Judith oder: Wie durch Subjektivität Gerechtigkeit entsteht

Ein Blick in die Kunst der Aneignung und Darstellung von Gewalt

Andreas Mertin

Judith als Projektionsmedium

„Wissen Sie selber irgend etwas über Judith, außer, dass sie Holofernes den Kopf abschlug; und dass sie zum Highlight nahezu einer Million nichtswürdiger oder schamloser Bilder seitdem gemacht wurde, in denen die Maler dachten, sicherlich das Publikum anziehen zu können durch die doppelte Zurschaustellung einer Hinrichtung und einer hübschen Frau – insbesondere mit dem zusätzlichen Vergnügen auf eine vorausgegangene gemeine Sünde anzuspielen?“[1]

Diese Frage stellt der Kunsthistoriker und Maler John Ruskin in seiner 1875 erschienenen Schrift „Sechs Morgen in Florenz. Einfache Studien christlicher Kunst für Reisende“ seinen Lesern und sie ist auch 134 Jahre später von bleibender Aktualität. Wenn wir etwas über die biblische Judith wissen, dann eher über die Medien, sprich das Theater, die Literatur, vor allem aber die Bildende Kunst, als durch die Lektüre der biblischen Schrift.[2] Judith ist ein visueller Mythos, eine Projektionsfläche der jeweiligen Zeit.

Man kann am Beispiel der Darstellung von Judith und Holofernes eher etwas über das Verhältnis von Humilitas und Continentia einerseits und Superbia und Luxuria andererseits lernen, als über die zugrunde liegende biblische Geschichte. Die visuelle Aneignung macht darüber hinaus Bezüge möglich, die überraschend sind, etwa wenn Holofernes visuell als Präfiguration von Christus dargestellt wird.

Vor allem aber ermöglicht die Darstellung der Judith und des Holofernes Projektionen: sei es die rein physische Rekonstruktion eines enthaupteten Körpers, sei es die weibliche Heldin, sei es der nackte Körper der Frau, sei es die Spiegelung der eigenen Biographie.

Judith-Holofernes – ein populärkultureller Hinweis

Bis zum Jahr 2000 konnte man davon ausgehen, dass bei der Nennung der Worte „Judith und Holofernes“ wenn überhaupt jemand, dann nur die Gebildeten und religiös Sozialisierten damit die biblische Erzählung assoziieren würden. Die Geschichte von Judith und Holofernes gehört nicht zum schulischen Lehrstoff des Faches Religion. Und selbst wenn, dann wäre es angesichts des zu beobachtenden Traditionsabruchs wenig wahrscheinlich, dass die Erzählung für das Selbstverständnis der Jugendlichen eine Rolle spielen könnte.

Seit dem Jahr 2000 hat sich das etwas geändert, und zwar seitdem die Leadsängerin der Band „Wir sind Helden“ sich den Künstlernamen „Judith Holofernes“ gab. Seitdem dominiert der populärkulturelle Bezug auf die Band und die Sängerin die Bedeutsamkeit der Wortkombination. Wer im korpuslinguistischen Wortschatz der Universität Leipzig das Wort Holofernes eingibt, wird nahezu ausschließlich auf die Band verwiesen. Auf der anderen Seite wird die Sängerin nicht müde, auf die biblische Geschichte als Bezugspunkt ihres Namens hinzuweisen. Wenn also im medialen Bewusstsein der Bundesrepublik Deutschland die Geschichte von Judith und Holofernes eine Rolle spielt, verdanken wir dies im 21. Jahrhundert weniger der kirchlichen und theologischen Vermittlung, als vielmehr einer populärkulturellen Eskapade.

Dieses kleine Beispiel macht deutlich, dass die Wahrnehmung einer biblischen Erzählung immer auch in kulturellen Kontexten geschieht. Die Rezeption der Judith-und-Holofernes-Gruppe von Donatello im Gegenüber zur David-Figur des Michelangelo im 15. Jahrhundert zeigt dies ebenso, wie das jüngste populärkulturelle Beispiel.

Kopflos – Oder: Judith und Holofernes in der Kunst

Die Visualisierung einer Enthauptung unterliegt im Rahmen der abendländischen Kulturgeschichte einer wechselhaften Dynamik. Die Selbstverständlichkeit mit der wir heute gegen die Zumutung eines Videos protestieren, in dem die barbarische Enthauptung des Amerikaners Nick Berg durch Terroristen dokumentiert wird, ist erst sehr späten Datums.[3] Öffentliche Hinrichtungen waren immer auch ein populärkulturelles Ereignis. Und in Spielfilmen ist die serienmäßige Enthauptung von Gegnern spätestens seit dem Highlander-Zyklus wieder gang und gäbe und Teil jugendlicher Abendunterhaltung. Es ist also nicht so, dass wir uns in der Gegenwart von jener Visualisierung des Schreckens, wie wir sie nun anhand der kunsthistorischen Judith-und-Holofernes-Thematik bearbeiten werden, weit entfernt hätten.

Zur Kunstgeschichte[4]: Motive mit Judith und Holofernes tauchen bereits relativ früh in der christlichen Kunstgeschichte auf, es gibt Hinweise auf Mosaiken im 5. Jahrhundert. Die älteste erhaltene Darstellung stammt aus der Zeit vom Ende des 7. Jahrhunderts aus einer Kirche im Forum Romanum. Später sind es dann die illustrierten mittelalterlichen Handschriften, auf denen das Motiv erscheint. Die am häufigsten dargestellte Szene ist die Köpfung des Holofernes.[5] In der Buchmalerei trieft es freilich auch sonst vor Blut, da hier die Heiligenlegenden eine bedeutsame Rolle spielen.[6]

In den mittelalterlichen Handschriften entwickelt sich auch jener Bildtyp, bei der der gute Sieger über dem besiegten Bösen steht: Judith triumphiert so als Vertreterin der Demut und Sanftmut über Holofernes als Repräsentant von Hochmut und Wollust, indem sie den Fuß aus seinen abgetrennten Kopf stellt. Und im Speculum humanae salvationis wird ein Bildtyp entwickelt, der Maria als Siegerin über den Teufel unmittelbar mit Judith als Siegerin über Holofernes parallelisiert.

