Paradigmen theologischen Denkens

Auf der Suche nach einem für mich heute tragfähigen und sagfähigen Glauben

Stefan Schütze

5. Die erste „Rekonstruktionaufgabe“: Einordnung theologischer Aussagen in unsere heutige wissenschaftliche Kosmologie

Für die Aufgabe heutiger theologischer „Rekonstruktion“ einer „Glaubensperspektive“ im beschriebenen Sinne wesentlich scheint mir

die Einordnung theologischer Aussagen in unsere heutige wissenschaftliche Kosmologie, unser Verständnis der Entwicklung des Universums als ganzen, und der Entwicklung des Lebens auf unserer Erde im Besonderen, und

die Einordnung theologischer Aussagen in eine globale kulturelle und religiöse Perspektive, in einen echten Dialog mit allen menschlichen Versuchen der Annäherung an eine vertiefende, transzendente Dimension der Wirklichkeit.

Im Folgenden bespreche ich zuerst einige wichtige Beiträge, die mir geholfen haben, die erste genannte Einordnungsaufgabe heutigen theologischen Nachdenkens in Angriff zu nehmen.

5.1. Evolutionstheorie als Rahmen

Lektürebasis:

Bei der ersten  Ebene der Neuformulierung theologischen Denkens, die ich hier beschreibe, seiner Einordnung in unser heutiges naturwissenschaftliches Verständnis der Geschichte des Kosmos und der Evolution des Lebens in ihm, geht es nicht nur darum, einzelne naturwissenschaftliche Erkenntnisse in einen nach wie vor essentiell unveränderten theologischen Rahmen, etwa der Schöpfungslehre einzuzeichnen, also etwa die sieben Schöpfungstage dies priesterschriftlichen Schöpfungshymnus als „Evolutionsphasen“ zu interpretieren, ansonsten aber das Verhältnis von Gott und Welt nach wie vor rein traditionell in einem dualistischen Schema zu entfalten.

Vielmehr geht es sehr viel weitergehend darum, „die Entstehung der biblischen Religion in den Rahmen einer naturwissenschaftlichen evolutionären Weltinterpretation einzuzeichnen“[1] und in diesem Rahmen auch die überlieferten Grundbegriffe der Schöpfungs-, Gottes- und Erlösungslehre neu zu interpretieren.

Diese „Rekonstruktionsaufgabe“ mag im Einzelnen sehr unterschiedliche Formen annehmen. „Auf jeden Fall sind die Naturwissenschaften für die Zukunft von Religion und Religionskritik von entscheidender Bedeutung. Postmoderne Relativierungen der Naturwissenschaften mögen berechtigte Gesichtspunkte einbringen, aber sie prägen nicht das Bewusstsein der Menschen, sondern nur weniger Intellektueller. Die Naturwissenschaften gelten heute mit Recht als das am meisten belastbare Wissen. Didaktik“, und ich füge hinzu: jede heute tragfähige Neuformulierung von Glauben und Religion, „die es mit real existierenden Menschen zu tun hat, muss sie“ sehr viel „ernster nehmen als viele Theologen“ es üblicherweise tun.[2]

5.2. Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht nach Gerd Theißen

Lektürebasis:

Für die Möglichkeiten der Einordnung von „Glauben“ und „Glaubenslehre“ in den Rahmen eines modernen wissenschaftlichen Weltbildes hat Theißen selbst m.E. mit seinem 1984 veröffentlichten Buch „Biblischer Glaube in Evolutionärer Sicht“ wesentliche Pionierarbeit geleistet, und einen epochalen Wurf vorgelegt, den ich selbst viel zu spät entdeckt habe.

Es ist wohl bezeichnend, dass dieses Buch heute in Deutschland restlos vergriffen ist, und seit 1993 nicht mehr aufgelegt wurde, während es in englischer Übersetzung als „Biblical Faith. An Evolutionary Approach“ zuletzt 2007 in neuer Auflage verlegt wurde, und in der internationalen Diskussion, anders als in der deutschen, vielfach rezipiert und diskutiert wird. So findet sich bei dem als nächstes in diesem Rahmen dargestellten John F. Haught immerhin ein kurzer Verweis auf Theißens Buch, während Gordon D. Kaufman und Philip J. Hefner, es nicht nur zustimmend erwähnen, sondern auch mehrfach ausführlich zitieren[3].

