Blindness and Insight

Oder: Über die Kultur der Sünde

Andreas Mertin

Das Christentum ist eine merkwürdige Religion.

Der Erzählung nach begründet von einem Totschläger, wenn nicht sogar Mörder (2. Mose 2, 11-15), vorangebracht von einem Herrscher, der erst mal den Mann, dessen Ehefrau er geschwängert hatte, und der ihm im Wege war, liquidieren ließ, um dann die Frau zu heiraten (2. Samuel 11), begleitet von Propheten wie dem, dessen Esel eingestandenermaßen religiös wahrnehmungsfähiger war als er (4. Mose 22), repräsentiert von einer Figur, der nichts besseres einfiel, als bei der ersten besten Gelegenheit den Messias zu verraten (Johannes 18, 25), theologisch reflektiert und verbreitet von einem, der zuvor für die Verfolgung und Verhaftung zahlreicher Christen gesorgt hatte (Apg. 7, 58ff.).

Die zentralen Figuren des Christentums wurden angeklagt wegen Blasphemie (Markus 15,63f.), wegen staatlicher Insubordination, wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt. Sie wurden etikettiert als Fresser und Weinsäufer (Lukas 7, 34), als Narren (meschugge, 2. Könige 9) und Berauschte bzw. Ekstatiker (1. Samuel 19,18ff).

Und keiner von ihnen trat zurück, ganz im Gegenteil, gerade ihre Verfehlungen und Besonderheiten bilden einen wichtigen Kern der narrativen Überlieferung, nicht zuletzt deshalb, damit wir Gott allein und nur ihm und nicht bestimmten Menschen die Ehre zukommen lassen (Soli deo gloria!). Was nennst du mich gut?

Dagegen ist eine Autofahrt unter Alkoholeinfluss das Harmloseste, was man sich nur denken kann, ganz sicher aber ein juristisch streng zu ahndender Tatbestand der Staatsbürgerin M.K.

Was aber hat sich im Protestantismus in den letzten Jahren geändert, dass wir uns zwar weiter auf Moses, auf David und Salomo, auf Petrus und Paulus, auf Jesus und Johannes berufen, eine Bischöfin aber zurücktritt, weil sie von der Ordnungsmacht der Obrigkeit bei einer Gesetzesübertretung erwischt wurde? Welcher Pseudo-Nathan war ihr Ratgeber?

Musste sich Moses nicht immer wieder vorhalten lassen, dass er doch bloß ein Totschläger sei, moralisch als Leiter des jüdischen Volkes also nicht in Frage käme? Legen die biblischen Bücher nicht außerordentlichen Wert darauf, immer wieder festzuhalten, welche Sünder und Gesetzesbrecher ihre obersten Repräsentanten waren?

Und das natürlich nicht, um den Gesetzesbruch zu legitimieren, sondern um zu zeigen, dass gerade wegen der Sündhaftigkeit der religiösen und politischen Repräsentanten Gott allein die zentrale Autorität (oder um mit Robert Leicht zu sprechen: die Hohe Warte) zukommt.

Es gehört zum Einsatz des Protestantismus in dieser Welt, sich noch einmal dezidiert von der falschen Vorbildlichkeit des religiösen Führungspersonals verabschiedet zu haben. Es ist besser, ein Sünder predigt das Evangelium als ein Heiliger. Beim Sünder rechnet man es Gott an, beim Heiligen dem Heiligen – hat Martin Luther meiner dunklen Erinnerung nach einmal geschrieben.

Nein, das Leitungspersonal der evangelischen Kirche muss nicht moralisch besser sein als der Rest der Bevölkerung – aber selbstverständlich auch nicht absichtlich schlechter. Die, die wir zu diesem Dienst berufen, sind Menschen und keine Heilige und sie bilden keinen besseren Stand als wir. Deshalb können wir Geschiedene ebenso berufen wie andere, deshalb ist kein Sünder von kirchlichen Diensten ausgeschlossen, denn wir sind alle Sünder.

Margot Käßmann hätte zeigen können, was evangelische Rechtfertigungslehre bedeutet, wenn sie ihren Dienst weiter geleistet hätte. Ich respektiere, dass sie zurückgetreten ist, das ist ihre ganz persönliche Entscheidung, aber sie soll bitte nicht so tun, als ergäbe sich das aus dem evangelischen Dienstverständnis.