In der Renaissance wird dann daran anschließend die heroische Judith populär. Donatello greift das aus der Buchmalerei bekannte Schema auf. Bei seiner 1455 für die Medici geschaffenen Bronzegruppe schwingt Judith triumphierend das Schwert über dem schon getöteten Holofernes. „Donatello gestaltet in Form der ersten freistehenden Skulpturengruppe seit der Antike den krassen Gegensatz zwischen einer zarten Frauengestalt, mit verhülltem Haar und gekleidet in weite Gewänder, Sinnbild der christlichen Kardinaltugend der Demut, die das Laster des Hochmutes und des Stolzes, personifiziert durch den in heidnischer Nacktheit gezeigten Holofernes, überwindet.“[7]

Nach 1510 wird Judith zum Thema der Aktdarstellungen. Im Barock finden wir dann wieder vermehrt Darstellungen, die Judith als Präfiguration neutestamentlichen Geschehens interpretieren und darstellen. Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert kommt dann noch einmal sehr stark das Thema der verführerischen und daher die Männer gefährdenden Judith in der Kunst auf, bevor die gesamte Thematik aus der freien Kunst verschwindet und sich in die Randbereiche so genannter kirchlicher Kunst zurückzieht.

Systematisierung

Versucht man die Darstellungen zu systematisieren, so kann man vielleicht von vier oder fünf Arten der Annäherung sprechen. Da ist zum einen die Sensationslust verbunden mit anatomischer Neugier, zum zweiten die Heroisierung, zum dritten die Typologisierung, zum vierten die Sexualisierung und schließlich die subjektive Aneignung.[8]

Sensationslust und Neugier

Blut und Gewalt haben nicht nur im 20. Jahrhundert das Interesse der Menschen geweckt, sondern gehörten zur Würze bestimmter Erzählungen. Nur so sind manche christlichen Heiligenlegenden zu erklären. Und auch im Fall der Geschichte von Judith und Holofernes können wir derartiges beobachten.

Beispiel: York-Psaler 1170

Eine der frühesten Darstellungen stammt aus dem so genannten York-Psalter aus der Zeit um 1170. Dabei ist es die Darstellung des geköpften Holofernes, die sofort ins Auge sticht. Offenkundig hat sich der Illustrator Gedanken gemacht, wie eigentlich der Halsquerschnitt eines Menschen aussieht, dem gerade der Kopf abgeschlagen wurde. Und das war ihm so wichtig, dass er es in das Bild eingetragen hat.[9] Und so blicken wir auf eine Art Quadrat aus Knochen, Muskeln und Gewebe, aus dem das Blut strömt.

Beispiel: Lukas Cranach 1530

Ein ähnliches Interesse scheint auch Martin Luthers Freund Lukas Cranach 1530 motiviert zu haben, als er der Judith den abgeschlagenen Kopf des Holofernes mit liebevoll gemalten anatomischen Details in die Hand drückte, die darauf schließen lassen, dass ihm die Anatomie nicht unbekannt war.

Beispiel: Mattia Preti 1660

Und auch der Barockmaler Mattia Preti ist nicht frei von sensualistischer Neugier, als er sein Augenmerk auf den abgetrennten Rumpf des Holofernes richtet. Bei all diesen sensualistischen Bildern ist aber zugleich auch jene Perspektive mit gesetzt, die das Leid des Opfers nicht verschweigt, weil sie es vor Augen führt.

Heroisierung

Das ist bei der Darstellung der heroischen Judith nicht der Fall, hier geht es nicht um die Gewalt, sondern um die wie auch immer gerechtfertigte (politische) Gewalt.

Beispiel: Donatello 1455

Das schon erwähnte Paradebeispiel ist Donatellos Judith in Florenz, ursprünglich von den Medici aufgestellt mit der Inschrift „Königreiche stürzen durch Unzucht, durch Tugenden steigen die Städte: Siehe, der Hoffart Haupt fällt von der Demut Hand.“[10] Die Medici sahen sich in der Tradition der Judith, denn wie diese sahen sie sich als demütige Diener Gottes. Als die Florentiner dann die Skulptur öffentlich platzierten lautete ihre Inschrift: „Dieses Beispiel der Rettung stellten die Bürger auf.“[11]

Gegen die allegorische Lesart der Medici, in deren Palast die Statue übrigens den Frauensaal schmückte, während im Männersaal Donatellos David und Goliath stand, setzten die Florentiner auf den sozialgeschichtlichen Teil der Erzählung: Wie Holofernes sind die Medici nichts als überhebliche Trunkenbolde, denen man besser den Kopf abschlägt. So wird Donatellos Judith zum Sinnbild der Abwehr tyrannischer Herrschaftsansprüche, nicht nur in biblischen Zeiten, sondern auch in der Gegenwart.

Beispiel: August Riedel 1840

Wie sich das Bürgertum im 19. Jahrhundert eine heroische Judith vorstellte, kann man an diesem Gemälde von August Riedel aus dem Jahr 1840 sehen. Judith hat mit dem Kopf des Holofernes das gesamte Geschehen schon weit hinter sich gelassen und präsentiert sich nun (fast wie in einem Photostudio) als Heldin nach der  Schlacht(ung).

Typologisierung

Bereits im Neuen Testament angelegt ist die Typologisierung, bei der Geschichten aus der hebräischen Bibel, aber auch anderen Quellen als Präfigurationen gedeutet werden. Ein guter Teil der populären christlichen Literatur seit der Frühzeit des Christentums besteht aus solchen Verknüpfungen. Und auch bei eben gesehenen Skulptur von Donatello sind die typlogischen Elemente ja nicht zu übersehen.

Beispiel: Heilsspiegel 1455

Die Bilderfolge stammt aus einem flandrischen Heilsspiegel aus dem Jahr 1455, der wiederum auf das Speculum humanae salvationis[12] vom Beginn des 14. Jahrhunderts Bezug nimmt. Dieser Heilsspiegel zeigt zweiundvierzig Tafeln, bei denen jeweils eine farbige Szene aus dem Neuen Testament drei Szenen in Grisaille-Technik gegenübergestellt ist. Die drei Bilder rechts werden durch ihre Tongebung als inferiore Geschehnisse charakterisiert, die auf das linke Bild hinführen. Wenn wir uns die drei Grisaillebilder anschauen, so sehen wir drei Frauen beim Töten eines Mannes, genauer: beim Blutvergießen. Wir sehen wie Judith Holofernes mit dem Schwert tötet, daneben wie Jael Sisera mit dem Zeltpflock tötet und schließlich wie Tomyris den Perserkönig Cyrus tötet.  Ich vermute, dass die dieser Typologisierung zugrunde liegende Fragestellung lautet: Wieso kann Vernichtung respektive Tötung etwas Gutes sein? Zugleich wird Maria in die Reihe der Heldinnen der Vorzeit eingeordnet und hervorgehoben.

