (ca. 55-135) in Shabbatth 31a. Vgl. dazu Rabbi Hillels „Goldene Regel“ in Shabbath 3a.

[40]   Zumal der mattheische Jesus nicht mehr mit der unmittelbar bevorstehenden Gottesherrschaft rechnet (altgr. basileía tôn ouranôn), sodass die in der Bergpredigt exemplarisch entfaltete und Jesu Anliegen ausdrückende Haltung erst recht den Christen zur Orientierung mitgegeben werden soll.

[41]   Vgl. beispielsweise die stille Bewunderung, mit der Plinius der Jüngere die Lebenshaltung der Christen beschreibt: epistula X, 96.

[42]   Braun, Herbert: Spätjüdisch-häretischer und frühchristlicher Radikalismus, Bd. II. Die Synoptiker, Tübingen 1957, S. 7.

[43]   Röm 13,10.

[44]   Augustinus: in epistulam Ioannis ad Parthos, tractatus VII, 8.

[45]   Der Titel Commedia ist hierbei für heutige Leser irreführend, deutete er doch für damalige Rezipienten lediglich an, dass die Handlung einen für den Protagonisten guten Schluss nehmen werde.

[46]   1. Joh 5,16f – nicht zu verwechseln mit Euágrios‘ Achtlasterlehre oder Gregors Todsünden.

[47]   Segreteria di Stato & Libreria Editrice Vaticana: Annuario Pontificio 2010.

[48]   Ex 31,18.

[49]   Eine für die theologische Betrachtung überaus lohnende Unterscheidung. Dietrich Korsch etwa versucht von diesen beiden Perspektiven ausgehend aus dem Kleinen Katechismus Luthers eine Glaubenslehre zu entwerfen: Korsch, Dietrich: Dogmatik im Grundriss, Tübingen 2000.

[50]   Nachdem sich mit der Reformation auch die Bewertung des Seins in der Welt geändert hat, gibt es in der protestantischen Theologie zwar keine Trennung von Sakral und Weltlich (vgl. die Anführung der Ubiquität zur Begründung der Konsubstantiationslehre), aber in der spirituellen und liturgischen Praxis sehr wohl eine klare Unterscheidung von Heilig und Profan. Wie auch nicht? Schließlich bezeichnete der philosophisch arbeitende Religionswissenschaftler Mircea Eliade gerade diesen Dualismus 1957 sogar als nicht weniger denn das „Wesen des Religiösen“. Auf unsere Hamartiologie angewandt, könnte das heißen, dass sich das Profane gerade im Spannungsfeld der Pole von Heilig und Unheilig (=Sünde) bewegt.

[51]   Der vielseitig talentierte Ägyptologe Jan Assman hat sich 1992 in seinem gleichnamigen Buch intensiv mit der Idee auseinandergesetzt, dass nicht nur einzelne Menschen oder Kleingruppen wie Familien, sondern auch Kulturen und Gesellschaften ein lang anhaltendes und wirksames Gedächtnis haben.

[52]   Mit Verweis auf Plotin (s.o.) kann man sich fragen, ob der Menschen überhaupt die Alternative hat, sich nicht zu verhalten: schließlich kann ich nicht nicht kommunizieren, gerade dadurch kommuniziere ich ja wieder.. (passiver Aktionismus).

[53]   Lesenswert: Sokrates Dialog mit dem Sophisten Protagóras (die Unterscheidung rührt von 319c), einer der wenigen die Platon glimpflich davongekommen lässt.

[54]   Buss, David: The Handbook of evolutionary psychology, New Jersey 2005; Panksepp, Jaap: Affective neuroscience – the foundations of human and animal emotions, New York 2005.

[55]   nach dem programmatischen Titel des gleichnamigen Buches von Wilhelm Nestle. Ob damit allerdings tatsächlich die Selbstentfaltung des griechischen Denkens beschrieben wird, ist eine andere Frage.

[56]   Vgl. Jesu „Vision“ in Lk 10,18 vor dem Hintergrund von Jes 14 (s.o.).

[57]   Eine knappe Übersicht findet sich bei Leonhardt, Rochus: Grundinformation Dogmatik, Göttingen 32008, S. 268.

[58]   Apfel (lat. malus) daher, weil das gleich geschriebene Adjektiv malus „böse“ bedeutet.

