Cineastische Mystagogie

Eine Rezension

Andreas Mertin

Info Andreas MertinThomas Kroll hat mit seiner 2002 angenommenen und nun publizierten Dissertation eine der interessantesten Auseinandersetzungen mit dem Thema "Religion und Kino" vorgelegt, die ich seit längerem gelesen habe. Zwar ist die Literatur zum Thema "Kino und Religion" inzwischen unübersehbar und füllte viele Regale, aber was definitiv fehlt, ist eine auch biblisch fundierte Theorie. Viele Arbeiten zum Thema „Kino und Kirche“ bzw. „Kino und Religion“ gehen ja mehr oder weniger von einer Substitutionsthese aus, dass also an Stelle anderer Institutionen (und hier insbesondere der Religion bzw. der Kirche) nun das Kino getreten sei – zumindest in sinnorientierender Perspektive („Sinnmaschine Kino“[1]). Statt dessen kann und sollte man sich natürlich auch fragen, was das Christentum, was die Lehre Jesu mit dem Kino verbindet und wie das Kino als produktive theologische Herausforderung gelesen/gesehen werden kann. Genau das macht Kroll in seiner Arbeit.

Es ist eine im wahrsten Sinne schwergewichtige Arbeit, die Kroll vorlegt. Auf 710 Seiten nähert er sich dieser Herausforderung des Kinos für die Praktische Theologie. Und keinesfalls ist es so, wie man angesichts von Titel und Cover-Gestaltung vermuten könnte, dass er sich ausschließlich nur mit Wim Wenders Spielfilm „Der Himmel über Berlin“ beschäftigt. Lars von Trier findet mit seiner „Goldherz-Trilogie“ aber ebenso Berücksichtigung wie Tom Tykwers Arbeiten.

Den Untersuchungsgegenstand beschreibt der Klappentext des Buches so: „Das Kino ist gewiss kein Ort kirchlicher Katechese. Dennoch trifft man dort sowohl in Kassenschlagern wie 'Der Herr der Ringe' als auch in künstlerisch ambitionierten Filmen wie 'Andrej Rubkjow' auf  Spuren des Religiösen, ja Christlichen. Ferner erlebt man Filme, die wie die Gleichnisse Jesu – frei von Kerzen und Kreuzen, Kirchen und Kniebeugen – in der Lage sind, das Publikum im dunklen Andachtsraum an 'Orte' zu führen, die auf keiner Landkarte verzeichnet sind. Dann geschieht säkulare Mystagogie. Wim Wenders' Spielfilm 'Der Himmel über Berlin' ist ein ausgezeichnetes Beispiel.“

Neben einer Hinführung (Leben sammeln – als Theologe im Kino; 21-98) und einer Praktischen Perspektive zum Abschluss (Leben fördern – im Ringen um authentische Bilder und gelingendes Leben; 621-654) umfasst das Buch drei elementare Teile:

  1. Leben deuten – in Metaphern und Symbolen. Christliche Mystagogie in Geschichte und Gegenwart (99-260)
  2. Leben erhellen – in Bildern und Geschichten. Wim Wenders' Spielfilm 'Der Himmel über Berlin' (261-446)
  3. Leben erschließen – im Dialog. Gegenseitige Herausforderungen von Wenders' Fim(bildern) und Praktischer Theologie (447-620)

Leben: Sammeln - Deuten – Erhellen – Erschließen - Fördern, das sind also die durchaus sympathisch anmutenden leitenden Begriffe in der Untersuchung. Als Protestant erscheint mir natürlich der Begriff der „säkularen Mystagogie“ klärungsbedürftig und ich bin gespannt, was die Mystagogie zur Kulturhermeneutik beitragen kann.

Als Theologe im Kino ...

... ist die Hinführung überschrieben. Das impliziert schon einmal, dass man im Kino zwischen seiner theologischen Existenz und seinen anderen Identitäten im Rahmen der vorhandenen Patchworkidentität hinreichend präzise unterscheiden kann.[2] Wenn es mehr als ein akzidentieller Umstand sein soll, dass ich als Theologe ins Kino gehe, dann sollen offensichtlich die Erfahrungen und Einsichten, die ich als Theologe im Kino mache, von jenen absetzbar sein, die man am selbe Ort in einer anderen Funktion macht. Das ist keinesfalls selbstverständlich – vor allem wenn es um cineastische Erfahrungen geht. Warum sollte die cineastische Erfahrung eines Theologen beispielsweise von der eines Abteilungsleiters oder der eines Altertumsforschers differieren?[3]