Sexualisierung

Bis in die jüngste Gegenwart hat die Sexualisierung der Geschichte von Judith und Holofernes ihre ungebrochene Tradition wie man an manchen populärkulturellen Darstellungen von Judith-Holofernes sieht.[13]

Von sexuellen Männerphantasien nicht ganz frei ist auch die Darstellung der Judith bei der EKD. Denn was soll man von folgender Beschreibung halten, die ich auf den EKD-Seiten fand? Dort gibt es eine Textreihe zu verschiedenen biblischen Paaren, wozu unter anderem auch Judith und Holofernes gehören. Darin wird die Geschichte erzählt und Judiths Leistung als Retterin gewürdigt. So weit, so gut. Dann aber endet dieser Text so:

Geschickt und gezielt setzt sie dabei ihre erotische Ausstrahlung ein, ein Mittel zum Zweck. Künstlerische Darstellungen wie die des Franz von Stuck spielen denn auch auf die Gefahr an, die in der Sinnlichkeit des Weiblichen schlummert und von der jener verführerische Reiz ausgeht, dem Männer wie Holofernes blind und arglos erliegen.“[14]

Da dieser Text zuerst in einer Zeitschrift für junge Soldaten erschienen ist, mag man an truppentherapeutische Zwecke gedacht haben (Holofernes ist ja Feldherr), inhaltlich bleibt er aber ein Skandal.

Offenkundig können sich einige in der Evangelischen Kirche ganz gut in Franz von Stuck hineinversetzen, der doch nur am Ende einer langen Reihe sexistischer Darstellungen der Judith in der Kunstgeschichte steht. Die frühesten Nachweise derartiger Bilder finden wir im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts, also in der Folge der Entdeckung des menschlichen Körpers durch die Renaissance.

Beispiel: Conrad Meit 1512-24

Ein klassisches Beispiel für die sexistische Transformation des Themas ist diese 30 cm große Skulptur der Judith aus Alabaster von Conrad Meit,[15] die in die Zeit  zwischen 1512 und 1514 datiert wird, und von der man sich sofort fragt, was sie eigentlich noch mit der biblischen Erzählung zu tun hat. Aber vermutlich ging es auch damals nur darum „auf die Gefahr an[zuspielen], die in der Sinnlichkeit des Weiblichen schlummert und von der jener verführerische Reiz ausgeht, dem Männer wie Holofernes blind und arglos erliegen.“

Conrad Meits Kunst ist aber schon keine religiöse Kunst im Sinne der Spätgotik mehr, denn diese Statue hätte sicher nicht in einer Kirche Platz gefunden, sondern eher der fürstlichen Kunst zuzuordnen, was die betonte Körperlichkeit des nackten Körpers erklären würde.




Beispiel: Hans Sebald Beham 1531

Nehmen wir aus der Reihe der weiteren Beispiele dieses Typs[16] einen Kupferstich aus dem Jahr 1531. Er stammt van Hans Sebald Beham, einem Gesellen aus der Werkstatt Albrecht Dürers, der sich später zunächst den Täufern anschloss und zur Zeit der Erstellung dieses Bildes für Kardinal Albrecht von Mainz arbeitete.

Offenkundig hat Beham bzw. sein Auftraggeber wenig Interesse an der Darstellung der Situation, wie sie sich aus der Bibel ergibt, dafür aber um so mehr Interesse am weiblichen Körper. Um die Judith so darstellen zu können, muss man den biblischen Text schon mit einem spezifischen Interesse lesen. Von einer „Anspielung“ auf eine vorausgegangene gemeine Sünde wie Ruskin schrieb kann ja hier keine Rede mehr sein.

Noch bemerkenswerter als dieses Bild ist ein anderes desselben Künstlers, welches die nackte Judith mit dem Kopf des Holofernes an der Seite und einem phallischen Schwert in der Hand zeigt und das nun gar keinen Bezug zum eigentlichen Thema zu haben scheint.

Das Motiv wird nur dann entschlüsselbar, wenn man es mit dem (konkurrierenden) Motiv in Beziehung setzt, bei dem David ähnlich über den Kopf des Goliath meditiert.


Beispiel: Femme fatale oder: Klimt & Stuck 1901ff.

Wie bereits erwähnt, tritt Judith noch einmal Anfang des 20. Jahrhunderts in den Blickpunkt der Malerei und hier vor allem unter dem Aspekt der Femme fatale.


Verdeutlichen kann man das am Bild von Gustav Klimt (oben links). Bettina Uppenkamp schreibt dazu:

Auf dem Gemälde von Klimt ist das Haupt des Holofernes an den Bildrand gedrängt und vom Rahmen abgeschnitten. Die Geste der Judith wirkt darüber hinaus so, als sei sie im Begriff ihn völlig aus dem Bild zu schieben. Das Gewand dieser Judith, soweit noch von einem Gewand zu sprechen ist, besteht aus ornamentierten oder abstrahierten Naturformen, Pflanzen und Wasser, in die der nackte Körper selbst als Ornament sich einfügt. … Klimts Judith führt auch gar kein Schwert mehr, braucht kein Schwert, weil sie als Frau „von Natur“ tödlich scheint. Dies ist wohl einer der Gründe dafür, dass die Gestalt als Salome, Prima donna der Femmes fatales der Jahrhundertwende, missverstanden wurde … Die Fehldeutung ist bezeichnend, da der Unterschied zwischen Hure und Heldin dort belanglos geworden ist, wo die Frau nicht gemäß ihrer oder gegen ihre Natur oder die gesellschaftliche Norm agiert, sondern selbst als Zeichen für Natur als dem bedrohlich-fremden, dem schlechthin anderen entworfen wird, die im Bild gebannt durch die künstlerische Stilisierung als ein Anblick in Erscheinung tritt, der gerade durch diese Dämonisierung die Größe der künstlerischen Potenz behauptet. In diesen Bildern geht es nicht mehr um Religion, Moral oder Politik. In den schillernden, hochartifiziellen Bildern der Femme fatale wird der Konflikt um die Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern still gestellt im Mythos eines natürlich gegebenen, archetypischen und damit unauflöslichen Antagonismus, der in der Männerphantasie einer gefährlichen fremdartigen und hermetischen Weiblichkeit repräsentiert und damit beherrschbar wird. Diese Herrschaft über das Weibliche in der künstlerischen Repräsentation aber kann sich den Anblick einer beschädigten Männlichkeit kaum leisten.“[17]

