„Thesen“ des deutschen evangelischen Kirchentages

Barmen 1860

§1
Der evangelische Kirchenbau hat sich nach den Anforderungen des bekenntnismäßigen Gottesdienstes und mit Rücksicht auf die geschichtlich entwickelte christliche Bauweise zu gestalten.

§2
Zu den Anforderungen des bekenntnismäßigen Gottesdienstes an den evangelischen Kirchenbau gehört das Vorhandensein und die zweckmäßige Anordnung der zur Verwaltung der Gnadenmittel unentbehrlichen Bestandtheile, sowie die angemessene, namentlich für Ohr und Auge förderlichste Ausdehnung und Eintheilung des von der Gemeinde einzunehmenden Raumes.

§3
Die zur Verwaltung der Gnadenmittel unentbehrlichen Bestandtheile des Kirchengebäudes sind in erster Linie: Altar, Taufstein, Kanzel; in zweiter Linie: Chor, Orgel, Sakristei.

§4
Dem Altar ist eine erhöhte, freie Stellung zu geben; erhöht, damit er von allen Seiten sichtbar sei; frei, damit der Communiondienst unbehindert von Statten gehe. Auch dürften sich Schranken, wenigstens zur rechten und linken Seite, für die Distribution der Elemente empfehlen. Ein Crucifix ist nach lutherischer Ordnung herkömmlich, nach reformierter Anschauung zulässig und wünschenswerth, um den Altartisch als solchen zu bezeichnen. Wo über dem Altar ein Gemälde aufgestellt wird, sollte dasselbe keinen andern Gegenstand als eines der Hauptmomente der Passion Christi oder die Einsetzung des h. Abendmahls darstellen.

§5
Der Taufstein, nicht durch einen, zumal tragbaren hölzernen Tisch zu ersetzen, hat seine Stelle entweder in einer besonderen Kapelle an oder in der Kirche, oder bei dem Haupt-Eingang in die Kirche, dem Altarraum entgegengesetzt, oder vor dem Altarraum zwischen Altar und Gemeinde, und im letzteren Falle näher den Gemeindestühlen als dem Altar, keinesfalls aber auf der den Altarraum tragenden Erhöhung. Die Stellung des Taufsteines an dem der Kanzel gegenüberliegenden Pfeiler des Chorbogens, welche neuerlich da und dort beliebt wird, ist an sich nicht zu verwerfen, aber dem Auge weniger zusagend.

§6
Die Kanzel, aus Stein oder hartem Holze beschafft und, wenigstens in größeren Kirchen, mit einem Schalldeckel versehen, gehört in einem großen, mehrschiffigen Gebäude an einen Pfeiler des Hauptschiffes, der dem Altarraume näher steht, in einem kleinen, einfachen Gebäude an einen der Chorbogenpfeiler. Sie ist weder unmittelbar vor — noch hinter dem Altar aufzustellen: vor dem Altar nicht, weil sie diesen für die Mehrzahl der Gemeindeglieder verdeckt; hinter dem Altar nicht, weil sie denselben in unanständiger Weise überragt und entweder den Chorraum überflüßig erscheinen läßt oder den Prediger in zu große Entfernung von seinen Zuhörern bringt.

§7
Das Chor (Chornische) als besonderer Altarraum ist ein durch die Bedeutung des Altarsakraments zumal bei richtiger Orientierung der Kirche (§ 17) geheiligter Bautheil und ist auch insofern der Aufstellung des Altars im Schiff und inmitten der Gemeindestühle entschieden vorzuziehen, beschränkt sich indessen für das Bedürfnis des evangelischen Gottesdienstes auf eine nur mäßige Ausdehnung. Ein Chor auch dann zu bauen, wenn man nicht beabsichtigt, den Altar in ihm aufzustellen, ist widersinnig. Eine Kirche ohne Chor ist wie eine Kirche ohne Altar, nichts weiter als ein blosser Betsaal, und verdient den historischen Namen einer Kirche nicht.

