Die Poetik des Aristoteles

Eine Besprechung

Horst Schwebel

Aristoteles, Poetik, Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt, Reihe: Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, begründet von Ernst Grumbach, herausgegeben von Hellmut Flashar, Band 5, Akademie-Verlag,  Berlin 2008, 820 Seiten, 98 Euro

Über 800 Seiten umfasst das Werk „Aristoteles, Poetik, Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt“, wobei der Umfang der Übersetzung der 26 Kapitel gerade einmal 38 Seiten lang ist. Offensichtlich geht es Arbogast Schmitt, Prof. em. der Gräzistik an der Philipps – Universität Marburg, um mehr als ein gewöhnliches Kommentarwerk. Schmitt hat eine Vision. Würde man Aristoteles richtig verstehen, könnte man mit seiner Art zu denken einen verbesserten Zugang zur Welt und ihren Problemen finden. Denn Aristoteles sei im Abendland meist missverstanden worden. Und dieses Missverständnis gelte es zu korrigieren.

Für das, was Arbogast Schmitt präsentiert, ist das Wort „Kommentar“ eine nicht zu überbietende Untertreibung, führt dieser doch ins Herz des Denkens des Stagariten, beleuchtet die übrigen Schriften und ihren griechischen Kontext und konfrontiert ausführlich  mit der Rezeptionsgeschichte. Bei den einzelnen Kapiteln liefert Schmitt keine fortlaufende Vers- zu Verskommentierung, wie sie etwa bei der biblischen Exegese üblich ist. Stattdessen fragt er bei jedem Kapitel in einem Teil A nach seiner Gliederung und Zielsetzung. Im Teil B kommen dann Einzelerklärungen und eine ausführlich Schilderung der Forschungsprobleme.

So werden im Teil B beispielsweise die Kernbegriffe abgehandelt: Mimesis, Katharsis, Mythos, Ethos und Handlung, Sprache und Dichtung. Die Poetik bleibt Ausgangs- und Kristallisationspunkt, aber auch andere Schriften von Aristoteles – wie die Nikomachische Ethik, die Metaphysik und die Rhetorik – werden berücksichtigt; hinzugezogen werden die Vorgänger – immer wieder Platon - , die Nachfolger – v. a. die Stoa – und bei den Kommentaren auch die Araber. Ein Schwerpunkt bildet die Aristoteles – Rezeption der Renaissance und schließlich die Abwendung von Aristoteles im ausgehenden 18. Jahrhundert.

Was lässt sich bei Aristoteles entdecken, was nicht längst bekannt ist? – Für Arbogast Schmitt ist der neuzeitliche Umgang mit Aristoteles von Missverständnissen begleitet. Als die Renaissance Aristoteles´ Poetik entdeckte, geschah dies in Abwendung  vom mittelalterlichen System - Aristoteles. Die Zuwendung zur Wirklichkeit, zur Schönheit der erfahrbaren Welt, wurde dann ebenfalls mit Aristoteles konnotiert. Die hierauf aufbauende Regelästhetik mit der Mimesis als „Nachahmung der Natur“ wird von Schmitt aber bereits als antiaristotelisch eingestuft. Die „Natur“ als Leitwährung mit Ordnung, Proportion und Harmonie gehört nach Schmitt aber nicht zu Aristoteles, sondern ins Repertoire der Stoa. Als im 18. Jahrhundert die vermeintliche Regelästhetik durch die Genieästhetik abgelöst wurde und mit ihr Begriffe wie Anschauung, Gefühl und Subjektivität auf den Schild gehoben wurden, sieht Arbogast Schmitt Aristoteles erneut missverstanden.

All dies wird für ihn zum Anlass, Aristoteles in seinem griechischen Umfeld zu Wort kommen zu lassen und die Missverständnisse seiner Nachfolger von den Griechen bis zu Klassik und Romantik aufzudecken und zu korrigieren. Dieses anspruchsvolle Programm, das Arbogast Schmitt über einige hundert Seiten hinweg entfaltet, kann im Rahmen einer Rezension freilich nicht angemessen wiedergegeben werden. An zwei Beispielen soll zumindest verdeutlicht werden, wie Schmitt im Einzelfall vorgeht.