Subjektive Aneignung

Ich komme nun zu der von mir so genannten „subjektiven Aneignung“ der Judith-und-Holofernes-Geschichte. Eine subjektive Aneignung liegt natürlich bei nahezu allen Kunstwerken vor, die sich mit der Erzählung beschäftigen, denn die künstlerische Annäherung ist ja immer auch subjektive Deutung. Subjektive Aneignung ist es, wenn Lukas Cranach die Judith als Hoffräulein malt oder ein Künstler das Ganze als orientalische Genreszene malt. Worum es mir aber bei den folgenden Arbeiten geht, ist die im Bild selbst zum Ausdruck kommende Form der persönlichen Betroffenheit.

Ausgewählt für diese Art der Aneignung habe ich Arbeiten eines Künstlers und einer Künstlerin: der eine identifiziert sich mit Holofernes, die andere mit Judith. Beide lesen die biblische Geschichte auf ihre Weise subjektiv. Die Werke stammen alle etwa aus der selben Zeit, nämlich aus dem zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts. Bevor ich das jedoch im Einzelnen zeige, muss ich aus kunstgeschichtlichen Gründen eine Zwischenstation einlegen, das Werk eines Künstlers, der mit seiner Form der Lichtführung und Dramatisierung viele andere Künstler nach ihm beeinflusst hat.

Beispiel: Caravaggio 1598

Auf dem Bild betritt Judith das Zelt mit ihrer Magd von rechts, gegen die genuine Leserichtung des Bildes. Holofernes liegt nackt auf einem weißen Laken, sein Bett ist von einem roten Vorhang umgeben. Es ist das erste Mal, dass Caravaggio ein derartig hochdramatisches Geschehen darstellt. Der Künstler ist jetzt 27 Jahre alt und gerade erst am Anfang seiner künstlerischen Karriere. Sein Thema lautet: die Tugend besiegt das Böse.

Das Bild teilt sich auf in zwei Bereiche, die nach dem Prinzip des Goldenen Schnitts[18] gebildet sind, wobei der rote Stoff sehr gut den größeren Abschnitt des Bildes markiert. Auffällig der nahezu schwarze Bildhintergrund, der für Caravaggio und die von ihm beeinflussten Künstlerinnen und Künstler charakteristisch wird, der das Geschehen im Vordergrund um so besser wahrnehmen lässt. Vermutlich hat Caravaggio für die handelnden Figuren Modelle aus dem Volk genommen.

Schaut man sich die beiden zentralen Akteure genauer an, dann kann man folgendes beobachten: Auf der rechten Seite grell beleuchtet die fast schon distanziert zu nennende Judith in eleganter Kleidung. Sie ist durch die Beleuchtung stark hervorgehoben. Ursprünglich war sie barbusig, so als wenn sie gerade das Bett des Holofernes verlassen hätte, in der jetzigen Form ist ihre Brust halbtransparent bedeckt, was besser zur Thematik der siegreichen Tugend passt. Ihr Gesichtsausdruck ist abwehrend bis angeekelt. Auf der linken Seite sieht man den hochdramatischen Todeskampf des Holofernes, genauer: den Moment seines Todes. Seine linke Hand hat sich im Todeskampf im Bettlaken festgekrallt, der Mund ist weit aufgerissen, die Augen blicken schon ins Leere. Bis zu diesem Bild gab es keine Bilder, die das Geschehen so dramatisch präsentiert haben, wie hier, so dass man meint, unmittelbar Zeuge der Enthauptung zu sein.

Beispiel: Christofano Allori 1613

Mein erstes direktes Beispiel für die subjektive Aneignung der biblischen Geschichte im Medium der Malerei ist die Darstellung der Judith von Christofano Allori. 

Auf diesem Bild sind alle Personen quasi doppelt codiert. Denn neben der Darstellung der Judith mit dem Kopf des Holofernes und der sie begleitenden Magd haben wir – wenn die kunstgeschichtlichen Überlieferungen zutreffen – auch noch Darstellungen des Künstlers selber, seiner Geliebten Mazzafirra und deren Mutter vor uns.

Barbara Schmitz schreibt dazu: In seinen zwischen 1681 und 1728 nach und nach publizierten Notizen „schildert Filippo Baldinucci das Leben Florentiner Künstler … und berichtet von der Juditdarstellung Alloris: „Er zeichnete nach dem lebendigen Modell nach ihrem Antlitz das Bildnis der Mazzafirra … und stellte sich selbst in jenem Bild als Holofernes dar; das Gesicht der Alten, das hinter der Gestalt Judits zu sehen und mit dem schönen weißen Tuch geschmückt ist, soll nach der Mutter derselben Mazzafirra nach dem lebenden Modell gemalt sein.“ … Die schöne La Mazzafirra war also die Geliebte Alloris, die ihn auf Drängen ihrer Mutter verlassen haben soll …

Allori hat sich selbst mit dem Mann Holofernes als dem willenlosen Opfer der verführerischen und grausamen Geliebten identifiziert. So wird der Täter und Tyrann Holofernes, losgelöst vom erzählerischen Kontext, zum (sexuellen) Opfer einer Frau. Ihm gilt nun die Sympathie der Betrachtenden. Interessanterweise wurde kein anderes Judit-Gemälde häufiger kopiert als Alloris persönliche Interpretation der Juditerzählung ...“[19]

Die Frage ist, ob diese Wahrnehmung des Bildes uns einsichtig geworden wäre, wenn wir nicht über die Umstände der Bildentstehung informiert wären. Dass der Betrachter dahin gelenkt wird, seine Sympathie dem Holofernes zuzuwenden, kann ich nicht nachvollziehen – in dieser Hinsicht wären doch eher die Kunstwerke des Jugendstils vom Anfang des 20. Jahrhunderts einschlägig. Die Kommunikation mit dem Betrachter findet bei Allori eindeutig durch Judith statt, die direkt aus dem Bild heraus schaut. Andererseits kann von einem schrecklichen und gewaltsamen Geschehen im Bild keine Rede sein, es liegt vielmehr ein Hauch des Melancholischen über dem Ganzen. Vielleicht ist  dieses Bild vor allen anderen eines, bei dem man tatsächlich metaphorisch von einem Paar reden kann.

