Paradigmen theologischen Denkens

Auf der Suche nach einem für mich heute tragfähigen und sagfähigen Glauben

Stefan Schütze

3. Grundlegung: Die Unterscheidung von „faith“ und „belief“ nach Wilfred Cantwell-Smith

Lektürebasis:

Ähnlich wie Theißen sieht auch der vergleichende Religionswissenschaftler und Pionier einer pluralistischen Religionstheologie, Wilfred Cantwell Smith den Glauben bzw. die religiöse Anlage des Menschen als zur „conditio humana“ gehörig. „Glaube ist …, soweit man die Geschichte überblicken kann, eine essentielle menschliche Qualität. Man könnte sogar dafürhalten, dass es die essentielle menschliche Qualität ist: dass sie für den Menschen als solchen konstitutiv ist, - dass diese universale Möglichkeit oder Einladung, angesichts einer transzendenten Dimension zu leben, für die Persönlichkeit konstitutiv ist.“[1]

Solchen Glauben (engl. „faith“) definiert Cantwell-Smith näher als Offensein für „eine Qualität des Lebens in sich selbst, in seinem Nächsten und im Universum“, die den Menschen „über den bloß weltlichen und vorfindlichen Bereich hinaushebt. … Wir reagieren nicht bloß, sondern sind – individuell und als Mitglied einer Gemeinschaft - offen für Quellen der Inspiration, der Hoffnung, der Vision, der Verpflichtung – über die Gegebenheiten der unmittelbaren Umgebung hinaus.“[2]

Insofern ist der Mensch von seiner biologischen Evolution her konstitutiv religiös. Immer, an allen Orten und zu allen Zeiten haben Menschen  „geglaubt“. Hiervon stellt nur der „moderne Westen“ teilweise eine Ausnahme dar. Aber ein „Ende der Religiosität“ ist nirgendwo in Sicht. Der moderne Atheismus ist für Cantwell-Smith eine Nichtanerkennung des tatsächlichen Charakters der Wirklichkeit, und letztlich eine Täuschung über sich selbst. Wirklich ohne „Glauben“, atheistisch, wäre nur, wem nichts im Leben wirklich wichtig ist[3]. „Ein echtes Verstehen des Menschseins verlangt“ dagegen „nach einer Anerkennung unserer Fähigkeit zum Glauben. … In jedem Fall heißt Erwachsenwerden nicht, über diese Anlage hinauszuwachsen, sondern sie als Faktum anzuerkennen und vernünftig und konstruktiv damit umzugehen.“[4]

Von solchem Glauben als konstitutiver menschlicher Offenheit für Transzendenz (engl. „faith“) unterscheidet Cantwell-Smith nun Glauben als „Meinung“, als begriffliche Konzeptualisierung des Geglaubten, als „Weltsicht“, als „Annehmen“ bestimmter „propositionaler“ Satzwahrheiten (engl. „believes“). Eine gewisse Analogie zu dieser im Englischen möglichen begrifflichen Unterscheidung zweier unterschiedlicher Bedeutungen des Wortes „Glauben“ – „faith“ als grundlegende menschliche Transzendenzoffenheit, „belief“ als begriffliche Explizierung, theologische Deutung und weltanschauliche Ausformung der „Glaubenssicht“ – findet sich vielleicht in der klassischen dogmatischen Unterscheidung von „fides qua“ und „fides quae“.

Das Problem der Moderne ist nach Cantwell-Smith, dass sowohl von Gläubigen wie von Atheisten heute häufig „faith“ mit „belief“ gleichgesetzt und mit diesem verwechselt wird. Gläubige meinen, wenn man bestimmte geschichtliche begriffliche Formulierungen des Glaubens in Frage stelle, stelle dies den Glauben selbst in Frage. Atheisten meinen, mit der Widerlegung gestimmter „believes“ den Glauben selbst („faith“) widerlegt zu haben.

