Ein merk-würdiges Bild

Eine Bildexegese

Andreas Mertin

Die Wochenzeitschrift DIE ZEIT, genauer Robert Leicht schreibt über die Wahl von Margot Käßmann zur Ratsvorsitzenden der EKD und die Zeitschrift wählt zur Illustration ein Bild aus. Es muss ein Bild sein, dass die Redaktion für aussagekräftig und eindrücklich hält – entweder für die dargestellte Person oder die Tendenz des Artikels.

DIE ZEIT hätte ja auch zum Beispiel die auf der Plattform evangelisch.de verbreiteten immergleichen kirchlichen Medienfotos mit der prominenten Bischöfin im Bildmittelpunkt vor dem EKD-Logo im Bildhintergrund verwenden können. Tut sie aber nicht, sie wählt bewusst aus dem Bilderpool, über den die großen Zeitschriftenredaktionen verfügen, ein ganz bestimmtes Bild aus. Ich unterstelle auch dieses Mal, dass es sich nicht um einen Zufall handelt, sondern um eine bewusste Konstruktion, die den Leserinnen und Lesern deutlich macht bzw. machen soll, worum es geht.

Betrachtet man das verwendete Bild genauer, so gliedert es sich in verschiedene Bereiche. Man kann zunächst die Bischöfin als Handelnde aus dem Gesamtbild herauslösen. Ganz offensichtlich ist das Bild ein Ausschnitt aus einem größeren Bild, aus dem nun ein Blow up zur Vorstellung von Margot Käßmann herausgelöst wurde.

Erkennbar ist die am Kreuz in ihrer Funktion als Bischöfin erkennbare Margot Käßmann während eines Gottesdienstes beim Aaronitischen Segen fotografiert worden (wenn es sich nicht um eine gestellte Aufnahme handelt), also bei dem von Martin Luther eingeführten Schlusssegen im Gottesdienst: Der HERR segne dich und behüte dich. Der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden. Die Augen sind auf eine Gemeinde schräg links hinter dem Fotografen gerichtet. In der herausgelösten personalen Ansicht lässt sich weder etwas über den Blickwinkel noch den Kontext erfahren. Das ist bei der von der ZEIT verwendeten Fotografie anders.

Hier sehen wir zunächst, dass die handelnde Person überraschenderweise nicht in der Zentralperspektive abgebildet wurde, sondern meines Erachtens in einer leichten Vogelperspektive.

Der Hintergrund ist bewusst unscharf gelassen, wir erkennen einen Altar mit aufgeschlagener Bibel (die perspektivisch geradezu auf den Schultern der Bischöfin lastet) und zwei Kerzenständern und ein darüber sich erhebendes Altarretabel. Die fotografische Schärfentiefe ist so eingeschränkt, dass die Bischöfin ganz im Fokus steht. Durch die Unschärfe des Hintergrunds wirkt Käßmann den Betrachterinnen und Betrachtern sehr nah, so als ob sie sich vom Altar auf sie zu bewegt hätte. Das wird durch den semantischen Gehalt ihrer Geste noch verstärkt.

Die dargestellte Szene des Altarretabels ist nur mit Mühe zu erraten, für einen durchschnittlichen Betrachter ist sie sozusagen außerhalb des Blickfeldes. Da in evangelischen Kirchen für die Altarbilder gilt, dass sie die großen Heilstatsachen darstellen sollen, lässt sich die Szene aber schnell auf das Würfelspiel am Fuße der Kreuzigung eingrenzen. Das versetzt uns in die Lage, in einer Bildmontage eine Art Gesamtsicht des Szenariums zu rekonstruieren.

Natürlich ist die linke Abbildung nur eine – wenn auch weitgehend maßstabsgetreue Montage –, wie unschwer an der veränderten liturgischen Farbe erkennbar ist. Die Technik der Montage erlaubt es uns aber auch, Margot Käßmann versuchsweise einmal größer in das Geschehen einzuzeichnen, wie es auf der rechten Abbildung geschehen ist. Jede der drei Abbildungen hat eine andere „Botschaft“.

  • Das von der ZEIT verbreitete Bild hat eine eigene mediale Realität. Niemand außer einer Fotokamera mit Zoom-Objektiv sieht die Handelnde vor dem Altar so. Dies ist eine unmittelbar von der Kamera und dem Bildausschnitt konstruierte Botschaft. Die Bischöfin vor dem (nur diffus erkennbaren) Hintergrund ihres Handlungsfeldes direkt den Gläubigen zugewandt. Wobei weniger die Botschaft, als vielmehr die Haltung zählt.
  • Das zweite Bild ordnet die Bischöfin ganz der biblisch-kirchlichen Tradition unter (bis dahin, dass sie optisch geradezu untergeht). Es ist klar, dass ein solches Bild für den Artikel von Robert Leicht in der ZEIT nicht in Frage gekommen wäre.
  • Das dritte Bild zeigt sie als Repräsentantin der biblisch-kirchlichen Situation. Der Fotograf hätte dazu freilich die Froschperspektive einnehmen müssen. Aber auch dieses Bild passt nicht zur Botschaft des Artikels, denn die Last der Tradition wäre so nicht zum Ausdruck gekommen.

Zentrale Botschaft des Artikels wie des verwendeten Bildes ist: Margot Käßmann ordnet sich in die Tradition der Evangelischen Kirche ein, sie steht im Blick auf ihre Ratspräsidentschaft aber erst am Anfang und muss/kann/sollte noch in das Amt wachsen. Deshalb die Bildauswahl, deshalb der Hintergrund, deshalb die Vogelperspektive: Wer weiß, wohin sie wachsen kann.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/62/am301.htm
© Andreas Mertin, 2009