Theißen selbst hat seinen Ansatz im ebenfalls hier zugrunde gelegten Aufsatz „Evolution“ aus dem Jahre 2004 nochmals prägnant zusammengefasst und weitergeführt; außerdem greift er ihn auf und integriert ihn u.a. in seinem erstmals im Jahr 2000 erschienenen Hauptwerk „Die Religion der ersten Christen“ und in seiner 2003 zum „Jahr mit der Bibel“ erschienenen Bibeldidaktik „Zur Bibel motivieren“.

Kurz zusammengefasst kann man Theißens Überlegungen wie folgt darstellen: Wie die Evolution einmal das kosmische Entropiegesetz, nach dem Ordnung im Universum auf die Dauer immer mehr abnimmt, partiell außer Kraft gesetzt hat, so dass es zur Entstehung, Entwicklung und Diversifizierung immer komplexeren Lebens auf unserer Erde kam, so scheint es, als habe die Evolution jetzt mit der Entstehung und Entwicklung des Menschen das sie bisher bestimmende Selektionsprinzip wiederum partiell außer Kraft gesetzt, so dass es mit der „kulturellen Evolution“ des Menschen zu einer „Evolution der Evolution“ kam, in der die damit verbundene weitere Anpassung des Menschen an die Wirklichkeit auf einmal Kategorien von Liebe, Solidarität und Barmherzigkeit hervorbrachte, in deren Rahmen er die Wirklichkeit selbst neu zu deuten und zu verstehen lernte.

In der „kulturellen Evolution“ werden die „harten Prinzipien“ der bisherigen „biologischen Evolution“ teilweise in neue, „weiche Prinzipien“ umgewandelt. „Mutationen“ im Erbgut sind jetzt „Innovationen“ im menschlichen Denken. Biologische „Vererbung“ wird zur kulturellen „Tradition“ – Ideen können jetzt nicht nur weitergegeben werden, wenn sie genetisch vererbt werden, sondern auch, wenn sie erzählt und „überliefert“ werden. „Selektion“ schließlich wird transformiert in menschliche Lernprozesse, bei denen eine schlechtere Weltorientierung und –bewältigung durch eine bessere ersetzt und an nachfolgende Generationen weitergegeben wird, ohne dass die „Träger“ der sich verändernden „Informationen“ dabei aussterben müssten.

Im Rahmen dieser kulturellen „Evolution der Evolution“ kommt nun den Religionen eine entscheidende Bedeutung zu. Die Entwicklung der Fähigkeit zum symbolischen Denken und Deuten, die die Grundlage religiöser Orientierung sind, war vielleicht die entscheidende Phase im Übergang vom Tier zum Menschen, wie es der amerikanische Meteorologe und Theologe Ralph Wendell Burhoe formuliert hat[4]. Nach seiner These war es eben die Entwicklung der menschlichen Religiosität, die dasjenige menschliche Verhalten ermöglichte, das in der englischsprachigen wissenschaftlichen Diskussion „trans-kin-altruism“ genannt wird, also die mit der Steuerung der Evolution durch das „selfish gen“ (Dawkins) rein biologisch nicht erklärbare Erweiterung des solidarischen Verhaltens über die eigene Verwandtschaft und damit den eigenen Genpool hinaus, die wesentliche Voraussetzung für die Bildung größerer Gemeinschaften und damit den „Erfolg“ der menschlichen Lebensform war.

Religion als kulturelle Symbolisierung einer übergreifenden Wirklichkeitsdeutung[5] kann also als Motor der „kulturellen Evolution“ des Menschen verstanden werden, und die großen religiösen Bewegungen als „kreative Mutationen“ dieser kulturellen Evolution, die eine immer bessere Anpassung der Menschen an die sie umgebende Wirklichkeit zur Folge hatten.

In diesem Sinne „erfolgreiche“ Mutationen des kulturellen Bewusstseins waren insbesondere die Entwicklung des Monotheismus als Grundaxiom der jüdischen Religion, das Auftreten Jesu von Nazareth, der den jüdischen Monotheismus konsequent im Sinne einer „antiselektionistischen“ Ethik weiter entwickelt hat, und die auf die Bedeutung Jesu als zweitem religiösem Grundaxiom neben dem Monotheismus konzentrierte „pneumatologische“ Gemeinschaft der ersten Christen, die die „Menschwerdung Gottes“ im Kommen Jesu als konsequente Hoffnung auf eine an der Achtung der „Schwachen“ orientierte Transformation der Wirklichkeit deuten.

Hat die Evolution also ein Ziel? Mutation und Selektion sind sicher kein an sich zielgerichteter Prozess. Aber es fällt auf, dass die Evolution zu einer erstaunlichen „Passung“ des Menschen an die Wirklichkeit geführt hat, durch die er sie nicht nur verstehen und gestalten kann, sondern sogar rein geistig Strukturen entwickeln, wie etwa die Gesetze der Mathematik, die die Wirklichkeit tatsächlich abbilden und ihrer inneren Gesetzmäßigkeit entsprechen.