Klar aber dürfte sein, dass Christofano Allori dieses Bild gemalt hat, weil er sich wie Holofernes gefühlt hat und dies dann später auch öffentlich kolportiert hat, sonst wüssten wir von diesem Hintergrund nichts.

Wenn wir die künstlerische Rezeption der Erzählung von Judith und Holofernes betrachten, sind es nicht die Künstler in den Diensten der Bischöfe und Fürsten, die hier die beeindruckendsten Bilder schufen, sondern eher die Randgänger.

Beispiel: Artemisia Gentileschi 1611 / 1613

Es ist sicherlich kein Zufall, dass das Werk der im Folgenden vorzustellenden Artemisia Gentileschi nach ihrem Tod vollständig in Vergessenheit geriet und erst in den 60er-Jahen von feministischen Kunstgeschichtlerinnen wieder entdeckt wurde. In Kindlers Malerei Lexikon von 1964 gibt es keine einzige Zeile zum Werk dieser Künstlerin. Es war vielleicht für die kunsthistorische Zunft unvorstellbar, dass es um 1600 herausragende Künstlerinnen gegeben haben könnte. Auch nach 1960 wurde lange Zeit versucht, ihr ein eigenständiges Werk abzusprechen und sie als bloße Kopistin ihres Vaters Orazio Gentileschi abzutun. Dort, wo dieser Versuch nicht gelingt, versucht man, den subjektiven Anteil der Künstlerin zu minimieren. Schon bei Caravaggios Darstellung der Judith sei im Grunde genommen schon alles gezeigt, was zu zeigen wäre. Und Artemisia Gentileschi habe ihn nur kopiert und dramatisiert.

Meines Erachtens ist aber diese Künstlerin die einzige, die über die Gewalt in dieser Szene überhaupt nachgedacht hat. Nicht aus sensualistischen Gründen, wie einige Kunsthistoriker unterstellen, sondern um der Glaubwürdigkeit der biblischen Erzählung gerecht zu werden. Wenn Judith Holofernes geköpft haben sollte, dann müssen im doppelten Sinne Spuren bei ihr geblieben sein. Blutspritzer, die immer entstehen, wenn Schlagadern quer durchtrennt werden; und Hämatome, weil das Durchtrennen der Wirbelsäule eben nicht bei noch so glatter Klinge mit leichter Hand geschieht. Und schließlich macht Artemisia Gentileschi einsichtig, dass es der tätigen Mithilfe der Magd bedurft hat, um die Spasmen des Todeskampfes von Holofernes  in den Griff zu bekommen. Gewalt ist ein physisches Geschehen.

Zwei mal hat Artemisia Gentileschi unmittelbar die Enthauptung des Holofernes durch Judith und ihre Magd gemalt und beide Werke fallen in eine Zeit, in der sie persönlich unter extremen äußeren Druck stand.

„Gentileschi war die Tochter des Malers Orazio Gentileschi … Artemisia stand oft Modell für ihren Vater, der auch ihr Talent erkannte und sie in der Malerei unterrichtete. Zur Erlernung der Perspektive schickte er sie zu seinem Freund Agostino Tassi, welcher sie vergewaltigte. Tassi versprach zwar, sie zur Wiederherstellung ihrer Ehre zu heiraten, löste dieses Versprechen jedoch nicht ein, da er schon verheiratet war. Daraufhin strengte Orazio im Mai 1612 einen Prozess gegen Tassi an, in dessen Verlauf es zu einer entwürdigenden gynäkologischen Untersuchung kam, um zu beweisen, dass Artemisia nicht als Prostituierte tätig war (Tassi wollte sich mit dieser Beschuldigung aus der Affäre ziehen; er wurde jedoch schließlich … zu acht Monaten Haft verurteilt). Dazu wurde Artemisia Gentileschi zur Überprüfung ihrer Aussage mit einer daumenschraubenartigen Vorrichtung gefoltert, eine besonders für eine Malerin erniedrigende Quälerei. Dieser Vorfall schlägt sich in Artemisias Werken nieder.“[20]

Es ist in der kunsthistorischen Forschung umstritten, ob man in Kenntnis dieses Vorgangs Rückschlüsse auf die Konzeption und Ausführung der zeitgleich oder zeitnah entstandenen Kunstwerke ziehen darf. Viele Wahrnehmungen haben so natürlich den Charakter der „self-fulfilling prophecy”: Man sieht, was man weiß.

Aber es gibt Plausibilitäten, die es legitim erscheinen lassen, Biografie und Werk produktiv aufeinander zu beziehen. Zumindest müsste jeder andere Versuch eine bessere Erklärung dafür bieten, warum es ausgerechnet Artemisia Gentileschi am Besten gelingt, das Geschehen realistisch einzufangen. Aber schauen wir uns das erste Gemälde zunächst einmal an:

Die erste Version

Dieses Bild hat mehrere Überarbeitungen erfahren[21] und wir wissen daher nicht, wie es ursprünglich einmal ausgesehen hat. Eventuell war im Originalzustand entsprechend dem später entstandenen zweiten Bild von Artemisia Gentileschi mehr vom Körper des Holofernes zu sehen. Für diese Vermutung spricht, dass sich das Werk in der vorliegenden Form keiner gängigen Bildkonzeption fügt, dagegen, das die Farbkomposition gestört würde.

Unmittelbar auffallend ist der ungeheure Realismus der Szene.  Holofernes stirbt nicht im Schlaf, er ist erwacht und wehrt sich gegen das Geschehen. Die Magd muss beide Hände verwenden, um den sich wehrenden mittels seines auf die Brust gepressten linken Arms unten zu halten. Seine rechte Hand krallt sich an der Kleidung der Magd fest. Währenddessen durchschneidet Judith ihm mit dem Schwert die Kehle, und presst seinen Kopf mit der linken Hand auf das Laken. Das Blut fließt in Strömen aus der Kehle und das Laken herunter und gerinnt dort. Die Mimik der Judith ist von einer tödlichen Entschlossenheit gekennzeichnet.