§8
Die Orgel als das den Gemeindegesang tragende und den Gottesdienst überhaupt unterstützende Instrument findet seine würdigste Stelle hinter den Gemeindestühlen auf einer dem Altarraum gegenüber errichteten Empore. Unter Umständen mag es gerathen sein, die Orgel im Schiff der Kirche nahe dem Altarraum und unfern der Kanzel aufzustellen. Ein Mißbrauch ist es, die Orgel in das Chor zu versetzen. Es kann nicht dringend genug empfohlen werden, diesem Unfug zu wehren, und das durch eine Orgel entstellte Chor durch deren Verlegung an die ihr gebührende Stelle seiner Bestimmung zurückzugeben. Die Orgel soll ferner das dem Kirchenraum entsprechende Maass von Kraft und Mannigfaltigkeit der Register besitzen. Dem ungehörigen Streben einzelner Organisten und Orgelbauer nach Anschaffung solcher Orgelwerke ist entgegenzutreten, deren Umfang über das Bedürfniss der vorhandenen oder beabsichtigten Kirche hinausgeht und den Aufwand des neuen Kirchenbaues unnöthiger Weise vermehrt.

Außer dem für die Orgel selbst bestimmten Platz ist auch für den Singchor, welcher den Gemeindegesang leitet und nebendem auch figuraliter zu dem Gottesdienst mitwirkt, auf der Orgelempore genügender Raum auszumitteln.

§9
Eine Sakristei, zur Aufbewahrung der kirchlichen Bücher und Utensilien, zum Aufenthalte des Geistlichen vor, zwischen und nach den gottesdienstlichen Akten und zur Vornahme einzelner solcher Akte, ist für diese verschiedenen Zwecke geräumig, heizbar und in kirchenwürdiger Bauform herzurichten. Es erscheint anständiger, sie als Anbau denn als Einbau der Kirche und zwar zunächst bei Chor und Kanzel anzubringen.

§ 10
Die Einrichtung eines Thurmes ist für den Hauptzweck des Kirchengebäudes nicht erforderlich, obschon, wo die Mittel zureichen, um seiner symbolischen Bedeutung willen erwünscht; in den meisten Fällen genügt ein Glockenaufsatz (Dachreiter), um die Gemeinde zur Andacht zu berufen. Nur bei ausgedehnteren Parochialbezirken wird der Thurmbau zum gottesdienstlichen Bedürfniss, um die Glocken höher zu hängen und dadurch in erweitertem Umkreis hörbar zu machen. Auch wirkt auf die Bemessung der Thurmhöhe der Umstand ein, ob die Kirche auf einem erhabenen Orte, ob im Thal oder in einer Gebirgsmulde u.s.w. zu stehen kommt.

Die Stellung des Thurms (oder der Thürme) kann auf jeder Seite des Kirchengebäudes, auch neben ihm ganz abgesondert, stattfinden. Bei einer orientierten Kirche steht er am Angemessensten vorn an der Westseite über dem Haupteingang zur Kirche und kann in diesem Fall auch zur Ausführung einer Vorhalle und zur Einrichtung der Orgel mitbenutzt werden. Wenn es hingegen aus besonderen örtlichen Gründen, z. B. wegen der Thurmuhr, nöthig erachtet wird, dem Thurm seine Stellung auf der Ostseite der Kirche anzuweisen, so umschliesst er ganz oder theilweise das Chor.

§11
Weitere Emporen als die der Orgel und dem Singchor dienstbare (§ 8) sind zu vermeiden. Wo sie aber wegen der starken Gemeindebevölkerung und der beschränkten Mittel halber nicht vermieden werden können, sind sie nur an den Langseiten, nie im Chor, ferner mit ansteigenden Sitzreihen und überhaupt so anzulegen, dass Kanzel und Altar von allen Plätzen sichtbar sind, und keine für die Kanzel beengende Nähe der Empore entsteht.