Der Kosmos ist tatsächlich in seiner Feinabstimmung gleich nach dem Urknall exakt so beschaffen, dass er Leben und menschliches Bewusstsein hervorbringen konnte, ja vielleicht sogar musste (schwaches und starkes „anthropisches Prinzip“). Sind auch die Prozesse der Evolution zufällig und nicht zielgerichtet, so hat doch möglicherweise die Wirklichkeit selbst eine Struktur, die eine bestimmte Richtung des zufälligen Geschehens bewirkt; so wie ein Flugzeug vom Nordpol aus in jede zufällige Richtung fliegen kann, und sich dennoch immer Richtung Südpol bewegt, ohne dass es dafür eine intentionale Steuerung gäbe.

Vielleicht vermitteln die Religionen, und darin insbesondere die jüdisch-christliche Tradition, ja tatsächlich ein Bild vom Ziel allen kreatürlichen Geschehens, und der letzten Tiefe der Wirklichkeit, die diesem Ziel entspricht. Vielleicht ist der heutige Mensch selbst das gesuchte „missing link“ zu der immer noch ausstehenden vollständigen Menschwerdung des Menschen in einer Wirklichkeit, als deren Grunddimension die Bibel die Liebe bestimmt: „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1 Joh 4,16)

5.3. Die Sicht der kosmischen Evolution als „ongoing story“ nach John F. Haught, und die Konsequenzen für das Verhältnis von Wissenschaft und Religion

Lektürebasis:

Der römisch-katholische amerikanische Theologe John F. Haught, dessen Spezialgebiet das Verhältnis von „science and religion“ ist, und der auch als „expert witness“ vor einem Gericht in Dover ausschlaggebend gegen die verpflichtende Behandlung des sog. „Intelligent Design“ – Konzeptes als Alternative zur Evolutionstheorie an öffentlichen Schulen aussagte[6], hat in verschiedenen Büchern versucht, heutiges religiöses Denken in einen evolutionären Kontext einzuzeichnen, und dabei wissenschaftliche und religiöse Weltsicht ins Gespräch miteinander zu bringen.

Dazu entwickelt er die Idee, dass das Universum, wie es sich uns heute wissenschaftlich darstellt, am besten im Bild einer „story“ begriffen werden kann, die sich vom Urknall an bis heute entfaltet hat, und sich wahrscheinlich noch viele Milliarden Jahre lang weiter entfalten wird. Wissenschaften und Religionen lesen diese „story“ auf unterschiedliche Weise.

Dabei wendet sich Haught mit Nachdruck gegen „literalistische Lesarten“ dieser „story“ sowohl im fundamentalistischen Christentum, das die biblischen Schöpfungserzählungen und die nachfolgenden Erzähltraditionen als buchstäbliche Beschreibung der Geschichte der Welt fehlinterpretiert, als auch in der naturalistischen Naturwissenschaft, für die es im Kosmos nichts als „matter“, und keine dahinter stehende wissenschaftlich nicht auslotbare „Tiefe“ gibt.

Insofern geht es bei der Debatte zwischen Naturwissenschaft und Religion um ein „reading problem“; gegen eindimensionale nur wissenschaftliche oder nur religiöse Lesarten der kosmischen Geschichte plädiert Haught für „multi-layered“ readings als angemessene Erschließung der Wirklichkeit, bei denen sich die verschiedenen Interpretationsarten ergänzen und gegenseitig bereichern: „nature, like a book, can be read on several different levels without contradiction.“[7]

Das Konzept der „story“ entspricht nach Haught dem gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Kosmologie und verändert sowohl viele Aussagen der klassischen Physik als auch der klassischen Metaphysik, die beide ein sehr viel statischeres, weniger dynamisches und prozessuales Bild des Universums hatten. Theologisch kann man z.B. nicht mehr von einem paradiesischen Urzustand ausgehen, von dem der Mensch „gefallen“ wäre, so dass die Unvollkommenheit der gegenwärtigen Welt als Abfall von ihrer ursprünglichen Güte und Folge der Schuld des Menschen verstanden werden könnte: „if [the universe] is unfinished“ und in einem milliardenalten Prozess des Werdens begriffen, „than we cannot justifiably expect it yet to be perfect“.[8] Das macht die Theologie weniger anthropozentrisch, und erfordert eine Neuformulierung der Erlösungslehre, die die klassische Konzentration auf das Problem von Schuld und Vergebung transzendiert und die Zukunft der gesamten Schöpfung mit einschließt. Hier ist nach seiner Sicht auch die Theologie von Paul Tillich, der Haught sonst viele seiner Impulse verdankt, noch zu statisch. Als weiterführenden Theologen bezieht er sich dagegen, in „Deeper than Darwin“ und verstärkt noch in  „Christianity and Science“ immer wieder auf Pierre Teilhard de Chardin, dem er z.B. die Kategorie des „promise“ als Grundkategorie einer prozesshaften Deutung des Weltgeschehens verdankt.

