Ästhetisierung von Religion?


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Februar 2010

Liebe Leserinnen und Leser,

dieses Heft beschäftigt sich mit der Frage nach der Ästhetisierung von Religion respektive des Protestantismus. Diese Fragestellung ist natürlich keine neue, sondern wird seit Kierkegaards Reflexionen zu Ethik und Ästhetik immer wieder gestellt. Auffällig ist aber dennoch, dass in der jüngsten Zeit ein Begriff von Ästhetisierung zugrunde gelegt wird, der gar nicht mehr präzise überprüft, was denn darunter eigentlich gemeint sein könnte. Ästhetisierung ist zu einem Kampfbegriff, ja zu einer Meme geworden. Deshalb haken wir in diesem Heft nach und fragen, woher die Argumente kommen, die von einer Ästhetisierung der Religion (außerhalb der allgemeinen und schon länger andauernden Ästhetisierung der Lebenswelten im Sinne Rüdiger Bubners) sprechen lassen. Dass die beklagte und kritisierte Ästhetisierung vielleicht eher etwas mit der Tendenz zur Konformität zu tun hat, mit Oberflächlichkeit und einer angestrebten Corporate Identity, und dass die entscheidenden Aufbrüche zur Ästhetik verspielt wurden, sucht der einleitende Aufsatz deutlich zu machen.

Wer heute Konformität verweigert, wer sich kritisch zu etwas äußert, sieht sich häufig heftigen Reaktionen ausgesetzt. Das trifft natürlich auch für das Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik zu. Gleich zwei Mal fühlten sich in den letzten Heften Kritisierte so angegriffen, dass sie mit zum Teil beleidigenden und herabsetzenden Interventionen reagierten. Dass man, wenn man nur kritisch angegangen wird, gleich mit der Unterstellung reagiert, der Kritiker könne nicht denken, nicht lesen, sei unwissend und nicht ernst zu nehmen, scheint ein neuer Stil in der Kultur (des Protestantismus?) zu sein. Dass darüber hinaus aber ein Bischof einer evangelischen Landeskirche seinem Kritiker gleich alle Berechtigung zur Kritik abspricht und ihn der Dummheit zeiht, die er nicht ernst zu nehmen gedenke, spricht für einen dramatischen Verfall der intellektuellen Kultur des Protestantismus. Insofern bestätigt sich dadurch aber noch einmal die ursprünglich geäußerte Kritik am autoritären Gehabe einiger Kirchenleiter.

Auch die Polemik unterliegt stilistischen, aber auch theologischen Kriterien. In diesem Sinne halten wir uns an Schleiermacher, der in § 40 seiner kurzen Darstellung des theologischen Studiums Polemik als Form bestimmte, die eigene Lehrgestalt zu reinigen: "Da jeder nach Maßgabe der Stärke und Klarheit seiner Überzeugung auch Mißfallen haben muß an den in seiner Gemeinschaft entstandenen krankhaften Abweichungen: so muß die Kirchenleitung vermöge ihrer intensiv zusammenhaltenden Richtung zunächst die Abzweckung haben, diese Abweichungen als solche zum Bewußtsein zu bringen. Dies kann nur vermöge richtiger Darstellung von dem Wesen des Christenthums und so auch des Protestantismus geschehen, welche daher in dieser Anwendung den polemischen Theil der philosophischen Theologie bilden, jene der allgemeinen, diese der besonderen protestantischen." An dieser kirchenleitenden Kompetenz zur Polemik als Teil der philosophischen Theologie des Protestantismus mangelt es aber, sachlich wie stilistisch.

Wir werden uns bemühen, auch künftig die Polemik zu pflegen, um die Apologeten der aktuellen klerikalen/theologischen Praxis weiter herauszufordern und zur Klärung ihrer Ansichten und Haltungen zu bewegen.

Nun aber zum aktuellen Heft:

Unter VIEW finden Sie die bereits erwähnten grundsätzlichen Überlegungen von Andreas Mertin, die aus Vorträgen an Evangelischen Akademien hervorgegangen sind. Zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik am Beispiel von Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstands" äußert sich Hans Jürgen Benedict in seinem Text. Mit der Musik Mozarts und ihren Bezugspunkten zu Karl Barth beschäftigt sich Susanne Dammann. Auf die Ausstellung "Reinventing ritual" in New York macht Dorothea Erbele-Küster aufmerksam. Und schließlich äußert sich Andreas Mertin zur beliebten einfühlenden Betrachtung orthodoxer Ikonen und hält das für Idolatrie.

Unter RE-VIEW finden Sie zwei Artikel von Andreas Mertin: Zum einen setzt er seine Reihe zur Ikonographie des Religiösen fort, dieses Mal am Beispiel einer kritisierten Kampagne der Tierschutzorganisation PETA. Verstärkt wird auch das Verhältnis von Kunst und Religion unter evolutionsbiologischen Gesichtspunkten diskutiert. Ob hier die Argumente schon ausgereift sind untersucht die Rezension zum Buch "Der Darwin-Code".

Unter POST gibt es noch ein Paar "nachtragende" postpopularkulturelle Gedanken von Andreas Mertin.


Mit herzlichen Grüßen

Andreas Mertin, Horst Schwebel und Karin Wendt