Jesus lebt

Eine theologische Glosse

Andreas Mertin

Foto-Negativ des so genannten Turiner GrabtuchsWer hätte gedacht, dass einmal ein zentrales ‚evangelisches’ Portal seinen Karfreitagsauftritt mit einem Ausschnittsnegativ des Turiner Grabtuchs eröffnet und als Bildunterschrift schreibt: Das Turiner Grabtuch mit dem Antlitz Jesu. Und dann darüber in großen Lettern titelt: Karfreitag: Das Kreuz steht im Mittelpunkt.

Muss man es extra sagen? Nein, das Turiner Tuch zeigt nicht das Antlitz Jesu, es ist eine Anfertigung vom Anfang des 14. Jahrhunderts, wie alle wissenschaftlichen Untersuchungen, an denen sich ein Mensch mit Vernunft und Bildung nur orientieren kann, belegen. Ja, das Turiner Grabtuch ordnet sich ein in die lange Geschichte der Manipulationen des Klerus an den magie- und wundergläubigen Gemeindegliedern. Anders als bei einem Kunstwerk wird hier unterstellt – und www.evangelisch.de betont das in der Bildunterschrift -, man habe mit dem Turiner Grabtuch ein authentisches Bild Jesu Christi vor sich. Aha, so soll er ausgesehen haben, noch echter als beim Schweißtuch der Veronika oder beim Gesichtsabdruck nach der Abgar-Legende. Das ist er, schaut ihn euch an, so sieht er aus. Mit dem Turiner Grabtuch wird Karfreitag richtig plastisch. Wie gut, dass Gunter von Hagen damals noch nicht gelebt hat.

Umberto Eco hat eine Analogie zwischen dem Mittelalter und unserer heutigen Zeit darin gesehen, dass „in beiden Epochen ... die Bildungselite anhand der geschriebenen Texte mit buchgläubiger Mentalität ‚räsoniert’, aber dann ... die essentiellen Daten des Wissens und die Grundstrukturen der herrschenden Ideologie in Bilder ‚übersetzt’“.[2] Wenn das zutrifft, was besagt das Auftauchen des Turiner Grabtuchs in der visuellen Kommunikation des deutschen Protestantismus? Was sagt es, dass wir nicht mehr wie bei Luther und Cranach auf imaginierte und durch die Predigt vor Augen gerufene Christusbilder setzen, sondern auf wunderbare Grabtücher? Dass auch im Protestantismus der Mummenschanz zurückgekehrt ist?

Cranach, Predella (Luther predigt)

Nun ist www.evangelisch.de keiner substantiellen theologischen Reflexion verdächtig, aber dennoch fragt man sich, was die Redakteure annehmen ließ, am Karfreitag das Turiner Grabtuch als Eye-Catcher präsentieren zu können. Sie schreiben ja nicht „Dieses Tuch wird (absurderweise) von manchen für eine Abbildung Jesu gehalten“ oder „So stellte sich die mittelalterliche Phantasie Jesus vor“ – nein, sie sagen simpel: das ist das Antlitz Jesu. Kann man einen seriösen (protestantischen) Forscher nennen, der diese Meinung teilt? Kann überhaupt jemand mit Vernunft und Bildung diesen Satz sagen? Da wird man doch mal fragen dürfen, wie sich das zu den grundlegenden christlichen Bekenntnissen verhält – etwa zur Chalcedonense:

„Wir folgen also den heiligen Vätern und lehren alle übereinstimmend: Unser Herr Jesus Christus ist als ein und derselben Sohn zu bekennen, vollkommen derselbe in der Gottheit vollkommen derselbe in der Menschheit, wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch derselbe, aus Vernunftseele und Leib, wesensgleich dem Vater der Gottheit nach, wesensgleich uns derselbe der Menschheit nach, in allem uns gleich außer der Sünde, vor Weltzeiten aus dem Vater geboren der Gottheit nach, in den letzten Tagen derselbe für uns und um unseres Heiles willen [geboren] aus Maria, der jungfräulichen Gottesgebärerin, der Menschheit nach, ein und derselbe Christus, Sohn, Herr, Einziggeborener in zwei Naturen unvermischt, unverändert, ungeteilt und ungetrennt zu erkennen, in keiner Weise unter Aufhebung des Unterschieds der Naturen aufgrund der Einigung, sondern vielmehr unter Wahrung der Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen und im Zusammenkommen zu einer Person und einer Hypostase, nicht durch Teilung oder Trennung in zwei Personen, sondern ein und derselbe einziggeborene Sohn, Gott, Logos, Herr, Jesus Christus, wie die Propheten von Anfang an lehrten und er selbst, Jesus Christus, uns gelehrt hat, und wie es uns im Symbol der Väter überliefert ist.“[2]

Einziggeborener in zwei Naturen unvermischt, unverändert, ungeteilt und ungetrennt zu erkennen – jeder Theologe hat das einmal im Rahmen seiner Examensvorbereitung gelernt, aber hat dieses Bekenntnis noch irgendeine Bedeutung für uns? Was sähen wir also, wenn das Turiner Grabtuch wirklich das originale Grabtuch wäre? Gott? Jesus? Gott und Jesus? Und wenn es so wäre, wäre es dann ein anbetungswürdiger Gegenstand?