Die Evolution des Kosmos ist entgegen vieler früherer Ontologien eine „still ongoing story“; die Welt immer noch in einem lange noch nicht abgeschlossenen „process of becoming“. Religiöse Deutung wird hier auch die Theodizeefrage neu stellen und konturieren müssen: Für das evolutive Werden der Welt sind Leiden und Tod notwendiger Bestandteil; aber die gleichzeitige Emergenz des Schönen, Wahren und Guten im Universum rechtfertigt es doch, die story der Welt mit der Kategorie der Verheißung („promise“) zu interpretieren.

Haught versteht Gott dabei als Grund, Tiefe und Ziel des kosmischen Prozesses, die er in Anlehnung an Tillich sowohl in persönlichen (denn „Gott“ ist auch der Grund und die Zukunft des menschlichen Personseins) wie auch in überpersönlichen und transpersonalen Begriffen deutet. Dass Menschen den göttlichen Grund der Welt bisher eher ahnen als wissen, und in den unterschiedlichen Religionen sehr unterschiedlich bestimmen, liegt daran, dass Grund und Ziel der kosmischen „story“ eben bisher nur undeutlich und unvollständig manifest geworden sind, und wir noch nicht wissen, wie das Ende dieser Geschichte aussehen wird.

Dabei wird die Theologie dann schließlich auch ihre Lehre von der göttlichen „Vorsehung“ verändern und neu profilieren müssen: „a serious encounter of theology with contemporary versions of evolutionary science may not only enrich our understanding of the universe but also revitalize our sense of divine providence“.[9] Göttliche „Vorsehung“ ist zwar nicht mehr denkbar in Form eines übernatürlichen göttlichen Eingreifens in die Welt; aber religiöse Weltdeutung kann göttliche „Vorsehung“ z.B. in der Feinabstimmung der Strukturen der Wirklichkeit entdecken, die die Evolution des Lebens und die Emergenz von neuen Entwicklungsstufen überhaupt erst ermöglichen.

Religion kann und muss „tiefer“ und „weiter“ sehen, als die Wissenschaft es tut, auch über den möglichen künftigen „Wärmetod“ des Kosmos hinaus: „[a] religiously informed consciousness – especially one that is acquainted with suffering and skilled in the habit of hope – may be able to detect signals arising from the depths of nature that the methods of science, proficient or abstractive, … will inevitably (and quite appropriately) overlook“.[10] Insofern hat der Glaube Hoffnung, dass Gott alle Teile der kosmischen Geschichte gewissermaßen in sich aufnimmt und verewigt, so dass auch Leiden und Tod in die göttliche Verheißung hinein aufgehoben und „erlöst“ sind: „Deeper than evolution, beneath all becoming, perishing and death, there resides a rock-solid registry that prevents the erasure of all facts from the indelible record of having happened“.[11] Diese in alles eingehende (Haught verweist hier in verschiedenen seiner Bücher auf die christliche „Kenosis“-Lehre[12]) und alles in sich einschließende Tiefe des kosmischen Prozesses nennen die Religionen „Gott“.

5.4. Die Rekonstruktion des Gotteskonzeptes im Rahmen einer evolutionären Kosmologie nach Gordon D. Kaufman

Lektürebasis:

In seiner eigenen “Rekonstruktion” heutigen theologischen Denkens, insbesondere der Gotteslehre, im Rahmen eines heute plausiblen Welt- und Geschichtsbildes schlägt Gordon Kaufman vor, von Gott nicht mehr (anthropomorph) als “Creator” (eine Art himmlischer “Überperson” jenseits der Welt, die sie schafft), sondern (kosmologisch) als dem unergründlichen und unauslotbaren Geheimnis der kosmischen Kreativität selbst zu sprechen, the creativity “manifest throughout the vast cosmos as we today think of it“ und „manifest in the emergence of life on planet Earth with … ist evolutionary expansions in countless directions … that at a long last brought us humans … into beeing“[13]