In der Begegnung mit autonomer moderner Kunst würde ich vehement bestreiten, dass man als Theologe andere ästhetische Erfahrungen macht bzw. überhaupt machen kann als andere Menschen.[4] Die seit Hans-Jürgen Benedicts gleichnamigem Aufsatz aus dem Jahre 1992 verbreitete Formulierung vom Theologen, der ins Kino geht, war schon seinerzeit eigentlich ein Krisensymptom einer sich selbst gegenüber der Kultur weitgehend getthoisierenden Zunft, die sich ihre Modernität durch ostentativ modernen Kulturgenuss vergewissern wollte bzw. musste. Dass Theologen eben normalerweise nicht ins Kino gehen (und deshalb auch kaum über cineastische Kompetenz verfügen) ist die zugleich mit gesetzte Botschaft, wenn man explizit hervorhebt, nun gehe der Theologe einmal ins Kino. Aber was wäre der Ertrag meines Theologe-Seins in der Rezeption des Kinos und des Filmes? Als Theologe bringe ich allenfalls andere Lesarten mit ein, die aber gegenüber dem (Kunst-)Gegenstand selbst sekundär und ihm gegenüber in einer gewissen Weise sogar kontingent sind. Ich bin gespannt, wie Thomas Kroll dieses Problem gegenüber dem Kulturphänomen „Film“ lösen wird.

Es gehört zu den von mir immer beklagten Umständen, dass in der Diskussion über den Kinofilm zwar immer wieder vom Begriff der Kunst Gebrauch gemacht wird, dieser dann aber kaum zureichend bestimmt wird. Kunst hat hier immer noch die voraufklärerische Note entweder des besonderen Könnens oder der Gegenübersetzung zur Natur (also des Artifiziellen). Auch der Verweis auf Rudolf Arnheim[5], den Kroll an dieser Stelle einträgt, hilft hier nicht weiter, insofern der spezifische Kunstcharakter des Gegenstandes keineswegs hinreichend bestimmt ist. Aus der angeführten Reihe der Künste von Malerei, Bildhauerei, Musik, Literatur etc. fällt der Film jedenfalls erkennbar heraus. Ich vermute, dass eher Aisthesis als Ästhetik hier eine Rolle spielt, also der Kunstbegriff des Kinos wiederum eher ein populärkultureller ist.

Jörg Herrmanns Satz, den Kroll zustimmend zitiert, „als Kunstform kommt der Film nur im Kino voll zur Geltung“, wäre in der Kunstreflexion nicht zu ratifizieren, insofern er das Kunstwerk vom institutionellen Kontext abhängig macht und es damit gerade seines autonomen Charakters beraubt (ohne den Kunst in der Moderne nicht mehr beschrieben werden kann). Wir haben historisch an der Transformation des religiösen Tafelbildes in das ästhetische Museumsbild gesehen, dass derartige Festschreibungen eines institutionellen Kontextes für ein kulturelles Phänomen wenig hilfreich sind. Jedenfalls zeichnet sich auch für den Kinofilm ab, dass er zunehmend auch in anderen Kontexten wahrgenommen wird. Nebenbei bemerkt: Die wiederholte Rede von Film als der „siebten Kunst“ macht indirekt die Wunde deutlich, die Cineasten verspüren: Am liebsten als Kunst(liebhaber) angesehen zu werden ohne im Pantheon der Künste wirklich aufgenommen zu sein. Film ist allenfalls ein Stiefkind, um nicht zu sagen ein Bastard der Künste. Sinnvoller wäre es, sie weniger an der Kunst zu messen, sondern sie als eigenständigen Teil der Kultur zu würdigen - wie dies mit Kunstbastarden wie dem Design geschieht.

Auch Kroll spricht vom „Kunstfilm“ (ich hätte den Begriff „Programm-“ oder „Autorenfilm“ treffender gefunden), den er den Produkten des populären Kinos gegenüberstellt (22). Nun kann man sich auch fragen, ob postmodern derartige Absetzungen noch trennscharf sind. Ob Wim Wenders in Deutschland zumindest nicht längst schon Populärkultur ist – zumindest in dem Sinne, wie eben auch David Bowie für die Musikkultur trotz aller künstlerischen Referenzen Populärkultur ist.

