Die Frau am Fenster

Zur Ikonographie des Religiösen IV

Andreas Mertin

Welches Bild würde man wählen/anfertigen, um eine junge evangelische Vikarin des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, die unmittelbar vor ihrer ersten Weihnachtspredigt steht, visuell zu repräsentieren?

Die Bildersuche bei Google zum Stichwort „Vikarin Predigt“ bietet einem eine Reihe ganz unterschiedlicher, aber zum Teil durchaus plausibler Bilder an. Da sieht man eine Vikarin auf der Kanzel vor der Gemeinde stehen oder manchmal auch nur die Kanzel im Blow Up.

Für die Weihnachtszeit 2009 hat sich die ZEIT anders entschieden (und damit auch die Bildersuche bei Google beeinflusst): sie zeigt uns ein Bild, das entweder der Romantik eines Caspar David Friedrich (Die Frau vor dem Fenster) oder dem Filmschaffen eines Ingmar Bergmann (Licht im Winter) entsprungen sein könnte, auf jeden Fall aber kaum für die Gegenwart repräsentativ sein dürfte.

Im Zentrum des Bildes sehen wir eine Frau mit hochgesteckter Frisur im Talar, die gegen ein überbelichtetes Fenster abgesetzt ist. Sie sitzt auf einem Stuhl und an einem Tisch, der den seriellen Tischen in etwas älteren Seminarzentren oder Universitätsräumen ähnlich sieht. Der wahrnehmbare Raum um die Frau herum ist asketisch reduziert, die Übergardinen vor dem Fenster vermutlich eher aus den 50er Jahren. Auf dem kärglichen Tisch liegt eine geschlossene Bibel und zwar eine von der Art, wie sie zu Konfirmationen verschenkt werden: möglichst dick und mit Goldrand. Dahinter auf dem Tisch kein Kreuz, sondern ein einfaches Kruzifix. Es ist eine durch und durch unwirkliche Szene.

Überraschender Weise hat das Foto ein Breitwandformat – das ist eher ungewöhnlich. Wäre es auf das zentrale Motiv – die Vikarin vor dem Fenster - fokussiert, hätte es eine andere Bildwirkung. Zwar bliebe der Überbelichtungseffekt vom Gegenlicht durch das Fenster erhalten, aber die Haltung und Wahrnehmung der Frau geriete anders. Zur Bildunterschrift passte das nebenstehende Bild aber besser, denn diese lautet: „Gegen die Nervosität davor: Die junge Vikarin sammelt sich.“ Und das wäre mit diesem Bildausschnitt auch assoziativ verknüpfbar, wenngleich die Bildkonstruktion etwas bizarr bliebe.

Dagegen wäre ein Untertitel wie „Vikarin mit Lampenfieber“, die der neuen homiletischen Konstruktion des Gottesdienstes als theatraler Inszenierung ja auch entspräche, angesichts dieses Bildausschnittes unpassend.

Für die ursprüngliche von der ZEIT verwendete Bildversion böte sich dagegen an: Einsam und verlassen: Vikarin in der Sakristei. Genau das ist der visuelle Impuls, vielleicht sogar noch eher in die Richtung: Einsam und verlassen: Vikarin in der Zelle. Denn zellenartig und asketisch herb mutet das Ganze schon an. Auf jeden Fall geht es um Introspektion, im Innerlichkeit und Abgrenzung von der Außenwelt.

Was aber wird gespiegelt, wenn wir in der Bildersuche bei Google nach einer Frau am Fenster suchen? Zahlreiche Treffer verweisen uns auf das bereits erwähnte berühmte kunsthistorische Beispiel von Caspar David Friedrich. Ein Treffer kann Salvador Dali und seiner Adaption des Bildes von Caspar David Friedrich zugeordnet werden. Und nicht wenige Bilder sind direkte erotische Adaptionen des Themas, wobei diese in der Regel Frauen mit offenen Haaren zeigen.

Am nächsten kommen der Darstellung vielleicht noch Genrebilder der beiden dänischen Künstler Karl Harald Alfred Broge (1870-1955) und Carl Vilhelm Holsoe (1863-1935) nur dass bei ihnen die Möbel und die Rauminszenierung noch zeitgenössisch waren, während sie auf dem Foto der ZEIT alt und verstaubt und damit überholt wirken.