Gott heute in dieser Weise als “creativity” statt als “Creator” zu denken, ermöglicht uns, theologische Werte (“values”) und Sinndeutungen (“meanings”) in eine grundlegende Übereinstimmung mit modernem kosmologischen und evolutionärem Weltverständnis zu bringen: Die Deutung Gottes als die geheimnisvolle kosmische Kreativität, aus der nach und nach immer komplexere Realitäten, und schließlich auch das Leben und das menschliche Bewusstsein hervorgegangen sind, verbindet die theologische Rede grundlegend mit den heutigen Ideen des kosmischen Ursprungs (“Big Bang”), der weiteren kosmischen und biologischen Evolution, der evolutionären “Emergenz” immer “höherer” Entwicklungsstufen aus “niedrigeren” Anfängen, und schließlich der biohistorischen Koevolution der menschlichen Kultur, in der sich ebenfalls eine gewaltige kreative Kraft ausdrückt und entfaltet.

Kaufman differenziert in diesem Sinne das Gesamtphänomen der göttlichen Kreativität in drei aufeinander aufbauende Aspekte (“modalities”): Die kosmische Kreativität bezieht sich auf den Anfang aller Dinge im aus keinerlei vorhergehenden Entitäten erklärbaren Urknall, und damit auf die philosophische Grundfrage, “warum überhaupt etwas ist und nicht nichts” (nach Kaufman “creativity1”). Die kosmische Kreativität bezieht sich dann auf die allmähliche, jahrmilliardenlange Evolution des Universums, die Ausbreitung von Galaxien und Sternen, die Entwicklung der Biosphäre, die Entstehung von Leben auf unserem Planenten und in seiner Folge die Entstehung von intelligentem, bewussten Leben, das heute die kosmische Evolution selbst begreifen kann (“creativity2”). Und schließlich bezieht sich die kosmische Kreativität auf jene erstaunliche biohistorische Koevolution des Menschen als Kulturwesen, das als einzige Lebensform beginnt, selbst seine Lebenswelt kreativ umzugestalten, denkend, handelnd, und nachhaltig verändernd zu erschließen (“creativity3”).[14]

Für die religiöse Deutung dieser vielfachen Kreativität im Kosmos ist dabei die Dimension ihrer unergründlichen Geheimnishaftigkeit leitend: The „notion of creativity … carries a strong note of mystery. … (Creativity) is profoundly mysterious; … the coming into being of the truly new and novel is not something that we humans understand“[15] Darum leben wir unser Leben trotz aller Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnis „profoundly“ und „ultimately“ „in face of mystery“. The „real context of our lives … is mystery. And it remains mystery even if we know something of its structure and pattern“.[16] Diese neue Weise, “Gott” als das “ultimate mystery of creativity” zu denken, das die Wirklichkeit durchdringt, vermeidet so nicht nur den Anthropomorphismus und Anthropozentrismus früherer supranaturalistischer und dualistischer theologischer Konstruktionen. Sie begründet auch in neuer Weise die Möglichkeit von Glauben. Das “mystery of ongoing cosmic creativity”, Gott, manifest in der ganzen Geschichte des Universums, inspiriert unser Staunen und unser religiöses Gefühl, ruft Haltungen der Dankbarkeit, der Liebe, des Friedens, der Ehrfurcht und der Hoffnung hervor, und evoziert einen Sinn für die tiefe Bedeutsamkeit menschlicher Existenz in dieser Welt – erfüllt also exakt diejenigen Funktionen, mit denen Glauben an Gott auch traditionell verbunden war.

Kann bei einer solchen Rekonstruktion der Gotteslehre Gott noch im Sinne des Neuen Testamentes als “Liebe” verstanden und geglaubt werden? Kaufman differenziert hier die verschiedenenen Aspekte der Erfahrung der kosmischen Kreativität im Universum, um, vielleicht nicht für alle Dimensionen dieses kreativen Prozesses, aber doch für unsere irdische und menschliche Wirklichkeit zu einer vorsichtigen Bejahung zu kommen: “As we have been noting, it would certainly be a mistake to argue that cosmic creativity always manifests love for all the creatures involved: that would be unintelligible, indeed absurd, in face of all we know“ über die Bedeutung von Auslese, Leid, Katastrophen und Tod allein im Bereich der menschlichen Evolution. „But there is every reason to maintain … that the emergence of the love that has become of such central importance to human being and well-being must itself be seen as connected to the creativity that brought into beeing our humanity.“[17] Insofern können Menschen die Liebe, die in ihrer biohistorischen Evolution für ihr Leben und ihr Miteinander fundamentale Bedeutung gewonnen hat, auch als Ausdruck der göttlichen Kreativität selbst verstehen, insofern sie bestimmend war in jenem „trajectory“ der kosmischen Evolution, „that has brought humans into being“[18]. In diesem Sinne bezeichnet Kaufman die kosmische Kreativität, Gott, insgesamt als „serendipitous“, weil sie die Entwicklung und Entfaltung immer neuer komplexerer Wirklichkeiten begründet und trägt, und so auch das menschliche Leben ermöglicht und bis heute gefördert hat.

