Wie ein fernes Raunen …

Best of … Popkultur und Religion

Andreas Mertin

Auf dem Cover des hier vorzustellenden Buches prangen zwei Hochschaft-Sneaker, die ein Buch umrahmen: eine englischsprachige „Holy Bibel“, in der sich ein grelles Licht spiegelt. Darüber steht der Titel des von Harald Schroeter-Wittke herausgegebenen Werkes: Popkultur und Religion. Best of …

Präziser kann man den Anspruch des seinerzeitigen Aufbruchs der evangelischen Nachwuchstheologen Mitte der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts zumíndest visuell kaum auf den Punkt bringen. Nicht weniger als die Ablösung der Paradigmen der Philosophie, der Kulturtheorie und der Theologie des 20. Jahrhunderts war intendiert, statt der Schwere des Sinns wollte man sich nun der Leichtigkeit des Seins widmen. Das Titelbild dieses gerade erschienenen Buches formuliert implizit die geradezu maßlosen Ambitionen einer Generation, die sich von der Hochkultur ab- und der populären Kultur zuwenden wollte und darin nicht nur eine persönliche Marotte und eine subjektive Geschmacksvorliebe sah, sondern sich zugleich darin der Wahrheit des Lebens näher kommen sah. Es mag sein, dass vielen Betrachtern des Buchcovers dieser implizite Anspruch zunächst gar nicht auffällt, aber man kann im 21. Jahrhundert nicht zwei Schuhe auf das Cover eines Buches setzen, ohne auf sein philosophie- und kunstgeschichtliches Urbild Bezug zu nehmen. Und dieses hat viel mit Kunst, Kultur und Wahrheit zu tun.

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Einer der zentralen (und schwergewichtigen) Texte des 20. Jahrhunderts ist Martin Heideggers „Der Ursprung des Kunstwerks“, Anfang der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts entworfen, Mitte der 30er-Jahre vorgetragen und dann Anfang der 60er-Jahre publiziert. Darin geht es um die Wahrheit, die sich mit der Kunst ins Werk setzt. Heidegger zeigt am Beispiel von Vincent van Gogh wie sich am konkreten Kunstwerk die Wahrheit des Lebens einer Bäuerin ablesen lässt:

Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeuges starrt die Mühsal der Arbeitsschritte. In der derbgediegenen Schwere des Schuhzeuges ist aufgestaut die Zähigkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen des Ackers, über dem ein rauer Wind steht. Auf dem Leder liegt das Feuchte und Satte des Bodens. Unter den Sohlen schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend. In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifenden Korns und ihr unerklärtes Sichversagen in der öden Brache des winterlichen Feldes. Durch dieses Zeug zieht das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not, das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes. Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet.



Vincent van Gogh, Stillleben. Ein Paar Schuhe,
1886, 37,5 × 45,5 cm,
Öl auf Leinwand,
Rijksmuseum Amsterdam

Heideggers Diskussion der ästhetischen Wahrheitsproblematik ist im Zusammenhang mit seiner Wahrheitstheorie zu sehen. Dabei wird Wahrheit neu bestimmt und damit auch die Wahrheit der Kunst. Weder das vorstellende Denken noch auch der Begriff sind Garanten der Wahrheit. Die Wahrheit der Kunst wird auch nicht aus der Sinnlichkeit abgeleitet, Wahrheit kommt bei Heidegger der Kunst vielmehr nur dann zu, wenn sie die Welt und die Dinge auf die sie bedingenden Strukturen hin durchsichtig macht. Es kommt darauf an, dass Philosophie ihren eigenen Grund begreifen lernt. Die Schwierigkeit dieser Bemühung liegt darin, dass der Grund der Philosophie beim Philosophieren stets schon in Anspruch genommen werden muss und also nicht einfaches Reflexionsthema werden kann. Angesichts der unlösbar scheinenden Aufgabe, die Heidegger sich seit seinem Hauptwerk ‘Sein und Zeit’ stellt, verspricht nur die Kunst einen Ausweg, wenn man in ihr die „ins Werk gesetzte Wahrheit“ erkennt. Das Kunstwerk wächst über die Schranken einer bloß ästhetischen Betrachtung und Bewertung hinaus, denn es rückt jene Wahrheit anschaulich vor Augen, die sich dem Zugriff der Reflexion entzog und also das Problem kennzeichnete, das die Philosophie mit sich selbst hat. Heideggers Theorie besagt, dass die Kunst dazu berufen ist, die Vormeinungen und Vorurteile der Menschen über die Welt und die Dinge aufzulösen, indem sie die Dinge „sein“ lässt. In der Kunst sind die instrumentell-technischen Bezüge zu den Dingen suspendiert. Das Kunstwerk enthüllt die Dinge in ihrem Sein, das sonst ungesehen und ungesagt bleiben würde. Das Kunstwerk enthüllt das wahre Wesen der Dinge. „Werksein heißt - so Heidegger wörtlich - eine Welt aufstellen“ und Welt bedeutet auch bei Heidegger die Lebenswelt des Menschen.

