Ich – Ich - Ich

Verwunderte Bemerkungen zum Verhältnis von Kirche und Kultur

Andreas Mertin

Wer das trunkierte „Kirche und Kultur“ in die Google-Suche eingibt, stößt auf fast 1,7 Millionen Einträge. Nicht schlecht für ein Verhältnis, das es nicht gibt. Und so sind fast alle Fundstellen Selbstbekundungen der Kirche. Die Kirche als „stärkster Kulturträger“ (Bischof Lehmann) oder „Kirche und Kultur als Schwestern, die sich lieben“ (Bischöfin Käßmann). Wenn es um ihre scheinbare Kulturnähe geht, sind Kirchenvertreter nie bescheiden. Wer außer der Kirche sollte auch schon das Recht haben, sich als größter anzunehmender Kulturförderer auf dem Marktplatz der eitlen Eventkultur anzupreisen?

Und diese narzisstische Wahrnehmung trübt natürlich jede einigermaßen realistische Einsicht in das aktuelle Beziehungsgefüge von Kirche einerseits und Kultur außerhalb der Kirche andererseits. Wenn die Kirche aufgefordert wird, Kultur darzustellen, dann denkt sie an Posaunen, Orgelkonzerte und Kindergärten und wenn es theologisch inspirierte Kultur werden soll, macht man die 10 Gebote als Musical. Wenn die evangelische Kirche Kultur hätte, bräuchte sie keine Kulturbeauftragte, denn dann wäre die Kultur für sie so selbstverständlich wie das tägliche Brot. „Close the gap, cross the border“ – jene Anfangsparole der Postmoderne ist für das Verhältnis der Kirche zur Kultur nur ein ferner Traum, vielleicht auch deshalb, weil es für kirchliches Denken nicht zuletzt ein Alptraum wäre. Denn was wäre, wenn die Kirche wirklich einmal zeigen müsste, wie es um ihre Kultur bestellt ist, wenn sie sich in die Konkurrenz der kulturellen Anbieter begeben müsste und der Verweis auf die von der Kirche betriebenen Kindergärten nicht mehr ausreichen würde, wenn die unbestritten zahlreichen Kirchenkonzerte als das kenntlich würden, was sie sind: Durchschnittsware, keine kulturelle Avantgarde, kein ästhetisches Vorausdenken und keine kulturelle Prophetie.

In diesem Jahr findet im Ruhrgebiet rund um Essen die Kulturhauptstadt Deutschland statt. Ein kulturelles Großereignis sozusagen. Und was macht die Kirche? Hier trifft variiert zu, was Heike Schmoll anlässlich Margot Käßmanns Abgang schrieb: Immer wenn sie Kirche sagte, meinte sie ich. Analog könnte man zum Kulturengagement der Kirchen in NRW schreiben: Immer wenn sie Kultur sagen, meinen sie ICH ICH ICH. Es ist eine reine Selbstdarstellungsshow, kein Risiko im Sinne des kulturellen Experiments. Die Kirche als Verwalter ihrer eigenen kulturellen Nichtexistenz. Die Glocken zu läuten, wenn das Kulturhauptstadtevent eröffnet wird, ist nicht nur vor der traurigen Geschichte des kirchlichen Glockenläutens zu profanen Anlässen ein fatales Zeichen, es macht auch nicht einmal die Kirche im Bereich der Kultur hörbar: Als ich aber ansah alle meine Werke, die meine Hand getan hatte, und die Mühe, die ich gehabt hatte, siehe, da war es alles eitel und Haschen nach Wind und kein Gewinn unter der Sonne.

Ruhr 2010 wäre die Gelegenheit gewesen in einem quasi spielerischen kulturellen Probehandeln einmal darzustellen, wie es wäre, wenn die Kirchen kulturell geistesgegenwärtig wären. Einfach drei oder vier Künstler mit ihren Arbeiten in eine Kirche einzuladen, ist noch keine kulturelle Leistung. Auf die Kultur so zu schauen und so zu hören, dass vielleicht in der Folge die Gemeindetheologie geändert werden müsste, wäre es schon. Aber davon sind wir meilenweit entfernt.

Momente der Ewigkeit – so heißt eine Veranstaltung der evangelischen Kirche zur Kulturhauptstadt. Und man weiß nicht, ob dies eine Verheißung ist oder nicht vielmehr eine Drohung. Wenn ich den Teaser zur Veranstaltung lese, vermute ich letzteres: Die aufstrebende Metropole Ruhr hat ihren Ursprung in den christlichen Wurzeln der Region. Um sich dieser Herkunft zu vergewissern, werden auf künstlerisch hohem Niveau an 36 Sonntagen in evangelischen Kirchen im Ruhrgebiet die für diese Sonntage komponierten Kantaten Johann Sebastian Bachs aufgeführt. Die Aufführungen verstehen sich als „Atempausen“ der Kulturhauptstadt. In der Form sind sie den „Geistlichen Abendmusiken“ nachempfunden und werden in einem liturgischen Rahmen aufgeführt. Dabei sollen im Predigtteil neben historischen und kunstgeschichtlichen Aspekten die inhaltlichen Aussagen von Bachs Kantatenwerk für die Gegenwart erschlossen werden.

Ach ja, die christlichen Wurzeln des Ruhrgebiets reichen nicht weiter als bis Johann Sebastian Bach. Und weil Kultur an sich so hektisch ist, macht die Kirche damit Schluss und bietet statt dessen Atempausen, die die christlichen Wurzeln für die Gegenwart erschließen. Das also ist gemeint, wenn die EKD sagt, es dürfe „die Kulturarbeit der Kirchen niemals völlig ohne missionarisches Interesse sein. Für sie gilt, was für alle kirchlichen Äußerungen gilt: sie steht im Interesse der Verkündigung des Evangeliums und bemüht sich, den Glauben an Gottes Barmherzigkeit in eine solche Sprache zu fassen, dass sie Menschen erreichen, berühren und öffnen kann.“ Diese Kultur kann mir gestohlen bleiben.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/64/am310.htm
© Andreas Mertin, 2010