Was mich an diesem Bild überrascht hat, ist das offensichtliche Hämatom an der rechten Hand der Judith, das Auskunft gibt, über den Kraftakt den sie vollziehen muss. Das ist weit entfernt von den reizenden Burgfräuleins mit dem Schwert in der Hand, die niemals in der Lage gewesen wären, die Tötung zu vollziehen. Nein, Artemisia Gentileschi zeigt den Gewaltaspekt der Tötung. Das ist insofern bedeutsam, als wir in aller Regel falsche Vorstellungen von Enthauptungen haben. Anlässlich des Videos von der Ermordung des Amerikaners Nick Berg schreibt Joachim Günter in der NZZ: „Woran denken wir bei der Nachricht, dass Nicholas Berg ‚enthauptet’ wurde? Vermutlich an Säbelhieb und glatten Schnitt. Das Video dokumentiert den Mord an einem Menschen, der gepackt wurde wie ein Schaf, das man schlachten will, ein fürchterlich langes, qualvolles Sägen an Nacken und Kehle, begleitet von den Schreien des Opfers. Man begreift bei diesem Anblick, warum Zeitgenossen die Guillotine bei ihrer Einführung als Humanisierung der Hinrichtung begrüßten.“[22]

Eine ähnliche Erfahrung machen wir mit dem Werk von Artemisia Gentileschi. Das ist eine Abschlachtung, der wir hier beiwohnen, weit entfernt von allen Steinschleudereien eines David im Kampf mit Goliath. Und Artemisia Gentileschi malt Judith so, dass man den Eindruck bekommt, sie wäre dazu auch fähig gewesen, sowohl von der kalten Wut wie von der Kraft ihrer Arme her.

Die zweite Version

Die zweite Version, die aus der Zeit nach 1613, und das heißt nach dem als schmählich erfahrenen Prozess gegen Tassi stammt, ist kunstvoller gearbeitet als die erste, sie ist unter künstlerischen Gesichtspunkten logischer und komplexer. Zunächst einmal folgt sie präzise im Aufbau dem Goldenen Schnitt, der die Handlungsfigur der Judith abhebt vom Geschehen im Hauptfeld der linken Seite. Eine ähnliche Aufteilung hatten wir schon bei Caravaggio gesehen.

Teilt man das Quadrat im Goldenen Schnitt noch einmal nach dem selben Prinzip auf, entsteht im Zentrum ein geradezu symbolisches Bild: die über den Mann triumphierende Frau, die Inversion der traditionellen Geschlechterverhältnisse. Das würde erklären, warum Artemisia Gentileschi die Magd als zentrale Mittäterin inszeniert.

Nur bei Giorgio Vasari, dem Begründer der Kunsthistorie, gibt es auf einem Gemälde von 1554 eine ähnliche Konstellation. Dort wird der Moment kurz vor dem ersten Hieb gezeigt. Aber die Magd tritt nur neugierig hinzu und ist nicht aktive Mittäterin beim Geschehen.

Was Artemisia Gentileschi darüber hinaus auf ihrem zweiten Bild zur Steigerung der Dramatik hinzufügt, ist das bis auf ihren Körper spritzende Blut, was ihr nicht zuletzt den Vorwurf der Befriedigung der Sensationsgier eingetragen hat.[23] Darin ist sie aber zugleich auch besonders realistisch. Die Mehrzahl der Künstlerkollegen lässt Judith in dieser Hinsicht unbefleckt, als könne man eine derartige Tötung begehen ohne sich mit Blut zu beschmieren.

Bei Artemisia Gentileschi strömt das Blut nur so. Hier erreicht ihr Bild eine dramatische Geschehensnähe, die weit über vergleichbare Darstellungen hinausgeht, wenn wir etwa an die schon vorgestellte ebenfalls dramatische Schilderung von Caravaggio denken. Artemisia Gentileschi möchte aufgrund biografischer Erfahrungen etwas rekonstruieren, was beim biblischen Text nur durchschimmert: das Geschehen selbst.

Die Wahrheit (in) der Malerei

"Ich bin Ihnen die Wahrheit in der Malerei schuldig, und ich werde sie Ihnen sagen" schrieb der Künstler Paul Cezanne 1905 in seinem Briefwechsel mit Emile Bernard.[24] Was aber heißt Wahrheit? Nach Thomas von Aquins berühmter Bestimmung besteht Wahrheit in der Übereinstimmung der Dinge mit dem Verstand. Und Thomas von Aquin konkretisiert: „So sagt man, der Künstler verfertige ein wahres Kunstwerk, wenn es seiner Kunstvorstellung entspricht.“[25]

Genau um diese Wahrheit in der Malerei geht es auch in den beiden Arbeiten von Artemisia Gentileschi. "Gesagt" werden kann sie freilich wiederum nur im Medium der Malerei. Nur im Bild – und nicht in der Übereinstimmung von Text und Bild – findet sich die künstlerische Wahrheit, nur in der Aneignung der Erzählung im bildnerischen Prozess durch die Künstlerin wird sie real.

Die beiden zuletzt betrachteten Arbeiten von Artemisia Gentileschi sind daher nicht nur darin wahr, dass sie uns zeigen, wie es gewesen sein müsste, wenn es sich um ein reales Geschehen – und nicht nur eine literarische Fiktion – handelte. Es handelt sich vielmehr auch um Aneignungen einer Geschichte, die von Gewalt handelt, von erlittener und ausgeübter Gewalt, und die in der subjektiven Aneignung dem geschilderten Geschehen so etwas wie Gerechtigkeit widerfahren lässt.

Artemisia Gentileschis Gemälde sind wahr, ohne sich an die buchstäbliche Wahrheit der biblischen Erzählung zu halten. Denn in wichtigen Punkten weichen die Bilder von der vorgegebenen Erzählung ab: Keinesfalls ist Judith zusammen mit der Magd in dem Zelt, in dem Holofernes dann von ihr getötet wird, denn im biblischen Text heißt es ausdrücklich: „Niemand, von klein bis groß, war im Schlafraum zurückgeblieben“. Holofernes lag auch keinesfalls auf dem Rücken im Bett, er war vielmehr, wie es im biblischen Text heißt, volltrunken vornüber auf sein Bett gesunken. Und keinesfalls schlitzt Judith Holofernes die Kehle auf, sondern sie schlägt ihm mit dem Schwert zweimal in den Nacken, wie es in Vers 8 heißt: „Dann schlug sie zweimal mit voller Kraft in seinen Nacken und trennte seinen Kopf von ihm ab.“ In all diesen Aspekten weichen Darstellung und Text voneinander ab.