Und wenn sie schon zurücktritt, soll sie bitte auch nicht sagen, dass sie fällt (wenn auch nur in Gottes Hände), denn das setzt voraus, dass sie vorher auf erhöhter Position war. In meinen Augen war sie das nie. Besser wäre es gewesen, sie hätte gesagt, dass sie immer von Gottes Hand gehalten wird. Arno Pötzschs Liedtext aus dem Jahr 1941 scheint mir denkbar ungeeignet, um sich selber Trost zuzusprechen, weil man alkoholisiert Auto gefahren ist. Dafür sind die „Notlieder der Kirche“ sicher nicht gedacht.

All die medienorientierten Auftritte von Margot Käßmann in den Jahren zuvor empfand ich schon damals als unangemessen und peinlich. Als sie dem reformierten Theologen Karl Barth den angeblichen Fehler vorhielt, in einer Kirche Zigarre geraucht zu haben, hat sie Kriterien von Gut und Böse in der Kirche etabliert, die absurd waren. Als sie der Sängerin Madonna vorwarf, eine symbolische Zeichenhandlung im Sinne einer Christusidentifikation käme ihr als alternder Diva nicht zu, wusste sie nicht einmal, worüber sie urteilte (eine Performance im Rahmen eines Spendenaufrufs zugunsten aidskranker Kinder in Afrika). Jedes Mal ging es um Moralismus, um nicht zu sagen: um affektgeladene Vorurteile.

Die beiden einzigen Male, bei denen ich wirklich stolz darauf war, dass Margot Käßmann Ratsvorsitzende der EKD war, waren nun gerade keine medial-inszenierten Coups, sondern aus ihrer Sicht wahrscheinlich eher Betriebsunfälle oder Zufälle. Da war zum einen die Auseinandersetzung mit der Orthodoxie und zum anderen die Stellungnahme zum Afghanistankrieg. Jedes Mal ging es um protestantische Selbstverständlichkeiten (dass eine geschiedene Frau Bischöfin werden und die Protestanten in Deutschland vertreten kann und dass man verkünden kann, dass am Krieg in Afghanistan nichts gut ist).

Hier zeigte sich, welch explosive Reibungsfläche der Protestantismus in dieser Welt für die Politik und für andere Konfessionen sein kann. Und das bloß, weil es ihn in dieser Form gibt und weil er diese Aussagen macht und diese Haltung vertritt. Margot Käßmanns Reaktion auf die Infragestellung durch die orthodoxe Kirche Russlands war souverän und auch theologisch klar – egal was ungefragte Possenreißer wie Pastor Ulrich Rüß, der Vorsitzende der Konferenz Bekennender Gemeinschaften in den evangelischen Kirchen dazu immer auch sagen mögen. Und die Aussage zum Afghanistankrieg hat immerhin eine breite Debatte über diesen höchst komplexen Fall in Gang gesetzt. So wünscht man sich den Protestantismus.

Aus all den medialen Unsäglichkeiten und Dummheiten, die die Feuilletons zu diesem Vorgang verbreitet haben und die wahrlich kein Ruhmesblatt in der Geschichte des deutschen Feuilletons darstellen, ragen zwei besonnene Stellungnahmen heraus: Friedrich Wilhelm Grafs Text in der NZZ und Heike Schmolls Kommentar in der FAZ. Sie ragen deshalb heraus, weil sie unbestechlich und klar im Urteil sind.