[59]   Übrig bleibt unveräußerlich die imago dei: die Vernunft als den Menschen auszeichnendes Merkmal, an das die similitudo anknüpft.

[60]   Augustin: Natura et gratia LIIX. Das Gegenteil non posse peccare findet sich in Augustin: De correptione et gratia XII,33.

[61]   Augustin: Confessiones VIII,12,29.

[62]   im Singular, also als überindividuelle, christusfeindliche Macht, s.o.

[63]   Augustin: Confessiones I,13-14.

[64]   Eine knappe historische-systematische Darstellung dazu findet sich bei Küng, Hans: Das Christentum. Wesen und Geschichte, München 2008, S. 347f.

[65]   Ein Gedanke, der zumindest in seinen Grundzügen paulinisch ist. Vgl. Röm 1,26-31 wo Paulus die einzelnen Vergehen und die Amoral geradezu als Folge der Sünde der Abwendung vom evidenten Schöpfer bezeichnet.

[66]   BSLK 53,1-11: CA II: De peccato originis.

[67]   Kretschmar, Georg: Art. Gnosis. Westliche Dogmengeschichte, in: 3RGG, Bd. II, Sp. 1160.

[68]   Das eigentlich Verwerfliche ist ja keine absurde Quelle, sondern dass es Menschen gibt, die so etwas glauben. Ich will dazu exemplarisch nur auf die smarte Antwort der Protagonistin von Donna W. Cross‘ beliebten Roman verweisen.

[69]   Jak 1,14.

[70]   Wilde, Oscar: The Picture of Dorian Gray, chapter II.

[71]   Röm 7,19.

[72]   Spinoza, Baruch de: Ethica more geometrico demonstrata V,29.

[73]   WA LVI,304,25-29.

[74]   Die hebräische zedaká-Vorstellung ist grob mit der ägyptischen Idee der ma’at vergleichbar.

[75]   Prov 13,21. Klaus Koch sprach diesbezüglich 1955 vom „Vergeltungsdogma“.

[76]   Wie viele Angehörige dazu neigen, sich die Schuld an einem Todesfall geben.

[77]   Ob 15.

[78]   z.B. Witte, Markus: Ketubim, in: Gertz, Jan Christian: Grundinformation Altes Testament, Göttingen 2007, S.471.

[79]   vgl. Lacatantius: de irae dei XIII,19.

[80]   Jos 7f.

[81]   Ez 18. Vgl. auch Jer 31.

[82]   z.B. Röm 3,10.

[83]   So zumindest das christologische Zeugnis von Hebr 4,15.

[84]   Vgl. Paulus versucht, von der emotionalen Ebene aus, eine antwortende Deutung in Röm 8,3.

[85]   Koh 8,10.

[86]   Vgl. Lk 16,19-31.

[87]   Dan 12,2.

[88]   Ps 28;30.

[89]   Hi 26,6.

[90]   Mt 8,12.

[91]   Mk 9,43.

[92]   Apk 21,8.

[93]   2. Ptr 2,4.

[94]   Die Reden Gotamo Buddhas: Aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikayo des Pali-Kanons, Buch der Mönche, 63. Rede – der Sohn des Malunkya.

[95]   Mt 6,13; der erste Teil findet sich auch bei Lk 11,4.

[96]   Von ihm selbst in seiner Ausweglosigkeit hochemotional in WA I,557,33-558,18 dargestellt.

[97]   Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie, 1915.

[98]   vgl. I Joh 1,9: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht; er vergibt uns die Sünden und reinigt uns von allem Unrecht.“

[99]   aus einer Rede zum Somerville Club am 2. Februar 1895.

[100] Canon XXI: Omnis utriusque sexus, DH 812; KKK 1457.

[101] DH 1676.

[102] Und auch theologisch nicht möglich wäre, kann doch nur Gott allein Sünden vergeben (Mk 2,7parr).

[103] KKK 1460.

[104] Besonders lesenswert: die Geschichte vom Tetzelstein!

[105] Auch das Zölibat wurde in dieser Zeit verbindlich festgelegt (1022) – anscheinend kein gutes Jahr für geschichtswirksame dogmatische Überlegungen.