Der Text von Martin Heidegger ist ein Maßstab auch für popkulturelle Analysen. Er war im Blick auf die Kultur und die Kunst seinerzeit so einflussreich wie später Theodor W. Adornos posthum erschienene Ästhetische Theorie. Die beiden Antipoden der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts verwiesen bei aller sonstigen Gegensätzlichkeit ihre Leserinnen und Leser auf die zu studierende Kunst, deren sorgfältige Analyse Einblicke in die kulturelle Verfasstheit der Gegenwart und zugleich in die Lebenswelten der Menschen versprach.

Eine Generation später sollte die Beschäftigung mit der Popkultur das einlösen, was die Philosophen angesichts der Hochkultur versprochen hatten. Die Frage ist, ob die rückblickend als „Best of“ gesammelten Beiträge der AK-Pop-Generation der jüngeren Theologen solche Schneisen schlagen konnten, wie es der Text von Heidegger in der kunstphilosophischen und hochkulturellen Debatte getan hat. Oder teilen sie das Schicksal vieler popkultureller Produkte, doch nur ein rasch vorübergehendes Feuerwerk im popkulturellen Konsumrausch zu sein?

Die Themen, die das Buch in seinen Aufsätzen und Studien behandelt, sind vielfältig und breit gestreut: vom Comic über das Tattoo bis zum Handy, vom Kinofilm über den Videoclip bis zum Fernsehen. Und ein gewisser Teil der Beiträge stammt auch aus dem Magazin für Theologie und Ästhetik, zu dessen Programmatik zumindest zwischen 1998 und 2007 die theologische Analyse der Popkultur gehörte.

Davon hat sich das Magazin inzwischen freilich verabschiedet: „Inhaltlich konzentriert [es] sich künftig verstärkt auf die Künste, also auf Bildende Kunst, Architektur, Literatur und Musik. Die bisher parallel betriebene Auseinandersetzung mit der Populärkultur wird dagegen etwas in den Hintergrund treten ... In den letzten Jahren ist programmatisch von einigen Teilen der Kirche, aber auch der Kulturwissenschaften vertreten worden, es mache keinen Unterschied, ob man sich mit Trivialkultur oder Hochkultur beschäftigt. Auch in der Kulturdenkschrift der EKD lassen sich diese Töne vernehmen. Diese Ansicht teilen wir nicht (mehr). Angesichts der Vergleichgültigung der Kultur ist es an der Zeit, verstärkt das Augenmerk wieder jenen kulturellen Sektoren zuzuwenden, die uns produktiv zu einer „Neu-Kartierung menschlicher Fähigkeiten" (G. Steiner) führen. Es kann nicht sein, dass eine künstlerische Arbeit von Jochen Gerz auf derselben Ebene verhandelt wird wie ein Konzert der Kelly-Family: nämlich als bloßes Event. Es macht einen Unterschied aufs Ganze aus, dass hier künftig differenziert wird. Das beinhaltet keine Absage an die kulturwissenschaftliche Analyse der Populärkultur, nur muss diese sich an den Maßstäben der kulturwissenschaftlichen Analyse von Hochkultur messen lassen. Alles andere wäre Trug und wird uns täglich im Fernsehen vor Augen geführt: die Trivialisierung von Kultur.“

Ich schicke das voraus, damit mein durchaus kritischer Einsatz im Folgenden verständlich wird (dessen Kritik aber auch meine eigenen Beiträge zur Popkultur betrifft). Grob gesagt bin ich der Meinung, dass die theologische Auseinandersetzung mit der Popkultur ihre Zeit hatte, ihre Bedeutung aber zunehmend verliert, weil inzwischen ganz andere Dinge auf dem Spiel stehen. Es macht vor allem keinen Sinn mehr, die Popkultur polemisch gegen die Hochkultur auszuspielen, weil wir den Preis dafür nicht bezahlen können. Statt dessen müssen Vertreter der Pop-Kultur (wie der Hoch-Kultur) zeigen, was sie von dieser Kultur für bewahrenswert halten, auf dass nicht Mephisto Recht behalte: „Denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht; Drum besser wär's, dass nichts entstünde.“ Die Popkultur und deren theologische Reflexion ist meiner Ansicht nach aktuell durchaus rechtfertigungsbedürftig.