Der „Erlebnisort Kino“ wird nun in seiner Dichte und besonderen Qualität beschrieben (25-31). Kroll zehrt dabei vom Enthusiasmus des ausgehenden 20. Jahrhunderts, das in den Cinemaxx und Multiplex-Kinos noch einen Aufbruch in eine neue Zeit des Kinos sah. Inzwischen dürften diese Hoffnungen einigermaßen enttäuscht worden sein. Die junge Generation nimmt den Film offenkundig anders wahr als noch die Generation der heute 40-60-Jährigen. Selbstverständlich ist und bleibt das Kino  trotz aller schwankenden Besucherzahlen eine, wenn nicht sogar die „Emotionsmaschine“ (26f.), ein Laboratorium über die „Macht der Gefühle“.[6] Vielleicht ist gerade hier seine höchste Aktualität und auch Ambiguität zu sehen. Dass die weltweit erfolgreichsten Fernsehserien zur Zeit das Kino genau an dieser Stelle imitieren (vgl. etwa die diversen Fernsehserien wie CSI Miami, CSI New York) spricht für sich. Das Kino als Spiegelkabinett (28f.) ist für mich dagegen eine schon eher ungewohnte Metapher. Meine Vermutung: entweder ist das trivial oder nicht wahr. Dass wir uns in kulturellen Artefakten spiegeln, ist selbstverständlich. Dass Spiegelkabinett dient aber primär gerade nicht der Selbstspiegelung des Betrachters, sondern dessen Beeindruckung durch Macht und Illusion und natürlich auch der lustvollen Täuschung. Dass das Kino ein Spiegel ist, ist dagegen unbestritten. „Das Kino als Kultort“ (32-54), als „kryptoreligiöses System“ (32) ist phänomenologisch plausibel, allerdings nur auf Kosten einer komplexen und differenzierten Bestimmung des Religiösen. Einige Funktionen, aber auch wirklich nur einige Funktionen des Religiösen werden vom Kino übernommen. Wer schwer an Krebs erkrankt ist, kann in einigen Kinofilmen Trost finden, aber er wird nicht, um in seiner Situation Trost zu finden, ins Kino gegen. Gerade in jenem Punkt, den Habermas einmal als die unaufgebbare Funktion der Religion beschrieben hat, nämlich die individuelle Tröstung, die ein Glutkern der Religion in der modernen Gesellschaft ist, ist das Kino nur bedingt tauglich. Wer jemals Menschen beim Sterben begleitet hat, weiß, dass das Kino in ihren Überlegungen keine Rolle mehr spielt, die Frage nach der Religion aber doch. Und selbst in der minimierten Bedeutungsebene des Andachtsraumes (37-50) kann man fragen, ob das Kino hier wirklich elementare(!) und nicht nur akzidentielle Funktionen des Religiösen erfüllt. Andächtig kann man vor Gott und Kaiser sein. Grundsätzlich lassen sich meines Erachtens zwei Deutungen unterscheiden: a) im Kontext des Kinos reaktivieren wir zumindest ab und an religiöse Fragen und Perspektiven – so wie wir auch ab und an im Kino über Politik, Gesellschaft, Ökologie oder Naturwissenschaft nachdenken; b) im Kontext des Kino geht es um genuin religiöse Fragen, die wir ohne das Kino nicht stellen würden, die also religionsgenerativ sind. Die bis dato genannten Fragestellungen sind aber alle traditionelle Fragen der Religion, die auch außerhalb des spezifischen Ortes Kino aufgegriffen und erörtert werden.

Im nächsten Schritt fragt Kroll, ein Zitat Kurt Martis aufgreifend, ob Gott sich vielleicht einige Regisseure hält. Gerade im Blick auf die ‚Altmeister’ Bunuel, Bresson, Bergmann, sowie Fellini und Tarkowskij hält Kroll diese Frage für gut beantwortbar. Er möchte jedoch den Versuch unternehmen, „zumindest ansatzhaft den Nachweis zu erbringen, dass Spuren Gottes bzw. Formen von Mystagogie auch im zeitgenössischen (Kunst-)Kino auszumachen sind“ (57). Zu diesem Zweck nimmt er Lars von Triers Goldherz-Trilogie (57-77) und das Werk Tom Tykwers (77-95) in den Blick.

