Verstehst Du auch, was Du siehst?

Ein Gedankenspiel

Andreas Mertin

Es war ein wissenschaftlicher Workshop zur Beziehung von Kunst und Religion in Bildungsprozessen im schönen Engelberg in der Schweiz auf dem die Frage auftauchte.

Silvia Henke fragte in ihrem Vortrag unter dem Titel “Noli me tangere / hoc est corpus meum. Überlegungen zur paradoxalen Struktur von religiösen Gleichnissen im Unterricht” provokativ, ob man bei einem neuzeitlichen Bild etwa von Leonardo da Vinci oder Tizian glauben müsse, um es wirklich zu verstehen.

Erst verschlug es mir ob dieser Fragestellung die Sprache, ich hatte nicht gedacht, dass man überhaupt noch diese Frage stelle konnte, aber dann hat mich die Frage nicht mehr losgelassen. Umformuliert heißt die Frage ja: Was ist eigentlich der unhintergehbare Horizont, über den derjenige verfügen muss, der ein Kunstwerk hermeneutisch fruchtbar machen will?

Reicht es aus, einfach auf den Bildinhalt und seine künstlerische Durcharbeitung zu schauen ohne den literarischen / religiösen Subtext angemessen mit einzubeziehen? Und was hieße im konkreten Fall „mit einbeziehen“? Und was hieße „angemessen“?

Im ersten Schreck versuchte ich, für mich eine Umformulierung der Fragestellung vorzunehmen: Muss man sich (spielerisch, probehandelnd, performativ) auf den Standpunkt des Glaubenden stellen, dessen Haltung zumindest simulieren (aber welche wäre das?), um dem Gehalt des Bildes auf die Spur zu kommen, um auch nur ansatzweise nachvollziehen zu können, was die visuelle Kommunikation des „Hoc est corpus meum” oder des “Noli me tangere” bedeutet? Aber das war nur eine subjektive Ausflucht. Vielleicht geht es so: Muss man an etwas (im Bild) glauben, um es zu verstehen? Und was versteht man, wenn man ein Bild derartig glaubend bzw. „für wahr haltend“ erfährt – das Bild, seinen (religiösen) Subtext, die Dialektik zwischen beiden?

Wie viel Teilhabe ist notwendig, um an einer religiös-visuellen Kommun(ikat)ion teilnehmen zu können? Die Kunstgeschichte buchstabiert dies seit Jahrhunderten am Beispiel des Heiligen Lukas, jenem Apostel, dem die Tradition zuschreibt, er sei Maler und Evangelist zugleich gewesen.

In der Tendenz der Kunstgeschichte trat dabei das Sujet und der Glaube immer mehr in den Hintergrund und der Maler immer mehr in den Vordergrund – wie sich unschwer an Guercinos Darstellung von 1652 ablesen lässt, bei der der Maler geradezu die Inversion der Madonna darstellt und zugleich das Zentrum des Bildes besetzt.

Aber schon Mabuses oben abgebildete Darstellung von 1520 zeigt an einem kleinen Detail, dass die Umwertung der Werte im Verhältnis von Kunst und Religion weit vorangeschritten war. So wie Mose als Kommunikator der primären Erfahrung Gottes am brennenden Dornbusch seine Schuhe ausgezogen hatte, so tut dies auch der Maler Lukas offenkundig mit dem gleichen weit reichenden Anspruch gegenüber der christlichen Überlieferung. Nicht die Kunst bedarf der Religion, sondern die Religion der Kunst.

Und dennoch ist die Frage nach dem Glauben in der Hermeneutik des Bildes ja nicht falsch. Mir fiel ein, dass ich selbst einmal Ähnliches von Kunsthistorikern gefordert hatte. Als das Berner Kunstmuseum die Ausstellung “Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille?” veranstaltete und in diesem Zusammenhang eine Marienstatue ausstellte, der früher einmal im außermusealen Kontext magische Kräfte zugeschrieben worden war, protestierte ich gegen die museale Zurschaustellung, weil sie das Artefakt seiner zentralen religiösen Funktion beraubte. Hatte ich da nicht auch gefordert, dass man glauben muss, um das Objekt wirklich verstehen zu können?

Noch einmal gewendet: welche Investitionen muss der Betrachter machen, um ein Kunstwerk in welcher Perspektive zu verstehen? Offenkundig ist diese doppelte Frage nicht einfach zu beantworten. Und offenkundig haben die Künstler selbst sie im Laufe der Jahrhunderte ganz unterschiedlich beantwortet und dies auch so ins Bild gesetzt. Wenn wir das Beispiel von Zurbarán nehmen, dann gilt – abgesehen von seinen Stilleben –, dass seine Kunst, “ganz im Dienste der von Spanien aus forcierten Gegenreformation” steht. “Der äußeren Statik der Figuren entspricht eine konzentrierte, tief erfaßte innere Geistigkeit.” (Lexikon der Kunst) Wie sieht und versteht man aber eine tief erfasste innere Geistigkeit?

Kindlers Malereilexikon geht in der deutenden Beschreibung noch viel weiter. Es notiert:

“Fast möchte man sagen, daß seine Bilder nicht vom Maler geschaffen, sondern durch ein Wunder entstanden seien ... Der Eintritt in sein OEuvre bedeutet den Eintritt in eine schweigsame, mystische Welt; seine Mystik enträt der großen Zeichen, der himmlischen Sphärengesänge, der Formen gewissermaßen aus zuckenden Flammen – Zurbaráns Mystik ist rein geistig, kontemplativ und lauter.”

Wenn also nicht Zeichen und Formen die Kunst bestimmen, unter welchen Voraussetzungen können wir sie dann verstehen? Und was war die Voraussetzung, um diese Bilder zu schaffen?

Hier gerät man in schwierige Fragestellungen. Wir wissen aus der Moderne, dass weder zum Schaffen noch zum Verstehen von Bildern mit religiöser Ikonographie Glauben notwendig ist. Pablo Picasso oder Max Ernst sind gute Beispiele dafür. Aber was ist mit Bildern, die mehr sein wollen als Kunst? Die nach dem Durchgang durch die Moderne das Verhältnis von Kunst und Religion noch einmal anders bestimmen wollen?

Nun, ich glaube, es gibt keinen anderen Weg, es gibt keine Lösung jenseits der Erkenntnis Hegels: "Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen: es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr".

Um die Kunst der Geschichte zu verstehen, bleibt uns nur die Imagination, die uns befähigt, die religiöse wie ästhetische Herausforderung zu rekonstruieren, vor der der Maler stand. Über den Glauben der damaligen Zeit können wir nicht verfügen, nicht zuletzt, weil er heute nicht mehr gültig, nicht mehr wahr ist.

Zurbaran, Lukas

Mabuse, Lukas, 1520

Guercino, Lukas

Schutzmantelmadonne

Zurbaran, Lukas (Montage)

Zurbaran, Schweißtuch

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/64/am313.htm
© Andreas Mertin, 2010