Dabei betont Kaufman stark die heutige Bedrohung der ganzen Erde durch menschliches Verhalten und die damit verbundene Notwendigkeit der Umkehr. Nicht nur durch die modernen Massenvernichtungswaffen, sondern durch seine ganze Lebensweise gefährdet der Mensch inzwischen die “ecological conditions” auf der Erde, “apart from which much of life cannot exist (wether there is a nuclear holocaust or not)”[19]. Insofern kann die Aufgabe der Religionen heute nicht mehr nur die sein, die Menschen zu trösten, Schuld, Verzweiflung und Todesangst oder das menschliche Leid allgemein zu überwinden. “Now it has to do with the much more basic matter of the objective conditions that make all life – including human life – possible: we are destroying them, and it is we who must find a way to reverse the ecologically destructive momentums we have brought into beeing.”[20] 

Dabei ersetzt der Glaube an Gott als der alle kosmische Entwicklung und alles irdische Leben tragenden und begründenden Kreativität nicht das notwendige menschliche Handeln, aber es verleiht ihm doch die Dimension der Hoffnung auch für die Zukunft des „menschlichen Projektes“: „It is a hope about the overall direction of future human history – hope for truly creative movements toward ecologically and morally responsible, pluralistic human existence. A hope of this sort, grounded on the mystery of creativity in the world – a creativity that, on our trajectory, evidences itself in part through our own creative powers – can help motivate men and women to devote their lives to bringing about this more humane and ecologically rightly ordered world to which we aspire. If God is understood as the creativity manifest throughout the cosmos – instead of as a kind of cosmic person – and we humans are understood as deeply embedded in, and basically sustained by, this creative activity in and through the web of life on planet Earth, we will be strongly encouraged to develop attitudes and to participate in activities that fit properly into this web of living creativity, all members of which are neighbours that we should love and respect. Thus, we will be led to live in response to, and in so doing will contribute to, the ongoing creative developement of our trajectory – God’s activity among us humans – within this web.“[21]

5.5. Die Verankerung religiöser Erfahrung im „way things really are“ nach Philip J. Hefner

Lektürebasis:

Auch der amerikanische lutherische Theologe Philip Hefner versucht, christlichen Glauben und menschliche Religiosität  im Kontext gegenwärtiger naturwissenschaftlicher Konzepte von Mensch und Kosmos zu verstehen und neu zu interpretieren. Dabei geht sein Entwurf teilweise in eine ähnliche Richtung wie der Kaufmans, auf den er sich vielfach bezieht. Teilweise unterscheidet er sich aber auch ganz bewusst von Kaufman, indem er skeptisch bleibt im Blick auf die wissenschaftliche Plausibilität von Kaufmans Reformulierung des Gottesbegriffes, und sich darauf beschränkt, die Bedeutung von „god-talk“ im Rahmen einer evolutionären Anthropologie funktional zu beschreiben.

Hefner entfaltet seine Argumentation in drei Grundschritten: Zuerst betont er die durchgängige Einbindung des Menschen in die Natur, deren evolutionär emergenter Teil er ist. Damit ergibt sich aus dem modernen Verständnis der Entwicklung des Menschen für ihn eine wichtige Akzentverschiebung gegenüber vielen Teilen der christlichen Tradition, in denen der Mensch eher im Gegenüber zur ihn umgebenden Natur gesehen wird, als Bebauer und Bewahrer, aber nicht als „kin“ zu allen anderen Geschöpfen.

Zweitens betont er, ähnlich wie Kaufman, die Bedeutung der gegenwärtigen ökologischen Krise, die der Mensch durch seine Kultur inzwischen hervorgebracht hat. Die Schöpfung ist heute eben durch den Menschen massiv bedroht, und es ist darum heute die vordringlichste Aufgabe der Menschen, ihr kulturelles Verhalten als Teil der Natur so zu verändern,  dass das Ökosystem der Erde wieder ins Gleichgewicht kommt.