[106] Rückfrage: Ein do-ut-des-Prinzip, also auf kasuistischer Gegenseitigkeit beruhender Pakt mit den Göttern? – wie etwa die häufig begegnenden altägyptischen Darstellungen, in denen dem Sonnengott Aton eine Gabe dargebracht wird, die mit Segen für die Ernte vergolten werden soll? Dann könnte ich der Gottheit etwa durch Gebete und Opfer wohlgefällig sein und ihr durch Sünde schaden, sie vielleicht sogar unter Druck setzen? „Lieber Gott, mach‘, dass ich Weihnachten ein Skateboard bekomme, sonst wandert das Bild von deiner Mutter in den Schrank“?

[107] Ich danke Julia Illner, cand. theol., dafür, dass sie mich beim kirchengeschichtlichen Oberseminar auf die psychologische Ambivalenz der mittelalterlichen Bußtheologie aufmerksam gemacht hat.

[108] Die libri paenitentialis, die dabei bemüht sind, jedem Vergehen eine spezifische Strafe zuzuweisen, werden traditionell irischen Heiligen zugeschreiben.

[109] KKK 1454 spricht von Gewissensforschung.

[110] Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, Z. 4629.

[111] Die protestantische Theologie beantwortet diese Unbeholfenheit der Passivität mal wieder in starker Anlehnung an Paulus mit dem doppelstöckigen Modell der Rechtfertigung (Akteur: Gott) und der Heiligung (Aktuer: Mensch), in der Mensch, den Indikativ des Glaubens voraussetzend, sich imperativisch um das neue Leben „in Christus“ bemüht. Wie gegen die – entgegen aller als protestantisch gefeierte Abkopplung der Theologie von jeder Ethik – missverstandene evangelische Freiheit schreibt Paulus in Phil 2,12: „Müht euch mit Furcht und Zittern um euer Heil!“

[112] KKK 1440.

[113] WA LVI,343,18f.

[114] Aber nicht nur der Verlust des Glaubens: so ist etwa Rudolf Bultmann und seine Schule weitestgehend der Auffassung, dass, grob gesagt, auch der Beginn des Glaubens, wenn er auf (z.B. durch historische Fakten gedecktem) Wissen beruht, letztlich kein glaubendes Vertrauen sein, da es auf Wissen basiert – worin bestünde dann das Wagnis des Vertrauenden Glaubens? Im Gegenteil laufe sich durch Wissen untermauernder Glaube dem Glauben faktisch entgegen – und sei Sünde. Vgl. Bultmann, Rudolf Karl: Ist voraussetzungslose Exegese möglich?, Tübingen 1957, S. 412.

[115] Symeon hat diese Säule hat später auf 15-18m aufgestockt und anscheinend 32 Jahre seines Lebens dort verbracht. Aber neben dem bewundernden Staunen ist zu beachten, dass er sich in gewisser Weise keineswegs von der Welt differenzierte und buchstäblich abhob, sondern insofern völlig abhängig machte, als dass sich seine Mitmönche nahezu täglich mit Eimern um seine nötige Ver- und Entsorgung kümmern mussten.

[116] Aristoteles: Politica III,6.

[117] Scholastische Anmerkung: besonders interessant wird diese Kombination von Chaos und Kosmos dadurch, dass in verschiedenen Kosmogonien deutlich wird: das cháos ist die potentia, der ihrerseits der actus des kósmos innewohnt.

[118] Gegen Paulus.

[119] Mit Plotin; obwohl religionsphilosophisch vielversprechend, wäre es methodisch verfehlt, auf diesen Prämissen aufbauend nach einer Entelechie der Sünde zu fragen.

[120] Denn Joh 8,7 zielt ja nicht auf eine legislative Verdrängung der Schuld ab – Jesus erkennt ihre Schuld an und er vergibt sie –, auch nicht auf eine Nivellierung der judiaktiven Konsequenz – schließlich wendet er sich mit keinem Wort gegen das Urteil der Menge noch die vorgesehene Strafe –, sondern problematisiert eben die exekutive Konsequenz: „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe als erster ein auf sie“. Will man dieses Verhalten exemplarisch interpretieren, bedeutet das, dass die Schuld klar zu thematisieren und die Schuldigen klar zu benennen sind; was das aber in Konsequenz heißt, mag offen bleiben.

[121] So Altbundeskanzler Dr. Helmut Kohl am Dienstag, 24. Januar 1984 in seiner Rede vor der Knesset, beim ersten Israelbesuch eines amtierenden deutschen Politikers nach elf Jahren.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/66/mag1.htm
© Markus Göschel, 2010