K.M.

Eine Lektüre-Empfehlung

Andreas Mertin

Kurt Marti: Notizen und Details: 1964-2007 (Gebundene Ausgabe), Zürich 2010

Zu Recht ist dieses Buch bereits innerhalb kürzester Zeit in zweiter Auflage erschienen und man wünscht ihm noch viele weitere Auflagen und damit eine möglichst große Verbreitung und viele Leserinnen und Leser. Die Notizen und Details, die man hier auf 1422 Seiten vorgeführt bekommt, waren ursprünglich eine Rubrik in der Berner Zeitschrift „Reformatio“, die der Theologe und Schriftsteller Kurt Marti von 1964 bis 2007 gefüllt hat. Es sind Meditationen und Reflexionen der jeweiligen Zeit und über sie hinaus, es sind Einwürfe und kritische Stellungnahmen zum Weltgeschehen.

Was dieses Buch so eindrücklich macht und was mich manchmal bei der Lektüre zur Verzweiflung getrieben hat, ist seine Aktualität. Es scheint, als sei kaum Zeit vergangen, seitdem Marti in den 60er-Jahren über das Image kirchlicher Zeitschriften am Beispiel des Sonntagsblattes schrieb. Oder vielleicht ist es noch erschreckender: es hat sich seitdem kaum etwas geändert. Dieselben Einwände könnte man heute noch gegen die Imagekampagnen unserer Kirchen vorbringen.

Persönlich habe ich mir die Frage gestellt, warum ich mich noch mühe, über die desolaten kirchlichen und theologischen Verhältnisse der Gegenwart kritisch zu schreiben, wenn Kurt Marti es doch schon Jahrzehnte zuvor viel treffender und literarisch präziser formuliert hat. Was kann man also über Kurt Marti hinaus schreiben, was über den Traum von Kirche oder über die Kirche und die Aufklärung, was er nicht bereits präzise reflektiert hat? Aber vielleicht kann man ihn als Maßstab begreifen, vielleicht sollte man dieses Konvolut von Notizen und Details als Ansporn lesen, Theologie auf der Höhe der Zeit zu betreiben, ohne beim Anspruch auf theologische Durchdringung der Zeit Kompromisse zu machen.

Die Notizen und Details arbeiten sich ebenso an den großen Fragen der Theologie wie den kleinen des Alltags ab, sie sichten, kommentieren, reflektieren und kritisieren. Sie zeigen, wie ein gebildeter und geistesgegenwärtiger Protestantismus auszusehen hat.

Unter dem Titel „Repräsentativ“ schreibt Marti 1965 über die Imagekampagne des Deutschen Sonntagsblattes. Und Marti schreibt: „Fragt man sich also: was vertritt (‚repräsentiert’) diese Zeitung, so kommt man – immer in Auslegung des Werbe-‚Images’! – zum Schluss: Das 'Sonntagsblatt’ will diejenigen repräsentieren, die repräsentieren. Ich finde das sympathisch, weil klip und klar gesagt wird, was die Zeitung anstrebt: Einfluss bei den Einflussreichen einer Gesellschaft, die den Status quo für das schlechthin ‚Richtige’ hält, das repräsentiert werden muss.“ (S. 39) Inzwischen geht es nicht mehr um Zeitschriften und Zeitungen, aber 45 Jahre später haben sich die kirchlichen Image-Kampagnen multipliziert, die Inhalte aber nicht geändert.

Es ließen sich noch eine Fülle weiterer Perlen benennen, etwa zum Thema Toleranz, Betreuungskirche, Wissenschaftliche Theologie und populärer Glaube (1973), Rudolf Bohrens Kritik kirchlicher Bürokratie, über den unsäglichen Begriff Kulturschaffende, Religiöse Aufklärung und nicht zuletzt die letzte Notiz des Buches über „einen aufgeklärten, aufklärenden Protestantismus“. Das alles sollte den Leser, die Leserin neugierig machen, sich selbst auf die Lektüre-Reise durch das Buch zu machen.

Das Buch ist schön gemacht, hat drei Lesebändchen (die man auch dringend braucht) und erinnert mich ein wenig an die gesammelte Akzente-Ausgabe bei Zweitausendeins. Wenn Sie also gerade eine inspirierende Lektüre suchen, wenn Sie wissen wollen, warum die Herausforderungen der Jahre zwischen 1964 und 2007 immer auch noch unsere Herausforderungen sind, wenn Sie ein bisschen theologisch-kritische Zeitgeschichte Revue passieren lassen wollen, dann greifen Sie zu!

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/65/am318.htm
© Andreas Mertin, 2010

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