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"Das lax Gesagte ist schlecht gedacht."
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik

Das Buch eröffnet nach dem Vorwort mit einem Aufsatz von Joachim Kunstmann unter dem Titel Pop & Protestantismus. Ein programmatischer Text also und es ist gerade dieser Text, der mich geärgert hat. Der erste Satz lautet: „Pop und Protestantismus – ein einziger Widerspruch.“ Schon diesen Satz habe ich nicht verstanden. Ich verstehe ihn biographisch nicht und ich verstehe ihn theologie- und kirchengeschichtlich nicht. Biographisch schon allein deshalb nicht, weil ein guter Teil meiner Jugend gelebter popkultureller Protestantismus war. Die Gottesdienste, die Jugendgruppen, die Protestkultur – das war populäre Kultur des Protestantismus, sonst hätte ich sicher nicht Theologie studiert. An meiner eigenen Biographie habe ich einen Widerspruch von Protestantismus und Popkultur nicht feststellen können. Und in meiner Beschäftigung mit popkulturellen Themen habe ich mich auch theologisch nicht als Außenseiter gefühlt. Die erste Vorlesung über alttestamentliche Theologie, die ich dann später im Rahmen des Studiums hörte, arbeitete mit Pete Seegers „Turn, turn, turn (To Everything There Is a Season)“, eine Vorlesungsstunde in Kirchengeschichte wurde eröffnet mit einer anschaulichen Schilderung der Eingangssequenz aus dem Kinofilm „Apocalypse now“. Und es war nicht die Generation der um 1960 Geborenen, die die Popkultur entdeckt hat, sondern die Generation der um 1945 Geborenen, nur dass sie nicht mit der Popkultur ihre Professur bekommen hatten.

Und auch theologie- und kirchengeschichtlich will mir das Ganze nicht einleuchten. Ein Satz wie „Der Protestantismus ist eine Schuldkultur mit hoher Ernsthaftigkeit und geringem Unterhaltungswert“ macht mich fassungslos. Der Reformation war eine Massenbewegung, ihre visuelle Kultur – wie Werner Hofmann in seiner legendären Ausstellung „Luther und die Folgen für die Kunst“ anschaulich gezeigt hat – außerordentlich popkulturell orientiert. Sicher kann man locker vom Hocker formuliert den Protestantismus eher den hochkulturellen als den populärkulturellen Bereichen zuordnen, aber das heißt auch, dem nächst greifbaren Vor-Urteil auf den Leim gegangen zu sein. Wer kolportiert so etwas? Wären wir nicht im 21. Jahrhundert, würde ich auf gegenreformatorische Propaganda tippen. Wenn etwa die Gleichung aufgemacht wird, der Protestantismus sei nicht nur eine bitterernste, sondern sogar eine verbitterte Religionskultur, die immer das Gegenteil des schönen Scheins suche, woran macht sich das fest? Für Luther stimmt es sicher nicht! Und für dessen Wirkungsgeschichte? Nehmen wir etwa den Sturm-und-Drang-Dichter, Organisten, Komponisten und Pfarrerssohn Christian Daniel Friedrich Schubart, dessen Biografie von Bernd Jürgen Warneken jüngst erschienen ist und der eine popkulturelle Existenz par Exzellenz war. Seine Deutsche Chronik wird von Schiller und Hölderlin ebenso gelesen wie von Wirten, Friseuren, Bauern, Handwerksburschen und Bedienten. Er gab dem Volk erst jene Stimme und Sprache, die sich dann von ihren Verächtern gegen die Hochkultur wenden lässt. Und was ist mit all jenen reformierten Denominationen, die weltweit der erfolgreichste Teil des Protestantismus sind und auf Enthusiasmus und Volkskultur setzen? Alles verbitterte Religionskultur?

Wer Pop und Protestantismus als Widerspruch darstellt, setzt einen Teil der akademischen Theologie (soll ich sagen: Württemberger Provenienz?) mit Protestantismus gleich. Nein, die akademische protestantische Theologie mit dem Protestantismus zu verwechseln (und sei es nur rhetorisch) ist genauso schlimm wie den Katholizismus mit dem Papst gleichzusetzen. „Die heilige populäre Quaternität von Fressen, Saufen, Sex und Aschenkreuzen ist jedenfalls eindeutig katholisch“ meint Kunstmann im nächsten Atemzug, als habe es die Viktorianischen Ausschweifungen nie gegeben. Es sind Sätze wie diese aus dem einleitenden Aufsatz, die einen fragen lassen, wie es um die Ernsthaftigkeit der Popkulturtheologie bestellt ist.