Nun ist das verwendete Bild das eine, der begleitende Sermon das andere. Ralf Peter Reimann steigt persönlich ein, mit biographischen Hinweisen, um dann zu grundsätzlichen Überlegungen zu kommen: „Das Kreuz - versinnbildlicht durch das Kreuzigungsgeschehen am Karfreitag - steht im Zentrum lutherischer Theologie. Entscheidend ist, dass Jesus für mich gestorben ist. Im Glaubensleben wird deshalb großer Wert auf das Nachvollziehen der Kreuzigung Jesu am Karfreitag gelegt. Deutlich wird diese Ausrichtung auch dadurch, dass in lutherischen Kirchen meist der Körper Jesu am Kreuz dargestellt ist.“

Das ist schon ganz interessant. Zunächst: Inwiefern „versinnbildlicht“ das Kreuzigungsgeschehen das Kreuz? Ich dachte immer, es wäre exakt umgekehrt, dass das Zeichen oder meinetwegen auch das Symbol des Kreuzes uns das Kreuzigungsgeschehen vor Augen ruft und damit versinnbildlicht? So wie Reimann es beschreibt, ist das Kreuzigungsgeschehen bloß ein sinnliches Gleichnis für das Abstraktum des Kreuzes. Das ist nun wirklich Unsinn, so viel Symboldidaktik sollte schon sein. Und ob das Kreuz wirklich das zentrale Symbol des Luthertums ist, da würde ich dann doch erhebliche Zweifel anmelden. Gerade wenn man die lutherische Theologie ernst nimmt, dann müsste wohl das vom Herrn eingesetzte Abendmahl das zentrale Symbol sein. Und selbst wenn man konzediert, dass das Geschehen von Karfreitag im Zentrum der lutherischen Theologie steht, besagt dass überhaupt nichts über den Gebrauch von Kruzifixen. Sonst müssten wir für die Urgemeinde und die frühe Christenheit eine Zeit der Zentrumslosigkeit konstatieren, denn nach allem, was wir wissen, ist das Kreuz im Sinne der vollfiguralen Darstellung keine frühchristliche Erscheinung. Vollfigural dürfte es erst sehr späten Datums sein, vielleicht sogar erst ins letzte Jahrhundert des ersten Jahrtausends datieren.

Aufklärung erhalten wir von Reimann scheinbar auch darüber, warum in manchen unierten Gemeinden kein Korpus am Kreuz hängt: „Ich selbst bin in einer Gegend groß geworden, in der die evangelisch-reformierte Tradition vorherrscht. Erst nach langer Diskussion wurde in der evangelischen Hauptkirche ein Kreuz angebracht – allerdings ohne Corpus. Das Kreuz ohne den Körper Jesu macht deutlich: Jesus lebt. Nicht sein Sterben am Kreuz ist entscheidend, sondern dass er nicht im Tode geblieben ist. Am Kreuz hängt der Heiland nicht mehr, er sitzt nun zur Rechten Gottes, des Vaters – so wird dies in der Sprache des Glaubensbekenntnisses ausgedrückt. Beim sonntäglichen Kirchgang sieht die Gemeinde nicht den Gekreuzigten, sondern ihr wird der Auferstandene vor Augen geführt - durch ein schlichtes Kreuz ohne Körper.“

Das ist wirklich eine nette Anekdote, hat aber überhaupt nichts mit der Entwicklung der christlichen Kreuzesdarstellung und schon gar nichts mit evangelisch-reformierter Lehre zu tun. Dass Christus nicht mehr am Kreuz hängt berichten schließlich auch die Evangelien, insofern könnte das leere Kreuz auch gerade auf den Tod Christi verweisen, der vom Kreuz abgenommen und beerdigt wurde. Wenn das Kreuz etwas anderes sagen soll, dann geht es also immer um eine symbolische respektive zeichenhafte Darstellung. Ein leeres Kreuz als solches besagt überhaupt nicht, dass Jesus lebt. Dafür wäre es doch besser, das Christentum hätte an diese Stelle Auferstehungsbilder gesetzt und das Bild der Auferstehung zum zentralen gemacht. Ein Teil der christlichen Tradition ist diesen Weg ja auch gegangen und in vielen lutherischen Kirchen finden wir als Altarbild eine Auferstehungsdarstellung.

Wenn trotzdem Karfreitag im protestantischen Leben eine solch herausragende Rolle spielt, dann geht es eben nicht um die symbolische Repräsentation des Geschehens in Form des Kruzifixes oder des Kreuzes, sondern um das Geschehen selbst. Tatsächlich glauben aber manche in der evangelischen Kirche in einer Art mittelalterlicher Dingmagie, wenn man das Zeichen des Kreuzes in Frage stelle, würde man auch das Geschehen selbst berühren. Das ist aber magisches Denken.