Drittens betont er die geschichtliche Bedeutung von Mythos und Ritual für die Orientierung angepassten menschlichen Verhaltens in unserer geschöpflichen Wirklichkeit. Der Mensch ist von Anfang an ein religiöses Wesen, und die kulturelle Funktion der Religion war und ist es, den Menschen angesichts des Ganzen der ihn umgebenden Wirklichkeit durch Hervorbringung von Werten und Sinndeutungen so zu orientieren, dass sein Leben in dieser Welt gelingt. Angesichts des Ausmaßes der gegenwärtigen globalen Krise sind Wissenschaft und Glaube heute gemeinsam herausgefordert, das menschliche Handeln neu auszurichten, damit die Zukunft der Schöpfung und des „human factor“ in ihr nicht endgültig „verspielt“ werden.

Die anthropologische Grundmetapher, die Hefner für die Stellung des Menschen in der Natur dabei entwickelt, ist die des  "created co-creators": „the human being is created by God to be a co-creator in the creation that God has brought into being and for which God has purposes“; dabei steht das Wort „Gott“ hier im Kontext eines grundlegend evolutionären Weltverständnisses: „the conditioning matrix that has produced the human being - the evolutionary process - is God's process of bringing into being a creature who represents the creation's zone of a new stage of freedom and who, therefore, is crucial for the emergence of a free creation“.[22]

Dabei verweist das Symbol „Gott“ auch für Hefner nicht auf eine metaphysische „Überperson“, sondern auf die Interpretation der Wirklichkeit selbst, den „way things really are“, oder „the most fundamental reality or nature of things“[23]. Hier dient ihm insbesondere die Gottesrede Jesu als Paradigma um zu verstehen, welche Funktion die Verwendung des Symboles „Gott“ für die Interpretation der „experience of the world“ hat.

Jesus macht, in Theißens Sprache ausgedrückt, grundlegende Resonanzerfahrungen mit der ihn umgebenden Wirklichkeit, trotz aller Brüchigkeit und Widerständigkeit des Lebens. Seine Gottesrede, „god-talk“, ist Ausdruck dieser Grunderfahrungen, „expression of (his) experience of the world“[24]. Dabei ist die Funktion des Symboles „Gott“ in Jesu Rede, seine grundlegenden Resonanzerfahrungen tiefstmöglich in der Wirklichkeit selbst zu verankern: „God-talk secures the grounding of this experience as deeply as possible in the very nature of things“[25], „to root the experience in the most fundamental nature of reality“[26].

Dabei schlägt Hefner vor, solchen „god-talk“ als Vorschlag zu verstehen, wie wir auch heute die Welt deuten können, ähnlich wie wissenschaftliche Weltdeutungen als „Hypothesen“, die an der Wirklichkeit überprüft werden müssen, als „proposals to be tested“[27]: „Despite the fact that the contextualizing concepts of religion are most often cast in the form of the imperative, declarative, or the vocative, we must receive them as if they were hypothetical in form“[28]. So übersetzt er Jesu Gottesrede in der Bergpredigt folgendermaßen in derartige „religious proposals“: „As you live your life, you seem to be embedded in a fundamental coherence – don’t you think so?“ „As you live your life, you are embedded in a fundamental peronalness – don’t you think so?“ „As you live your life, it seems that individuals do count, and what they do with their lives matters – don’t you think so?“[29]

In dieser funktionalen Interpretation der Bedeutung des Gottessymboles im Zusammenhang der Orientierungskraft von Mythos und Ritual für unser Leben lässt Hefner bewusst offen, welches philosophische oder theologische „concept of God“ heute hinter diesem Symbol verwendet werden soll. Hierin unterscheidet er sich bewusst von Kaufman, für den ja eben die imaginative „Rekonstruktion“ eines die Wirklichkeitsdeutung tragenden Gottesbegriffs im Vordergrund steht.

Hefner betont, dass sein Ansatz viel mit dem Kaufmans gemeinsam hat: „In fact, his concerns overlap mine to a considerabke extent … I, too, would aim at creating a framework of interpretation that provides overall orientation for human life. However, I do not first of all look to a concept of God to supply that framework. Rather, I look to the information provided by myth and ritual  ... Proceeding from the God concept, one argues, since there is a kind of meaningfullness observable in natural processes (Kaufman terms it ‚serendipitous creativity’), that it makes sense to love one’s neighbor and even one’s enemy. When, in contrast, we proceed fom myth and ritual (in this case the Christian myth of the love command …), the argument unfolds in this manner: If you wish to be in harmony with the way things really are, you will love your neighbor and your enemy.“[30]