Christliche Mystagogie …

War das Bisherige erst die HINFÜHRUNG zur Thematik, so beschäftigt sich der folgende ERSTE TEIL mit der „Christlichen Mystagogie in Geschichte und Gegenwart“ (99-260). Dazu setzt sich der Autor zunächst mit den Gleichnisreden Jesu auseinander – ein Ansatz den ich für die gesamte theologische Beschäftigung mit der Kultur für außerordentlich produktiv halte. Freilich ist mir dieser Abschnitt der Arbeit bei Kroll zu intentional, d.h. unter dem Gesichtspunkt der Vermittlung des Glaubens angelegt. Nach meinem eigenen Verständnis der Gleichnisse Jesu, das im Wesentlichen durch Wolfgang Harnisch geprägt wurde, hat Jesus „einfach“ nur ästhetisch zugespitzte Geschichten erzählt und ist davon ausgegangen, dass im Hören dieser Geschichten den Zuhörerinnen und Zuhörern ein Verständnis des Reiches Gottes einsichtig wird. Die Form ist also der Träger des theologischen Inhalts.[7] Kroll jedenfalls destilliert am Beispiel des Gleichnisses vom großzügigen Geldverleiher Grundzüge der Mystagogie Jesu: „Jesu Mystagogie will die Augen derer öffnen, die noch verschlossen für die Spuren des Heils in der Welt, die blind geblieben angesichts der neuen, durch Gottes neues Erwählungshandeln radikal veränderten Situation … Ausgangspunkt und Grundlage der Mystagogie Jesu ist das Erleben einer alltäglichen, bisweilen auch besonderen Situation.“ (159)

Nach den Gleichnisreden Jesu setzt sich Kroll dann analog mit den so genannten Jerusalemer Mystagogischen Katechesen des Cyrill von Jerusalem auseinander. „Ziel der ‚Mystagogischen Katechesen’ ist die Vertiefung der Initiation in das Mysterium Jesu Christi, die Einführung in das Geheimnis Gottes, das in und hinter den liturgischen Vorgängen der Osternacht aufscheint, Heil und Erlösung ermöglicht“ (200).

Der dritte Abschnitt des ersten Teils setzt sich schließlich mit Karl Rahners Ruf nach einer neuen Mystagogie und seinen Folgen auseinander. Es geht um die „Einführung oder Einweisung des Christen sowie jedes suchenden Menschen in die lebendige Erfahrung Gottes“ (Rahner). Das ist sicher für die theologische Annäherung an Alltagsphänomene wie kulturelle Phänomene bedeutsam. Kroll skizziert Rahners Ansatz und stellt darüber hinaus neuere Ansätze von Mystagogie vor, die unter Bezug auf Rahners Arbeiten zur Mystagogie entstanden sind.

Der Himmel über Berlin

Der ZWEITE TEIL wendet sich dann unter der Überschrift „Leben erhellen – in Bildern und Geschichten“ Wim Wenders Schaffen und insbesondere dem „Himmel über Berlin“ zu. Dazu ordnet Kroll das Werk filmhistorisch ein (265-284), geht auf das Verhältnis Wenders zu Peter Handke ein (285-315), beschreibt die Entstehungsgeschichte des Films (316-360), schildert Inhalt und Erzählkonzept des Films (361-392), setzt sich mit der Dramaturgie auseinander (393-407) und greift schließlich zwei zentrale Themen des Films heraus: die Stadt und der Engel (408-433). Der letzte Abschnitt dieses zweiten Teils geht den Folgewirkungen des Films nach (434-446).

An diese Stelle kann ich die immerhin fast 200 Seiten umfassende Darstellung nicht referieren und belasse es beim groben indexalischen Überblick bzw. dem Hinweis auf die notwendige Lektüre durch den Leser.

Gegenseitige Herausforderungen

Der DRITTE TEIL unter dem Titel „Leben erschließen – im Dialog. Gegenseitige Herausforderungen von Wenders' Fim(bildern) und Praktischer Theologie“. Die dabei erörterten Fragen sind u.a.. Was bedeutet der gerade erschlossene Film für Homiletiker (unter Bezug auf den Homiletiker Jan Besemer)? Was lässt sich ihm für Katecheten entnehmen (unter Bezug auf den Katecheten Tjeu van Berk)? Das sind überaus praktische pastoraltheologische Fragen, die Kroll mit Verweis auf die beiden Theologen aufgreift. Im zweiten Abschnitt zur grundsätzlichen Herausforderung des Films für die Praktische Theologie (463ff.). Die entscheidende Frage lautet: „Wie soll die Praktische Theologie die oben angeführten Quellen aus dem Bereich der Kunst erschließen, wie kann sie sie in ihre Reflexionen und Theoriebildungen miteinbeziehen? Welcher Status ist derartigen Ressourcen an verdichtetem Lebenswissen in praktisch-theologischer Theoriebildung zuzumessen? Wie ist, insbesondere im Hinblick auf das Medium Film, die Relation zwischen der Ästhetik christlichen Glaubens und der Ästhetik der (siebten) Kunst zu bestimmen, wie gar das Verhältnis zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung, zwischen theologischer und ästhetischer Reflexion?“ (465)