Und es sind Sätze wie folgender, die mich zur Weißglut bringen: „Die Bilderstürme aller Zeiten, im Protestantismus besonders beliebt, waren immer ein direkter Angriff auf die Popularkultur, und sie haben der Religion immer geschadet.“ Das ist das rasende Gefasel der Gegenaufklärung. Daran ist aber auch nichts wahr. [Vielleicht lohnt sich an dieser Stelle die Lektüre von Horst Bredekamps Klassiker "Kunst als Medium sozialer Konflikte", um auf den Boden der Tatsachen zu kommen.] Es waren jedenfalls die reformierten Bilderstürmer, welche die Kunstwerke aus den Kirchen dem Volk zum ersten Mal zugänglich gemacht haben, indem sie sie gesondert ausstellten, nachdem sie vorher weitgehend den Klerikern hinter den Chorschranken vorbehalten waren; es war ein protestantischer Landgraf aus Hessen, der mit dem Fridericianum das erste öffentliche Museum der Welt schuf, noch bevor die französische Revolution die Kunstwerke der Reichen im Louvre populär machte. So viel sollte man aus der Reformation und ihrer Wirkungsgeschichte als protestantischer Theologe gelernt haben.

Dass ich schließlich ausgerechnet im eröffnenden Aufsatz eines popkulturellen Best of-Readers den Satz lesen darf, die Pop-Künstlerin Madonna sei im Vergleich zur echten Madonna eine „nachgemachte Pop-Verspiegelung der medienmusikalischen Bühne von heute“ lässt mich dann doch nachdenklich werden. Vielleicht haben die Bischöfin Käßmann, die Madonna als alternde Diva charakterisierte, und die Kollegen der Pop-Kultur-Theologie-Fraktion doch mehr Gemeinsamkeiten als ich bisher dachte. Dass Kunstmann seine Gedanken apologetisch als unwissenschaftlichen Essay etikettiert, macht es nur schlimmer, denn der Essay bedarf zwar keiner wissenschaftlichen Nachweise, setzt dafür aber auf Evidenzen. Und gerade die wollen sich bei mir nicht einstellen.

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Wäre mit dem Buch-Cover und dem Buch-Untertitel die Messlatte nicht so hoch angesetzt worden, dann würde ich den Inhalt des Buches als beeindruckende Sammlung von Texten der neueren Theologengeneration in popkultureller Perspektive bezeichnen. Es sei all jenen empfohlen, die immer noch glauben, Theologen würden sich ausschließlich mit Dogmatik und Pastoraltheologie beschäftigen. Nein, das tun sie nicht, ihr Betrachtungswinkel ist weitaus größer.

Aber dennoch stellt sich nicht dieses Aha-Gefühl ein, das ich bei der Lektüre von John Fiskes „Lesarten des Populären“ hatte (der leider nur im Text von Manfred L. Pirner kurz erwähnt wird), etwa wenn Fiske über die „Lesarten des Strandes“ oder über „Lustvoll shoppen“ schrieb. Diesen großen Atem haben die hier vorgestellten Texte nicht und vielleicht können sie es angesichts ihres transitorischen Gegenstandes auch nicht. Ich glaube daher, dass der popkulturelle Ansatz in der Theologie notwendig scheitern muss und faktisch auch gescheitert ist, weil er eben kein neues Paradigma zu etablieren vermochte. Entweder trivialisiert er sein Instrumentarium, indem er in der bewusst inszenierten Abgrenzung zur hochkulturell orientierten Forschung auch seine Ansprüche an Methodik und Systematik mindert oder er entwickelt eine Programmatik, die den betrachteten Gegenstand durchdringt, damit zugleich aber auch lebensweltlich entfremdet.

Ich habe diese Texte aus einer Distanz von 10 Jahren gelesen, einer Distanz, die einem genug Raum lässt für die Frage, wie wichtig und bedeutsam das eigentlich war, was man um das Jahr 2000 getrieben hat. Ja, zum Verstehen der Kultur war es wichtig, aber nur, wenn man jenen Kulturbegriff zugrunde legt, den die kritische Theorie in der Dialektik der Aufklärung unter dem Stichwort der Kulturindustrie entwickelt hat. Aber während ich bei meinen hochkulturellen Aktivitäten immer wenigstens den Hauch des Gefühls habe, etwas im Blick auf die Zukunft zu leisten, geht es mir bei den popkulturellen Aktivitäten nicht so. Spaß – um das nebenbei zu sagen – macht mir beides, sonst würde ich keins von beidem betreiben. Ich beschäftige mich weiterhin mit Popkultur, weil ich mit den Cultural Studies die Hoffnung habe, dass sich mit der Massenkultur subkutan auch etwas anderes durchsetzen kann, als die bloße Manipulation der Menschen. Was John Fiske in der Fortentwicklung der Ansätze der kritischen Theorie entwickelt und gezeigt hat, war ja, dass der Aktionsspielraum in der so genannten Massenkultur variablenreicher ist, als es sich die kritischen Theoretiker 1945 vorstellen konnten.