Die Differenz zwischen diesem Bild von Carl Vilhelm Holsoe (und einer Fülle weiterer aus seinem Haus) und dem Foto aus der ZEIT ist natürlich, dass letzteres eine berufstätige Frau des beginnenden dritten Jahrtausends zeigen soll. Aber spürt man dies dem Bild an? An welchen Indizien wird der kulturelle Bruch zwischen einem Bild vom Anfang des 20. Jahrhunderts und einem vom Anfang des 21. Jahrhunderts wahrnehmbar? Wie nah und wie fern sind sich die Frauendarstellungen? Ich fürchte, sie sind sich viel zu nah – und das mit Absicht.

Schauen wir uns aber im nächsten Schritt zunächst einmal das berühmte kunsthistorische Beispiel an, das sofort und mehrfach auftaucht, wenn man „Frau am Fenster“ in die Bildersuche eingibt, und fokussieren wir es auf das zentrale Motiv der Frau in der Rückenansicht. Caspar David Friedrich hat das Bild 1822, vier Jahre nach seiner Hochzeit gemalt und es zeigt seine Frau Caroline am Fenster des Ateliers mit dem Rücken zum Betrachter. Mit dem Fensterausblick, so schreibt die Nationalgalerie in Berlin, die im Besitz dieses Bildes ist, „griff Friedrich ein zutiefst romantisches Motiv auf, das innen und außen, Nähe und Ferne verknüpft und Sehnsucht nach Unbegrenztheit offenbart.“

Detlef Kremer hat über das Motiv des Fensters in der Romantik geschrieben und dabei festgestellt: „Neben der Strukturierung des Raumes, einer Trennung von innen und außen, ist vor allem die selbstreflexive Thematisierung des Rahmens im Bild wichtig. Das Fenster als Binnenrahmen reflektiert die Künstlichkeit und Konstruiertheit des Bildausschnitts im Bild selber … Mindestens ebenso stark wie die Position und Perspektive des Beobachters konfigurieren die Fensterdarstellungen die Rolle des Einsamen. Der einsame Beobachter am Fenster tritt weniger mit der Außenwelt in Kommunikation,  als er seiner selbst in einem melancholischen Trauerflor gewahr wird. Er nimmt sich selbst als einzelnen wahr, der von jedem Außen getrennt ist. Das Fenster als Medium des Austauschs von innen und außen verwandelt sich zur unüberwindlichen Grenze, die den Beobachter nachhaltig auf sich selbst zurückverweist. Das Fenster markiert den Ort der Distanz.“ (Detlef Kremer, Fenster; in: Jaeger/Willer (Hg.), Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800, Würzburg 200, S. 213-228)

Das Fenster ist das eine, der Dutt das Andere. Der Dutt war und ist ein kultureller Code, der nicht zuletzt auch etwas mit der Rolle der Frau in der abendländischen Gesellschaft zu tun hatte: „Die ersten Abbildungen eines Dutts sind aus der Zeit der Römischen Republik um die Zeitenwende erhalten. Die angesehenen Frauen trugen das Haar dabei nach vorne auf dem Scheitel als Dutt. Aufgeputzte und mit diversen Objekten verzierte Haare wurden lediglich von Prostituierten getragen. Überhaupt richtete sich auch später in der Kaiserzeit die Haarmode immer nach der Frisur der Kaiserin, so dass jede Mode, Dutt, offen oder Zopf zum Tragen kam. Im Mittelalter gar war das Offentragen der Haare nur unverheirateten Frauen gestattet. Die Bürgerinnen waren also gezwungen, ihr Haupthaar zu einem Dutt zu formen und selbst dieser musste meist noch unter einer Haube (siehe auch: unter die Haube bringen) verborgen werden … Häufig wird der Dutt mit Begriffen wie altmodisch und unattraktiv verbunden. In vielen Filmen und Bilderbüchern wird etwa die Großmutter mit einem Dutt dargestellt.“ [Wikipedia]

Zwar war der Dutt auch im Jahr 2009 wieder einmal in Mode, allerdings wird das durch die Bildinszenierung des Fotos in der ZEIT konterkariert. Nein, hier geht es nicht um eine junge Pfarrerin in modischer Gestalt, hier wabert ein konservativer Romantizismus durchs Bild, der zugleich als solcher, als überholter kenntlich gemacht wird. Sicher gibt es die auf dem Bild dargestellte Situation, sie ist aber ganz und gar nicht typisch. Sie ist ein Zerrbild der Wirklichkeit. Vielleicht steckt dahinter aber auch ein Traum, der von der Rückkehr der alten Zeiten, als die Bibel noch nicht gerecht und die Theologie noch nicht feministisch war.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/64/am314.htm
© Andreas Mertin, 2010