Hier referiert Kroll nicht zuletzt die einschlägigen Positionen von Hermann Steinkamp, Karl-Josef Kuschel, Albrecht Grözinger und Walter Fürst. Auch das müsste man genauer erörtern, als es an dieser Stelle möglich ist. Leider übernimmt Kroll an dieser Stelle z.B. zu schnell Urteile von Kuschel über Karl Barth, die einer genaueren Prüfung meines Erachtens nicht standhalten. Nur wenn man – was diskurstheoretisch ziemlich problematisch ist – von der Kunst theologische Wahrheiten erwartet oder erhofft, dann sind Kuschels Einwände treffend. Erwartet man von der Kunst aber ihre eigenen, d.h. ästhetische Wahrheiten, dann gehen die Einwände klar an der Sache vorbei. Insofern achtet gerade der dialektisch-theologische Ansatz die Autonomie der Kunst. Kuschels Modell der strukturellen Analoge hat dann auch mehr Verwandtschaft mit Barths Lichterlehre, als er denkt.

Die bisherigen Darstellungen aufgreifend, fasst Kroll die Gründe zusammen, warum die Filmkunst zum kritischen und gewinnbringenden Dialogpartner der Theologie werden könnte:

  1. „Das Interesse an Kino und Film auf Seiten Praktischer Theologie resultiert aus der Entdeckung, dass in der Filmkunst das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft in ihrer Zeit phantasievoller, exakter, geistreicher, mitunter auch reflexiver und vor allem publikumswirksamer präsentiert wird als in (theologischen) Abhandlungen. …
  2. Das Interesse an Kino und Film auf Seiten Praktischer Theologie resultiert ferner aus der zunehmenden Gewissheit, dass Begegnungen zwischen Filmen auf der einen und (Praktischer) Theologie auf der anderen Seite für letztere ‚eine beachtliche Zufuhr an Lebenswirklichkeit’ (R. Zwick) mit sich bringen (können). Werner Schneider, Filmbeauftragter der EKD, fasst diese Überzeugung in folgende These: ‚Wenn Kirche etwas über die Sehnsüchte und die Träume, die Ängste und die Freiheit des modernen Menschen erfahren will, muss sie ins Kino gehen.’ …
  3. Das Interesse an Kino und Film auf Seiten Praktischer Theologie resultiert schließlich aus der Erfahrung, dass sich das Kino als Raum intensiver Rezeptionsmöglichkeiten, als ‚Schule’ des Sehens, mehr noch: als ‚Schule’ der Wahrnehmung erweist, wobei letztere sowohl als rezeptive als auch als schöpferisch-produktive Kraft aufzufassen ist, der Kritikfähigkeit nicht abgesprochen werden kann.“ (486f.)

Das exemplifiziert Kroll im Folgenden im Blick auf „Der Himmel über Berlin“ anhand ausgewählter Begegnungsfelder. Im letzten Teil beschreibt Kroll dann noch einmal drei unterschiedliche Grundtypen von Mystagogie: die Christliche Mystagogie, die religiöse Mystagogie (als das Bemühen, „sich selbst oder einem anderen eine möglichst deutliche und reflexiv ergriffene religiöse Erfahrung zu vermitteln, eine Erfahrung des fascinosum und tremendum“) und schließlich die säkulare Mystagogie: „Unter säkularer Mystagogie ist diejenige (Weise der) Einführung in das Geheimnis der Welt zu verstehen, die nicht oder nur unwesentlich auf christliche oder religiöse Symbole zurückgreift und in der Folge auch auf entsprechende Worte und Begriffe verzichtet“ (596).