Insofern könnte man im Blick auf die biblische Vorlage von unwahren Bildern sprechen und sie (nur?) als Deutungen des Geschehens bezeichnen. Wahr in diesem konventionellen Sinne wären Bilder nur, wenn sie dem biblischen Text wortwörtlich folgen. Tatsächlich leistet so gut wie kein Werk der abendländischen Kunstgeschichte diese Art von Wahrheit im Sinne der illustrativen Übereinstimmung mit der biblischen Erzählung, denn nahezu jeder Künstler bringt bestimmte subjektive Variationen ein.[26]

Als eine der wenigen Ausnahmen, die in etwa in Übereinstimmung mit der biblischen Beschreibung stehen könnten, kann vielleicht das Gemälde von Mattia Preti aus dem Jahr 1660 genannt werden. Es lässt aber auch vieles im Dunkeln. So wissen wir nicht, was sich links vom Geschehen abspielt, m.a.W. wohin Judith eigentlich blickt und woher sie das Licht erhält. Und spätestens bei der Kleidung der Protagonistin und dem Bett des Holofernes sind wir dann wieder doch im Bereich der subjektiven Aneignung durch Deutung und Anpassung an zeitgenössische Umstände.

All die Bilder, die wir also weltweit in den Kirchen, auf Altären und an den Wänden von Museen zu diesem Thema finden, sind nicht 1:1-Übersetzungen biblischer Geschichten in die Sprache des Visuellen. Das heißt, alle KünstlerInnen verfahren in der Aneignung der biblischen Erzählung gewaltsam, wenn man das nach dem Kriterium der objektiven Wiedergabe, also der Spiegelung der biblischen Erzählung beurteilt.

Und doch fangen sie in einem phänomenologischen Sinne Wahrheiten ein, sie sind in einem gewissen Sinne wahrer und in einem modernen medialen Sinne wirkungsmächtiger als der ursprüngliche Text. Donatellos Judith ermöglicht Lektüren des biblischen Textes, die ansonsten vielleicht nicht in das jeweils zeitgenössische Bewusstsein gedrungen wären. Alloris Judith ermöglicht die Lektüre des Textes unter dem Aspekt der Perspektivenumkehr. Und mit Caravaggio beginnt der Realismus in die Darstellung des Themas Einzug zu halten, die geradezu physische Umsetzung des Geschehens.

Bei Artemisia Gentileschi ist die Kunst der Aneignung und Darstellung von Gewalt so weit fortgeschritten, dass jenseits von Sensationsgier, Heroisierung, Typologisierung oder Sexualisierung ein Zugang möglich wird, der uns etwas von Judith selbst einsichtig werden lässt, der uns, bei aller Fremdheit des Geschehens, den Vorgang besser verstehen lässt. Ich verwies schon darauf, dass Artemisia Gentileschi bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts nahezu vergessen war. Heute ist, wenn man nur den Namen Judith oder Holofernes in die Bildersuche bei Google eingibt, ihr Bild des Geschehens eines der ersten und vor allem das häufigste, das man zu Gesicht bekommt. Ohne die feministisch inspirierte Kunstgeschichte wäre das nicht möglich gewesen.

Anmerkungen

[1]    Ruskin, John; Sechs Morgen in Florenz. Einfache Studien christlicher Kunst für Reisende. (John Ruskin, Mornings in Florence 1875, S. 65f.) Ich folge hier der Übersetzung von Bettina Uppenkamp in ihrem Aufsatz „Der Tod eines Feldherren. Über Judith und Holfernes in der bildenden Kunst“; in: Dorle Dracklé , Bilder vom Tod, Münster 2001, S. 29-48. Auf die Arbeit von Bettina Uppenkamp sei grundsätzlich zum Thema verwiesen wie auch auf ihre Dissertations-Arbeit „Judith und Holofernes in der italienischen Malerei des Barock“, Berlin 2004

[2]    Selbst im Film spielt das Thema eine Rolle. Erstes Beispiel ist der 1910 erschienene französische Schwarz-Weiß-Film „Judith e Holopherne“ von Louis Feuillade, dann folgt der italienische Film „Giuditta e Oloferne“ von 1920.

[3]    Joachim Güntner schrieb dazu seinerzeit unter der Überschrift „Aufklärung - ein schaler Trost der Greuelbilder. Vom fragwürdigen Nutzen des fotografischen Schocks“: „Woran denken wir bei der Nachricht, dass Nicholas Berg «enthauptet“ wurde? Vermutlich an Säbelhieb und glatten Schnitt. Das Video dokumentiert den Mord an einem Menschen, der gepackt wurde wie ein Schaf, das man schlachten will, ein fürchterlich langes, qualvolles Sägen an Nacken und Kehle, begleitet von den Schreien des Opfers. Man begreift bei diesem Anblick, warum Zeitgenossen die Guillotine bei ihrer Einführung als Humanisierung der Hinrichtung begrüssten. Sollen wir derart durch Anschauung belehrtes Begreifen als Aufklärung rühmen? http://www.nzz.ch/2004/05/15/fe/article9LMG0.html

[4]    Vgl. auch Kirschbaum, Engelbert (1990): Lexikon der christlichen Ikonographie. Sonderausg. Rom: Herder.

[5]    Nur um die statistische Verteilung einmal zu benennen: Ein niederländisches Verzeichnis mit der Klassifizierung mittelalterlicher Bilder in Handschriften hat insgesamt 6120 biblische Bilder notiert, davon sind 2449 zum Alten Testament. Davon sind wiederum 49 zum Buch Judith, davon 1 zu Judith 1, 3 zu Judith 2-3, 8 zu Judith 4-7 und 35 zu Judith und Holofernes. Von diesen 35 beschäftigen sich 27 mit der Szene im Zelt, 6 mit der Rückkehr und zwei mit dem Sieg der Israeliten. Von den 27 Judith und Holofernes-Bildern zeigen 22 die beiden allein im Zelt, davon 18 den Enthauptungsakt und die restlichen das Verstauen des Kopfes. Vgl. dazu die Übersicht unter der Internetadresse http://collecties.meermanno.nl/handschriften/iconclass/71U/

[6]    Man braucht nur einmal dem Motiv der zehn Märtyrer von Kreta nachzuspüren, um zahlreichen martialischen Darstellungen zu begegnen.