Das „Doppelgebot der Liebe“ ist dabei für Hefner die grundlegende religiöse Orientierung, die der jüdisch-christliche Mythos zur Interpretation der Wirklichkeit:entwickelt hat: „The most basic value and moral thrust  of this myth is set forth in the Great Commandment: ‚You shall love the Lord your God with all your heart, and with all your soul and with all  your mind … and … you shall love your neighbor as yourself.“[31]

In das heutige Verständnis von Welt und Mensch übersetzt kann man die grundlegende Lebensorientierung, die mit diesem Liebesmythos ausgedrückt ist, so formulieren:

„Love for God translates into awe and regard fort he central reality (to use Gerd Theissen’s term) that is the ground of all finite existence that we observe, and also into the accountability by which we hold ourselves to the unreserved effort to adapt ourselves to the central reality that is God. .. To love this reality with all one’s heart and soul and mind suggests an all-encompassing regard for it and also living in commitment and accountability to it.“[32]

„Love for neighbor translates into unreserved action on behalf of our fellow human beings.“[33]

„The Christian Myth’s Central Contribution“ zur Orientierung des Menschen in seiner Wirklichkeit, das auch in seiner Übersetzung „in nonreligious terms“ „stunning“ bleibt, fasst Hefner in nicht religöser Sprache schließlich nochmals prägnant so zusammen: „The reality system of nature in which we live is itself basically an ambience in which we truly belong, an ambience, that has brought us into beeing and that enables us to fulfill the purposes for which we were brought into being. The central reality that undergirds all our concrete experience and to which we continually seek to adapt is disposed toward us in a way that we can interpret as graciousness and beneficent support."[34]



[1]   Theißen, Zur Bibel motivieren, 40

[2]   Theißen, Zur Bibel motivieren, 41

[3]   vgl. Kaufman, In the beginning, 86; 94f.; Hefner, Human Factor, 30, 190, 207, 247, 249, 252, 253, 274

[4]   R.W. Burhoe, Religion’s role in human evolution: The missing link between ape-man’s selfish genes and civilized altruism, in: Zygon 14 (1979), 135-162; Bezugnahme bei Theißen, Biblischer Glaube, 179

[5]   vgl. Theißens auf diese evolutive kulturelle Bedeutung aufbauende Definition von Religion in „Die Religion der ersten Christen“, 19: „Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt.“

[6]   Vgl. die Darstellung im Wikipedia-Artikel über Haught: „Haught testified as an expert witness for the plaintiffs in the case of Kitzmiller v. Dover Area School District. His opinion was that the effect of the intelligent design policy adopted by the Dover School board would ‘be to compel public school science teachers to present their students in biology class information that is inherently religious, not scientific in nature.’ ” (http://en.wikipedia.org/wiki/John_Haught; Stand: März 2010)

[7]   Haught, Deeper than Darwin, 23

[8]   Haught, Deeper than Darwin, 169

[9]   Haught, Deeper than Darwin, 78

[10] Haught, Deeper than Darwin, 45

[11] Haught, Deeper than Darwin, 152

[12] Zur Entwicklung der „Kenosis“-Lehre im Zusammenhang eines evolutiven Schöpfungsverständnisses vgl.  Haught, Christianity and Science 40-45; 90-95. „The image of a self- emptying – and hence intimately relational – God , the absolute outpouring of goodness and love, is the very essence of the Christian experience of revelation.“ (43) Im Rahmen dieses Grundverständnisses lässt sich auch die Schöpfung neu denken nicht mehr im supranaturalistischen Sinne als „efficient causation“, sondern als göttliche Selbsthingabe und Einwohnung in allen Dingen (Panentheismus).

[13] Kaufmann, In the beginning, X

[14] zur differenzierten Ausführung dieser Einteilung s. Kaufman, In the beginning, 76ff.

[15] Kaufman, In the beginning, 56

[16] Kaufman, Mystery, 114

[17] Kaufman, In the beginning, 63f.

[18] Kaufman, In the beginning, 64

[19] Kaufman, In the beginning, 37

[20] Kaufman, In the beginning, 38

[21] Kaufman, In the beginning, 48

[22] Hefner, Human Project, 32

[23] vgl. Hefner, Human Project, 287

[24] Hefner, Human Project, 88

[25] Hefner, Human Project, 88

[26] Hefner, Human Project, 89

[27] Hefner, Human Project, 91

[28] Hefner, Human Project, 91

[29] Hefner, Human Project, 91

[30] Hefner, Human Project, 216

[31] Hefner, Human Project, 189

[32] Hefner, Human Project, 190

[33] Hefner, Human Project, 190

[34] Hefner, Human Project, 194

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/65/sts1f.htm
© Stefan Schütze, 2010