Krolls zusammenfassende abschließende positive Definition lautet:

„Säkulare Mystagogie ist die außerhalb des herkömmlich als religiös oder auch christlich bezeichneten Kontextes sich ereignende, bisweilen Erfahrungen des fascinosum et tremendum auslösende, (Schlüssel-)Erlebnisse der Beseligung, des Trostes und der Bestürzung mit sich bringende, möglicherweise Sehnsucht und Schmerz verdichtende und verdeutlichende, mitunter Phasen der Mystik und der Kontemplation gewährende Hinführung zum absoluten und heiligen Geheimnis der Welt, die sich insbesondere beim Betrachten bestimmter Filme, Skulpturen und Bilder, beim Vernehmen ausgewählter Musik, beim Hören oder Lesen spezifischer Texte unverhofft ereignen kann und dadurch denjenigen, die sie unter dieser Rücksicht erfasst, auch dazu befähigt, Leben und Alltag anders wahrzunehmen, sensibel zu werden für dessen Unterbrechungen, Schwellen und Passagen, für das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen, Wodurch ‚die Selbstverständlichkeit des Alltags als fraglich erlebt und die Ahnung der Möglichkeit des Ganz Anderen wach wird.’ (H. Luther)“ Diese fast 1000 Zeichen umfassende Definition in einem Satz macht die Schwierigkeiten deutlich, säkulare Mystagogie zu umschreiben und präzise von religiöser und christlicher Mystagogie abzugrenzen. Meines Erachtens ist das auch nicht überzeugend gelungen. Erfahrungen, die so beschrieben werden wie in dieser Definition würde ich persönlich klar als religiöse bezeichnen, da ich weder die christliche noch die religiöse Mystagogie an Symbolwelten im engeren Sinne oder spezifische Kontexte geknüpft sehe.

Kroll zeigt im Folgenden, wie konkret und praktisch und unter welchen Voraussetzungen eine derartig definierte und verstandene säkulare Mystagogie im Kino zu Stande kommt und produktiv werden kann.

Als Addendum schließt das Buch mit dem Vorschlag von Filmexerzitien als einer Möglichkeit eines „strukturiert-offenen Prozesses im Hinblick auf die Begegnung von säkularer und christlicher Mystagogie“.

Fazit

Thomas Krolls theologische Studie über Wim Wenders’ Spielfilm „Der Himmel über Berlin“ als Beispiel für eine säkulare Mystagogie zieht einen spannenden Bogen von der Gleichniserzählung Jesu über die frühkirchliche Mytagogie bis zur Theologie des 20. Jahrhunderts, um diese für die Begegnung mit dem Kino als einem möglichen Ort säkularer Mystagogie zu öffnen. Wenn denn die Hinführung zum Geheimnis der Welt das Ziel ist, dann überzeugt Krolls Studie in der Sache. Wenn aber – wie Thomas Erne in der Auseinandersetzung mit der Bildenden Kunst gezeigt hat – die ästhetische Erfahrung ein Ferment religiöser Erfahrung ist, dann wären alle und nicht nur bestimmte kulturelle Artefakte religiös von zentralem Interesse. Dann würde sich die Zahl der in den Blick zu nehmenden Filme nicht reduzieren, sondern schlagartig erweitern. Materialiter hätte ich mehr etwas weniger referierte Stofffülle gewünscht. 1½ Jahre lag das Buch mit seinen über 700 Seiten auf meinem Schreibtisch und hat mich immer wieder zur kursorischen, aber nicht zur stringenten Lektüre genötigt.

Anmerkungen

[1]    Vgl. Jörg Herrmann, Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film. Gütersloh 2004

[2]    Vgl. grundsätzlich Verf., Annäherungen. Zum theologischen Umgang mit Kinowelten. tà katoptrizómena, Magazin für Theologie und Ästhetik Heft 3, https://www.theomag.de/03/am11.htm

[3]   Ich frage mich, ob es wohl auch Besinnungen im Stil von „Als Abteilungsleiter in der Kirche“ gibt?

[4]   Ohne näher darauf einzugehen, eröffnet sich hier ein Problem der Differenzierung von Theologen und Laien, das noch intensiver diskutiert werden müsste. Was auf jeden Fall vermieden werden müsste, wäre die Konnotation, dass „Theologen“ eine andere Nähe zur Religion haben als andere Christen. 

[5]    R. Arnheim, Film als Kunst, Frankfurt 1988

[6]   Alexander Kluge, Die Macht der Gefühle, Frankfurt 1984

[7]   Was natürlich die seinerzeit auch zu Recht gestellte Frage an Harnisch aufwirft, was den ein Gleichnis von Kafka von einem Gleichnis Jesu unterscheidet. Aber um genau diese Frage geht es ja auch in der Arbeit von Kroll.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/61/am266.htm
© Andreas Mertin 2008