Epilog

Kommen wir noch einmal zurück auf den eingangs angesprochenen Vergleich des Buchcovers mit Heideggers Analyse der Schuhe von Vincent van Gogh. Man kann an diesen Bildern letztlich die Begrenztheit der Popkulturtheologie zeigen. Während nämlich Heidegger seine Wahrheit des Werks aus dem untersuchten Material (hier aus dem Kunstwerk von Vincent van Gogh) herausarbeitet, reichen der Popkulturtheologie die Sportschuhe auf dem Cover nicht. Sie müssen inszenatorisch so ins Bild gesetzt werden, dass die Intention des Buches ins Auge springt, dass sie illustriert wird. So etwas macht aus Popkultur schlechte Kultur.

Heideggers Analyse der Schuhe erschloss eine neue Wahrnehmung, öffnete die Augen für bisher nicht Gesehenes oder nicht ins Bewusstsein Getretenes. Das Buch-Cover stellt in der visuellen Inszenierung eine unmittelbare Beziehung her, weil man sich nicht traut, nur die Sneaker abzubilden und dem Betrachter anzutragen, damit sei das Thema bereits erschlossen, das „und Religion“ von „Popkultur und Religion“ sei in den Schuhen schon implizit. (Vilem Flusser hat Ähnliches anhand der Geste des Pfeiferauchens demonstriert und er hat diesen Text nicht „Pfeiferauchen und Religion“, sondern „Die Geste des Pfeiferauchens“ genannt.) Der Buchtitel stellt mit seinem Cover Popkultur und Religion als zwei unterschiedliche und aufeinander zu beziehende Dinge vor. Genau das macht aber die Differenz aus. Es ist die Differenz des Ins-Werk-Setzens der Wahrheit.

Aus all diesen Gründen habe ich meine eigenen popkulturellen Studien weitgehend zurückgestellt, weil sie auf Dauer eben nicht erhellend, nicht kurz-, sondern langweilig sind, weil sie allenfalls als Etuden, als Fingerübungen eines kulturhermeneutisch Interessierten durchgehen können. Die abgebildeten Schuhe mit der Holy Bibel in der Mitte sind keine wirkliche Zumutung – so wie es die Blutkonserven auf dem Kunstwerk „Kreuzigung“ von Joseph Beuys aus dem Jahr 1962/63 in der Stuttgarter Staatsgalerie immer noch sind.

Das Skandalon, dass wir im 21. Jahrhundert als aufgeklärte Menschen und trotz des desolaten Zustandes unserer Kirche immer noch Theologie betreiben, dass wir unseren Leserinnen und Lesern zumuten, die religiöse Rede nicht für eine überholte und archaische zu halten, sondern mit guten Gründen für eine zukunftsfähige, dieses Skandalon muss auch zum Ausdruck kommen. Wenn wir uns mit Popkultur beschäftigen, dann müssen wir darin Sinn erschließen wie seinerzeit Martin Heidegger anhand des Gemäldes von Vincent van Gogh. Im Vergleich dazu klingt für mich die popkulturelle Theologie aber wie ein fernes Raunen aus einem anderen Jahrhundert. Wir sind mit der popkulturellen Theologie zu Amt und Ansehen gekommen und wir sind darüber alt geworden. Innovativ sind wir nicht mehr.

Best of … heißt der Untertitel des Buches und das ist vielleicht nicht schlecht. Suchet der Popkultur Bestes. Verstehen wir das als Summary, als Abschluss eines Intermezzos der protestantischen Theologie und wenden wir uns den wirklich wichtigen Dingen zu. Tragen wir Sorge, was tradiert werden soll, überführen wir die Populärkultur in die Hochkultur, benennen wir, was aus dem Ordo des Populären zukunftsfähig ist, was unser Leben trägt und voran bringt. Das ist unsere Aufgabe.

Abgewöhnt ward dem Denken von der Kultur, die es umstellt, die Frage, was all das sei und wozu – lax die nach seinem Sinn, die immer dringlicher wird, je weniger solcher Sinn den Menschen mehr selbstverständlich ist, und je vollständiger der Kulturbetrieb ihn ersetzt.
                                                
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/61/am297.htm
© Andreas Mertin, 2009