Ästhetisierung von Religion?


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Der nackte Engel

Zur Ikonographie des Religiösen III

Andreas Mertin

Ein nackter Engel beschäftigte Ende 2009 die frommen Gemüter, sei es konservative amerikanische Katholiken oder auch Redakteure von evangelisch.de und der mit ihnen verbundenen kirchlichen Zeitschriften. Ein nackter Engel? Richtig nackt war er gar nicht und das macht in den Augen der Eiferer den eigentlichen Skandal aus, bedeckt dieser Engel doch seine Blöße mit einem metallenen Kreuz, also dem symbolischen Privateigentum des Christentums. Mit dem Kreuz kann und darf man vieles machen, Kreuzzüge etwa, auch Kreuzigungen, aber man darf es nicht zur Bedeckung seiner Scham verwenden. Dafür gibt es schließlich Feigenblätter.

Aber worum geht es im vorliegenden Fall? Die Tierschutzorganisation PETA ist seit längerem dafür bekannt, dass sie mit Aktbildern für Tierrechte eintritt, die Provokation also für den guten Zweck nutzt. Lieber nackt als mit Pelz ist ein inzwischen wohl bekannter Slogan, unter dem sich viele Prominente entsprechend präsentiert haben. Eine ähnliche Kampagne bezieht sich auf Tätowierungen und heißt Ink not Mink. Die neueste Kampagne trägt nun den Titel Angels for Animals und zeigt Prominente und Models, die dazu auffordern, Tiere lieber im Tierheim zu adoptieren als sie beim Tierhändler zu kaufen. Und zu dieser Handlung ruft nun auch das Model Joanna Krupa auf, das auch schon die anderen Kampagnen von PETA unterstützt hatte:

Wer den Namen Joanna Krupa in der Google-Bildersuche eingibt, stellt schnell fest, dass dies kein ungewöhnliches Bild für dieses Modell ist. Ungewöhnlich ist nur die Kirche im Hintergrund, die Tatsache, dass das Model als Engel in der Luft schwebt und dass es ein Kreuz vor sich her trägt.

Das alles darf man aber nur machen, wenn man im Interesse der religiösen Propaganda arbeitet und nicht im Interesse des Tierschutzes – meinen die Frommen, die sich ja mit entsprechenden Bildern auch besser auskennen.

So schreibt Bernd Tiggemann auf evangelisch.de unter der Überschrift „Engel für Tiere?“: „Ob Engel wirklich so aussehen? Ich weiß es nicht. In der Bibel werden sie entweder gar nicht näher beschrieben, oder sie werden als junge Männer in langen weißen Gewändern dargestellt. Was ist richtig? Flügel und Heiligenschein oder weißes Gewand?“ Der Mann muss es wissen, denn er ist Online-Redakteur der Evangelischen Kirche von Westfalen, und weiß, solche Engel wie den nachfolgend dargestellten von Andrea del Sarto mit ausgebreiteten Flügeln gibt es eigentlich gar nicht.

Und selbstverständlich würde ein richtiger Engel niemals einen Heiligenschein tragen wie dieser nebenstehend abgebildete von Fra Angelico. Fragen wir also noch einmal: „Ob Engel wirklich so aussehen? Ich weiß es nicht. In der Bibel werden sie entweder gar nicht näher beschrieben, oder sie werden als junge Männer in langen weißen Gewändern dargestellt. Was ist richtig? Flügel und Heiligenschein oder weißes Gewand?“ Wenn die Kunstgeschichte das wiedergibt, was die Menschen sich so vorgestellt haben, dann dürfte PETA der Sache näher kommen als der kirchliche Redakteur. Gut, nackte Engel sind sicher seltener, aber was ist mit den nackten Kindesengeln, die mit Flügel ausstaffiert seit dem 15. Jahrhundert die Bilderwelt durchschwirren und unter dem ikonographischen Stichwort „Putte“ katalogisiert werden und unentrinnbar zur visuellen Erfolgsgeschichte des Christentums gehören?

Bernd Tiggemann geht dem nicht weiter nach, das Aussehen der Engel ist ihm eigentlich egal, wichtig ist ihm die Botschaft. Und unbestritten hat ja auch PETA eine Botschaft: die der Tierrettung, für die die Prominenten symbolisch zu Engeln werden. Da aber knirscht der Fromme mit den Zähnen.

„Nun, ich glaube sehr wohl, dass auch Menschen zu Engeln werden können. Meinetwegen auch für Tiere, wenn diese Plakataktion denn hilft, gebeutelten Tieren ein neues Zuhause zu geben. Aber weshalb man sich dafür ausziehen und ablichten lassen muss, wie es sonst nur bei den Anti-Pelz-Kampagnen mit dem Motto ‚Lieber nackt als Pelz’ der Fall ist, das leuchtet mir überhaupt nicht ein.

Und ein Kreuz, das ausschließlich dazu dient, Brust und Schambein zu verdecken, lässt mich als Christ vor Scham im Boden versinken.“

Niemals, ehrlich, niemals würde ein anständiger Christ das Kreuz verwenden, um seine Blöße zu bedecken, da würde er doch lieber als Christ vor Scham im Boden versinken. Da sieht man wieder einmal, wie wenig das Christentum seine eigene Bildgeschichte kennt. Alonso Cano, hoch gerühmter spanischer Bildhauer und Maler, gestaltet 1640 das nebenstehende Bild, auf dem Christus nicht nur fast unbekleidet die Menschen aus dem Boden (sprich dem Limbus) holt, sondern direkt neben ihm ein bereits Geretteter seine Blöße hinter dem Kreuz verbirgt.

Merke: es gibt nichts Neues unter der Sonne.

Apropos Sonne. Eines sollte auch ein Online-Redakteur einer evangelischen Landeskirche wie auch die us-amerikanische Catholic League wissen: seit Jahrhunderten findet die Wahl jedes neuen Papstes unter dem blanken Hintern Gottes statt. Michelangelo war es, der so frank und frei war, Gott fast unverhüllt den Blicken preiszugeben. Und warum sollte man sich am blanken Busen eines Models hinter dem Kreuz stören, wenn nicht einmal der blanke Hintern Gottes in der Sixtinischen Kapelle den Kardinälen die Schamröte ins Gesicht treibt? An dieser Stelle wäre doch etwas mehr Gelassenheit und nicht zuletzt historische Einsicht angebracht.

Denn mein Lieblingsbild zur Thematik will ich gar nicht verschweigen. Es findet sich seit Jahrhunderten in Bremen am Alten Rathaus, genau dort, wo heute der Werder Bremen seine Meisterfeiern abhält. Man muss nur richtig hingucken und es zu deuten wissen:

Da würde ich nun allzu gerne wissen, wohin Bernd Tiggemann nun versinkt, wenn er erfährt, dass die evangelischen Ratsherrn in Bremen das Kreuz weniger zur Verdeckung der Blöße verwendet haben, als vielmehr dem Papst sein eigenes Kreuz in den blanken Mors steckten und ihn dann noch von einer fast unbekleideten Frau besteigen ließen. So viel zur Ikonographie des Religiösen in Geschichte und Gegenwart.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/63/am304.htm
© Andreas Mertin, 2010