Aber kehren wir zurück zur Frage der Art der symbolischen Repräsentation und der Darstellung des lebendigen Christus nach dem Kreuzestod. Kreuze ohne Korpus gibt es länger als solche mit Korpus und über 1300 Jahre früher als die gesamte reformierte Tradition. Und seitdem es überhaupt Kreuzesdarstellungen gibt, wird das Problem des den Tod überwindenden Christus völlig anders gelöst und ist zu einer nun 1500 Jahre bewährten Darstellungsform geworden, die jeder kennen sollte, der sich mit dem Kreuz und der christlichen Darstellung des Kreuzigungsgeschehens beschäftigt.

Denn wenn in der Kunst gezeigt werden sollte, dass Christus den Tod überwunden hat, hat man ihn simpel mit offenen Augen am Kreuz dargestellt – obwohl der Hauptmann Longinus auf den Abbildungen neben ihm stand und sein Werk der Überprüfung des Todes Christi bereits vollzogen hatte. Dass der gestorbene Christus lebt, ist nicht eine Frage des Korpus am Kreuz, sondern eine der Darstellung des so genannten „Christus triumphans“.

Kreuzigung, Elfenbeintafel, um 430

Die älteste Kreuzigungsdarstellung, über die wir gesichert verfügen, macht uns das drastisch deutlich. Wir sehen auf diesem kleinen Elfenbeintäfelchen aus der Zeit um 430 nach Christus zwei voneinander unabhängige Szenen: links den Tod des Judas und rechts die Kreuzigung Christi. Links unterhalb des Kreuzes stehen Maria und Johannes, rechts sehen wir Longinus, der gerade mit seiner Lanze zusticht. Christus aber wird mit offenen Augen gezeigt. Er ist gestorben und doch nicht tot, weil er den Tod überwindet.

Wenn nun Reformierte derartige figurale Darstellungen Christi ablehnen, dann schlicht deshalb, weil es biblisch geboten ist, dass wir uns keine Gottesbilder, dass wir von Gott keine Bilder machen sollen. Die reformierte Tradition hält sich hier mit dem Judentum an die Zehn Gebote und achtet das Bilderverbot, während Katholizismus und Luthertum das zweite Gebot aus den Geboten eliminiert haben. So einfach ist das. Die reformierte Tradition hält deshalb daran fest: "Die entscheidende Aufgabe der Predigt im Gottesdienst lässt die Anwesenheit von figürlichen Darstellungen Jesu Christi im Versammlungsraum der Gemeinde als nicht wünschenswert erscheinen" (Karl Barth, KD IV.3). Karl Barth verweist an dieser Stelle präzise darauf, dass, wie immer man Christus darstellt, man die Vereinbarungen der frühen kirchlichen Synoden unterläuft: entweder betont man seine Göttlichkeit zu Lasten seiner Menschlichkeit, oder aber – und das ist heute sehr viel wahrscheinlicher – seine Menschlichkeit zu Lasten der Göttlichkeit. Es gibt keine gute Lösung in dieser Frage.

Selbstverständlich können Künstler Jesus darstellen – um auch dieses Missverständnis im Blick auf die reformierte Haltung klarzustellen –, nur hat das in religiöser Hinsicht überhaupt keine Bedeutung und ist, sofern man es als religiösen (und nicht ästhetischen) Akt versteht, kontraproduktiv. Das Christusbild wird fixiert und entdynamisiert, es wird vom lebendigen Geschehen zu einem Kultbild degradiert.

van Eyck, Christus-Porträt, 1440, 33x28 cmWir brauchen diese Visualisierungen nicht. Dass Christus auferstanden ist, wird mit keinem Kreuz und keinem Kruzifix und natürlich auch mit keinem Grabtuch wahrscheinlicher. Und um uns des Glaubens an die Auferstehung zu versichern, brauchen wir kein Kreuz und kein Kruzifix. Es wäre besser, die TheologInnen von evangelisch.de würden sich mit dem Zeugnis der Heiligen Schrift beschäftigen, als uns mit Schmonzetten wie dem Turiner Grabtuch zu behelligen. Aber es ist nicht unplausibel, angesichts der auf evangelisch.de gepflegten neo-protestantischen Ikonographie davon auszugehen, dass ebenso wie alle Vertreter des Protestantismus in Frontalansichten und nicht in Funktionskontexten (und damit in Relationen) gezeigt werden, nun auch Jesus Christus dieser Form der visuellen Kommunikation angepasst wird. Was aber 1440 bei van Eyck noch ging und 1500 von Albrecht Dürer in das bürgerliche Selbstverständnis transformiert wurde, geht heute nicht mehr. Es ist im wahrsten Sinn des Wortes unglaubwürdig. "Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen: es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr".[3]

Anmerkungen

[1]    Umberto Eco, "Auf dem Wege zu einem Neuen Mittelalter" in: ders., Über Gott und die Welt, München: Hanser, 198., S. 7-33, hier S. 29

[2]    Horos (Glaubensentscheidung) des Konzils von Chalcedon; zitiert nach Josef Wohlmuth (Hrsg.): Concilium oecumenicorum decreta. Band 1. 3. Aufl. Ferdinand Schöningh, Paderborn 1998, S. 86

[3]   Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. 2 Bände. Berlin 4/1985. Band 1, S. 110

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/65/am315.htm
© Andreas Mertin, 2010