Friedrich Wilhelm Graf, wie immer ein Meister der protestantischen Distinktionen, verwies auf die grundlegenden Unterschiede zwischen katholischem und evangelischem Amtsverständnis, die hier in Anschlag zu bringen seien: „Die Pfarrer repräsentieren also keinen eigenen geistlichen Stand mit irgendwelchen religiösen Vorrechten, höheren Weihen und besonderen Gnadengaben, sondern sind als Beauftragte der Gemeinde nichts anderes als Diener am Wort, von den Gemeinden ordnungsgemäss berufen zu Verkündigung und Sakramentsverwaltung.“ Margot Käßmann dagegen sei von diesem Prinzip abgewichen, so dass Graf in ihr eine Erbin des deutschen Moralprotestantismus sah: „Bisweilen gewannen Margot Kässmanns Auftritte Züge der Vermarktung einer protestantischen Ich-AG. Dass das Amt noch mehr und anderes als die Person ist, liess sich dann nicht mehr wahrnehmen. So schlug der Wille, sich der medial verfassten Welt gleichzumachen, in die Selbstfeier charismatischer Subjektivität um … Nicht ohne Narzissmus hat Margot Kässmann das Missverständnis gefördert, dass der Pfarrer – doch – ein irgendwie besserer Mensch und Christ sei. Aber er oder sie ist es nicht, trotz allen gegenteiligen Erwartungen der Leute. Auch im Blick auf Moral-Ikonen gilt eben das Bilderverbot: Du sollst dir kein Vorbild machen.“ Präziser kann man die Problematik für den Protestantismus kaum auf den Punkt bringen.

Heike Schmoll hat in der F.A.Z. am 25. Februar eine ähnliche Diagnose gestellt: „Frau Käßmann ist zum Verhängnis geworden, dass sie ihr Privatleben und ihre Person von Anfang an in die Medienöffentlichkeit gezogen hat und die vollständige Identifikation mit ihrem Amt selbst betrieben hat. Dabei ist ein Bischof in der evangelischen Kirche ohnehin nichts anderes als ein Primus inter Pares, also ein Pfarrer mit Leitungsaufgaben. Wo andere von der Kirche gesprochen hätten, hat Frau Käßmann „ich“ gesagt. Sie hat versucht, über ihre Menschlichkeit und die Brüche in ihrem Leben ihre persönliche Überzeugungskraft zu stärken, sie hat von der gezielten Instrumentalisierung der medialen Öffentlichkeit profitiert, sich in die Sphäre von Politikern und Schauspielern begeben, und sie ist darüber gefallen.“ So sehe ich das auch. Nicht folgen würde ich allerdings Heike Schmoll in ihrer Meinung, dass die gleiche Kritik nicht auch ihren Amtsvorgänger Huber träfe. Ich sehe eigentlich keine Unterschiede oder sagen wir präziser: nur stilistische Unterschiede zwischen beiden Darstellungen der Figur des Ratsvorsitzenden der EKD.

Höchst ärgerlich waren dagegen die Stellungnahmen der protestantischen Schickeria wie Friedrich Schorlemmer, Antje Vollmer und Robert Leicht. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Liebe Leute, es geht nicht um Taktik und imaginierte Öffentlichkeit, es geht nicht um die Mediengesellschaft und ihre Gesetze, hier ging es simpel um eines: um evangelische Theologie.

Die Schädigung des Protestantismus lag nicht in der Autofahrt unter Alkohol oder der Missachtung einer roten Ampel, sondern in der Begründung des Rücktritts. Damit hat Margot Käßmann ohne Not etwas mittelalterliches katholisches Amtsverständnis in den Protestantismus zurückgebracht. Gradlinig, darin hat Margot Käßmann recht, war ihr Rücktritt. Und konsequent insofern, als sie als diejenige zurückgetreten ist, zur der sie im Verbund mit Bischof Huber das Amt gemacht hat: zu einem moralischen Vorbild.

Und genau das unterscheidet sie trauriger Weise grundlegend von nahezu allen tragenden Erzählfiguren des Christentums und des Judentums.



Boticelli, Mose tötet den Aufseher (Detail),
Sixtinische Kapelle Vatikan, 1481


Franz. rom. Bildhauer, Bileam
Kirche Saint-Andoche, Saulieu, 1150


Cranach, David und Bathseba, 1526,
Staatliche Museen Berlin


Duccio di Buoninsegna, Christus vor Annas und Verleugnung durch Petrus (Detail), 1308-11, Dommuseum Siena

Domenico Beccafumi, Hl. Paulus, 1515,
Museum Siena


Nathan und König David, 15. Jh.

Der fressende Narr,
Holzschnitt, 15. Jh
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Giotto di Bondone, Die Sieben Tugenden:
Standhaftigkeit, 1306, Padua

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/64/am312.htm
© Andreas Mertin, 2010