Nehmen wir gleich den Begriff „Mimesis“, „Nachahmung“. Die Renaissance denkt hierbei an die „Nachahmung der Natur“ im Sinn von „ars imitatur naturam“. Für Arbogast Schmitt ist dieses Verständnis in seiner Abbildhaftigkeit viel zu eng. „Nachahmung“ bezieht sich stattdessen auf die Handlung eines Charakters, die unter Zuhilfenahme verschiedener Medien auf verschiedene Weise zur Darstellung gebracht wird. Das Ziel ist nicht, eine vermeintliche Wirklichkeit abzubilden; vielmehr geschieht die Handlung unter eigener  (autonomer) Gesetzmäßigkeit. In Bezug auf die Sprache und die übrigen Darstellungsmedien gibt es aus  Erfahrung gewonnene Regeln, gleichwohl aber auch einen gewissen Freiraum. So ist die Glaubwürdigkeit  des mit einem Charakter verbundenen Handlungsablaufs für die Darstellungsform leitbildhaft, wodurch die innere Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit relevant werden. Doch nirgendwo mache sich nach Schmitt Aristoteles zum Sklaven der Wirklichkeitsnachahmung. So ist beispielsweise ein „Unmögliches, das wahrscheinlich ist“ einem „Möglichen, das unwahrscheinlich ist“, vorzuziehen. Im Gegensatz zum Nachahmungsbegriff der Renaissance kann Schmitt formulieren: „Die Aristotelische Poetik ist von Anfang an keine Nachahmungspoetik (die von der Kunst eine Reproduktion von Wirklichkeit verlangt), weil Poesie für ihn überhaupt erst durch Nachahmung (möglicher Handlungen) zur Poesie wird.“

Noch in einem weiteren gravierenden Punkt widerspricht Arbogast Schmitt der Auslegungstradition, nämlich in der Deutung der Katharsis. Als Beispiel für den Common Sense in Bezug auf diesen Topos zitiere ich aus Windelband - Heimsoeth „Lehrbuch der Geschichte der Philosophie“: „Aber der Zweck dieser nachahmenden Darstellung ist ein ethischer: die Affekte des Menschen, insbesondere bei der Tragödie Furcht und Mitleid, sollen derart erregt werden, dass durch ihre Erregung und Steigerung die Reinigung der Seele (katharsis) von eben diesen Affekten herbeigeführt wird.“ – Klar ist, dass die durch eine schicksalsmächtige Verfehlung (hamartia) ausgelöste tragische Handlung beim Zuschauer Mitleid und Furcht hervorrufen. Dass aber die Katharsis in der im Lehrbuch vorgetragenen Weise zu verstehen sei, wird von Arbogast Schmitt bestritten. In der eben vorgetragenen Version meint Katharsis ein Zur – Ruhe – Kommen im Sinn der Reinigung von den aufwühlenden Gefühlszuständen. Diese Position wird von Schmitt mit der Stoa in Verbindung gebracht, weil dort ein solcher Gefühlsbereich einzig negativ eingestuft wird und eine Lösung nur in der Beseitigung solcher Gefühle vorstellbar ist. Für Schmitt geht es bei der Aristotelischen Katharsis aber nicht um die Auflösung  der Gefühle, sondern um den richtigen Umgang mit ihnen. Schmitt sieht bei Aristoteles auch im Bereich der Gefühle eine Rationalität am Werk, die es zu entwickeln und zu kultivieren gelte. Er spricht von einer „Kultur des Gefühls“, von der Ausbildung einer „Gefühlssicherheit bei der Unterscheidung zwischen dem, was wirklich bedrohlich, wirklich bemitleidenswert ist und Formen der Gefahr und des Unglücks, die ein tiefes Gefühlsengagement nicht verdienen.“

Der Grund für diese gemessen an der Tradition ungewöhnliche Katharsis –  Interpretation liegt daran, dass Schmitt den Begriff des Denkens anders bewertet. Denken bei Aristoteles bedeutet bei Arbogast Schmitt primär „Unterscheiden“. Dies vollzieht sich nicht allein auf der Ebene des Bewusstseins, sondern bereits in den Wahrnehmungsakten. Die Sinneswahrnehmungen und das Gefühl, selbst der Thymos ist vom Denken nicht ausgeschlossen. Schmidt entwickelt diesen Gedanken weiter und belegt durch Beispiele (das musikalische Hören, das Weintrinken), dass bereits die Wahrnehmungsakte ein Denken im Sinne von Unterscheiden zu ihrer Voraussetzung haben. Dies ermöglicht ihm, über die Poetik von Aristoteles eine Brücke bis zur Neurophysiologie und zur „Intelligenz der Gefühle“ zu schlagen. Damit ist er unter Bezugnahme auf Aristoteles auf der Spur zu einer Erkenntnistheorie, die für manches Problem hilfreich sein könnte, wo bislang Dualismen unverbunden  nebeneinander stehen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/61/hs11.htm
© Horst Schwebel, 2009