Aber „believe“ ist nicht „faith“. „Faith“ ist, mit Tillich gesprochen, das Ergriffensein von dem, „was uns unbedingt angeht“, eine Dimension von „ultimate concern“ im menschlichen Leben. „Believes“ sind dagegen kontingente, historische, zeitgebundene menschliche Formulierungen. Anders gesagt: Man kann zwar existentiell gewiss sein, und religiös erfahren, dass man bejaht, geliebt und getragen ist. Aber dass Gott „eine Substanz in drei Personen“ sei oder Jesus Christus „wesensgleicher Natur mit Gott“, ist eine abgeleitete menschliche Glaubensannahme, nicht selbst eine mögliche existentielle „Resonanzerfahrung“ (Theißen). „Die Wahrheit dessen, was man ‚annimmt’ (‚believes’) – selbst dessen, was man sieht und was sich experimentell verifizieren lässt – ist niemals die volle Wahrheit. … Jede Vorstellung – wie auch jeder formalisierte Bewusstseinsinhalt, jede These und jede ‚Meinung’ (‚believe’) – ist eine intellektuelle Formulierung der Wahrheit im Denken einer bestimmten Person oder Gruppe … soweit diese Person der Gruppe sie erfasst hat (von ihr erfasst wurde).“[5]

Für die eigene Formulierung von „believes“ gilt: „One’s conceptualizing of faith, and of the universe perceived from faith, … must be the closest approximation to the truth to which one is capable of rising (being raised)“[6]. Diese Annäherung an die Wahrheit kann mehr oder weniger gelungen oder mehr oder weniger misslungen sein. Nicht alle menschlichen „Glaubensformulierungen“ sind von gleicher Qualität. Manche sind „so unzutreffend oder unangemessen“, dass sie „einer Fehlauffassung“ nahe kommen. Manche sind aber auch umfassend und richtungsweisend. Aber keine erfasst die Wahrheit vollständig und ganz, keine ist der Kontingenz und Geschichtlichkeit enthoben. „Wahrheit transzendiert nicht nur den Wahrheitshorizont eines jeden von uns, sondern auch die Summe all unserer (möglichen) Wahrnehmungen. Daher kann prinzipiell jeder Beobachter und jede Beobachterin etwas von der Wahrheit einer jeden Person – und besonders jeder Gruppe – der Menschheitsgeschichte in Vergangenheit und Gegenwart lernen.“[7] Das Ziel solcher Begegnungen mit anderen Glaubens- und Denkwelten kann dabei aber nicht die „größtmögliche Gleichfötrmigkeit der Glaubensmeinungen (‚similarity of belief’)“ sein, sondern die „Gleichförmigkeit der Glaubenshaltung (‚faith’)“. „Man könnte auch hier mit einem Aphorismus spielen: Der eigene Glaube (‚faith’) stammt, wie viele betont haben, von Gott - dagegen gehen die Glaubensmeinungen (‚believes’) auf das jeweilige Jahrhundert oder die jeweilige Gruppe zurück.“[8]



[1]   Cantwell-Smith, Menschlicher Glaube, 156

[2]   Cantwell-Smith, Menschlicher Glaube, 156

[3]   Vgl. im „Introductory essay“ von Kenneth Cracknell zum „Reader“: „Quoting approvingly an unknown source which said that the only true atheist is ‚he who loves no one and whom no one loves; who does not care for truth, sees no beauty, strives for no justice, who knows no courage and no joy, finds no meaning, and has lost all hope’, Smith writes that this sentiment could be rendered more neutrally in terms of ‚faith’. ‚No human beeing is or ever has  been utterly without faith’, he continues, ‚for faith is what sets a person free, or «saves» a person, from mediocrity, self absorption, the bleak despondency of meaninglessness’.“ (zitiert aus Faith and Belief, Princeton, New Jersey, 1979, 20)

[4]   Cantwell-Smith, Menschlicher Glaube, 156

[5]   Cantwell-Smith, Menschlicher Glaube, 169f.

[6]   Cantwell-Smith, Reader, 148

[7]   Cantwell-Smith, Menschlicher Glaube, 170

[8]   Cantwell-Smith, Menschlicher Glaube, 171f.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/65/sts1d.htm
© Stefan schütze, 2010