[7]    Art. Donatello in der Wikipedia; http://de.wikipedia.org/wiki/Donatello

[8]    Vgl. dazu auch: Barbara Schmitz, Trickster, Schriftgelehrte oder femme fatale? Die Juditfigur zwischen biblischer Erzählung und kunstgeschichtlicher Rezeption . http://www.bibfor.de/archiv/04.schmitz.htm

[9]    Aus heutiger Perspektive ebenso belustigend ist der Umstand, dass die zweite frühe Darstellung die ich gefunden habe, eine TricTrac-Spielfigur aus dem 12. Jahrhundert ist.

[10]   Zit. nach Boulboullé, Guido u.a. (1989): Florenz. Ein Reisebuch durch die Stadtgeschichte. Frankfurt a.M. (Athenäums Taschenbücher, 131), S. 240.

[11]   Ebenda, S. 238

[12]   Appuhn, Horst; Harenberg-Aldick, Marianne (1989): Heilsspiegel. Die Bilder des mittelalterlichen Erbauungsbuches Speculum humanae salvationis. 2., überarb. Aufl. Dortmund: Harenberg (Die bibliophilen Taschenbücher, 267).

[13]   Man muss die Sexualisierung keinesfalls negativ lesen. Die Cultural Studies haben am Beispiel des Popstars Madonna gezeigt, dass in der selbst-bewussten Sexualisierung auch ein Empowerment liegen kann. Vgl. dazu Fiske, John (2003): Lesarten des Populären. Wien: Löcker (Cultural studies, 1): „[Ich habe] argumentiert, dass Madonnas Attraktivität für ihre Fans … weitgehend auf ihrer Kontrolle über ihr eigenes Image und ihrer Bekräftigung ihres Rechts auf eine unabhängige feminine Sexualität beruht. Damit nimmt sie eine oppositionelle politische Position ein, die zwei der kritischen Bereiche patriarchaler Macht angreift - ihre Kontrolle über die Sprache/Repräsentation und ihre Kontrolle über Geschlechterbedeutungen und Geschlechterdifferenzen. Eine Phantasie, die eine feminine Kontrolle über die Repräsentation behauptet, besonders über die Repräsentation von Geschlecht, ist keine Flucht aus der sozialen Realität; sie ist vielmehr eine direkte Antwort auf die dominierende Ideologie und deren Verkörperung in den sozialen Verhältnissen. Eine Phantasie, die eine ermächtigte Heldin vorstellt, welche die Bedeutungen ihres Selbst und ihrer Geschlechterbeziehungen kontrolliert, ist eine oppositionelle, widerständige Phantasie, die politische Effektivität besitzt. Sie hat jedoch keinen unmittelbaren politischen Effekt. Die Videos von … Madonna treiben die jungen Mädchen nicht auf die Straßen zu politischen Demonstrationen, da die Beziehung zwischen dem Bereich der Unterhaltung und dem der Politik niemals derart unvermittelt ist: Sie hängen einfach nicht nach den Regeln von Ursache und Wirkung zusammen. Das Fehlen eines unmittelbaren Effekts schließt aber nicht die Gegebenheit einer allgemeineren Effektivität aus, Die Behauptung des Rechts der Frauen, ihre eigene Repräsentation zu kontrollieren, ist eine Herausforderung für die Weise, in der Frauen als Subjekte im Patriarchat konstruiert sind. Sie ist ein Teil, und ein aktiver Teil, der sich wandelnden Weise, in der Frauen sich selbst und ihre sozialen Beziehungen verstehen.“ (S. 133)

[14]   Hans-Albrecht Pflästerer, Judith und Holofernes. Paare der Bibel; ursprünglich erschienen in „JS – Magazin für junge Soldaten“, abrufbar bei der EKD unter http://www.ekd.de/glauben/bibel_js_judit_holofernes.html

[15]   Mit ihren ruhigen und ausgewogenen Formen und der Freude an einer geglätteten Oberflächenbehandlung, der die Materialien Marmor, Alabaster und Buchsbaum entgegenkamen, sind sie der Inbegriff dt. Renaissance-Kleinplastik. Lexikon der Kunst: Meit. LdK Bd. 4, S. 670

[16]   Andere Beispiele stammen von Jan Sanders von Hemessen (1540), Cornelis Massy (1543), Jan Sadeler (1590), Peter Paul Rubens (1608/1616) sowie Francesco Furini (1636).

[17]   Bettina Uppenkamp, „Der Tod eines Feldherren“, a.a.O., S. 46.

[18]   Goldener Schnitt, die Teilung einer Strecke in 2 ungleiche Teile derart, dass die gesamte Strecke sich zum größten Teil verhält wie dieser zum kleineren.

[19]   Barbara Schmitz, Trickster, Schriftgelehrte oder femme fatale? Die Juditfigur zwischen biblischer Erzählung und kunstgeschichtlicher Rezeption. http://www.bibfor.de/archiv/04.schmitz.htm

[20]   http://de.wikipedia.org/wiki/Artemisia_Gentileschi

[21]   Das ist insofern wichtig, als dass sich daraus ableiten lässt, dass es sich nicht um eine bloße epigonale Kopie eines anderen Gemäldes handelt.

[22]   Joachim Günter, Aufklärung - ein schaler Trost der Greuelbilder, A.a.O.

[23]   Jugendliche Betrachter heutiger Fernsehserien a la CSI wissen aber, dass man den Täter bzw. die Täterin nur überführen kann, wenn man die Blutspritzer auf ihrer Kleidung in die Logik des Verbrechens einordnet.

[24]   Bernard, Emile (1912): Souvenirs sur Paul Cézanne. Paris: Messein. Bernard, Émile (1917): Erinnerungen an Paul Cézanne. Basel: Schwabe (Dokumente zur neueren Kunst, 1).

[25]   http://www.corpusthomisticum.org/sth1015.html#29338

[26]   Wenn einmal Holofernes tatsächlich vornüber liegt, dann ist er nicht vom Bett heruntergerollt worden, wie es in der Erzählung heißt. In aller Regel aber wird Holofernes auf dem Rücken liegend im Bett gezeigt.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/59/am290.htm
© Andreas Mertin, 2009