§12
Die Sitzbänke sind, mit Freilassung eines würdigen Raumes vor dem Chor und eines bequemen mittleren Ganges nach dem Chor, im Schiff der Kirche, in angemessener Weite und so anzulegen, dass in der zwischen Kanzel und Altar etwa gelegenen Gegend die Sitze umgeschlagen und dass allenthalben die Fusschemel auch zum Knien benutzt werden können. Im Chor ist anderes Gestühle als für die Prediger und Gemeindevorsteher nicht aufzustellen.

§13
Ob ein besonderer Beicht- und ein Lehrstuhl (Lesepult) einzurichten, hängt von der bestehenden oder sich bildenden Uebung ab. Jener gehört passender in das Chor, als in die Sakristei oder das Schiff; dieser entweder bleibend vor den Altar, wo er aber den Blick der Gemeinde nach dem Altare hin nicht hindern darf, oder zu einer Seite des Chors, um für den Zweck der Katechese und ähnlicher Neben-Gottesdienste, welche des Altars nicht bedürfen, vor denselben hingerückt zu werden.

§14
Eine Vorhalle der Kirche, innerhalb oder ausserhalb des Portals, ist namentlich auf der westlichen (Wetter=) Seite in Gegenden, welche dem Sturm und Schneefall unterworfen sind, insonderheit für die Kirchenbesucher aus den Filialien zu empfehlen.

§15
Die Würde, Schönheit und Bedeutsamkeit des Kirchenbaues verwirklicht sich in den geschichtlich entwickelten christlichen Baustylen, welche, von der Basilika anhebend, einer mannigfaltigen tiefsinnigen Symbolik des christlichen Glaubens zum Ausdrucke dienen.

§16
Die Wahl aus diesen Baustylen für den einzelnen Fall sollte nicht sowohl dem individuellem Kunstgeschmack der Bauenden, als dem vorwiegenden Charakter der jeweiligen Bauweise der Landesgegenden folgen. Auch sollten vorhandene brauchbare Reste älterer Kirchengebäude sorgfältig bewahrt und maassgebend benützt werden.

Es ist angemessen, dass auch die einzelnen Bestandtheile des Bauwesens in seiner inneren Einrichtung, Altar, Taufstein, Kanzel, Gestühl, Orgelhaus, Gefässe und Geräthe, dem Baustyl der Kirche entsprechen.

§17
Die Orientierung, d. h. die Streckung der Kirche mit ihrem Haupteingang vom Westen her nach dem Chor im Osten, so dass die betende Gemeinde mit ihrem Antlitz nach dem Aufgange des Lichtes gerichtet steht, ist ein sinnvolles altes Herkommen und für den germanischen (gothischen) Styl gesetzliche Norm. Es kann jedoch diese Norm in einer mit den örtlichen Verhältnissen vereinbaren oder durch sie gebotenen Weite zwischen Nordost und Südost zur Anwendung kommen.

§18
Gleichwie die Basilikenform des vorchristlichen Rom für die christliche Versammlungs- und Andachtsstätte prädestinirt erscheint: so ist das längliche Rechteck gerade für den evangelischen Gottesdienst besonders dienlich und erhöht seine religiöse Bedeutung noch dadurch, dass nächst der Tribüne (Apsis, Chor, Altarnische) zwei Querarme sich an ihm ausladen und so dem Ganzen die Kreuzesform verleihen (§ 20). Die Gestalt der Rotunde hat schon den Mangel der Akustik wider sich.

§ 19
Eine Abweichung von der normalen Anlage des Kirchengebäudes ist nur durch lokale Hindernisse gerechtfertigt. Ebendeshalb ist auch schon die Wahl des Platzes mit dem Absehen darauf zu treffen, dass durch die schwierigen lokalen Bedingungen keine sachlichen Erfordernisse beeinträchtigt werden.

§20
Die durch die christliche Symbolik geheiligten Formen, wie des Kreuzes (§ 18), des Dreiecks, des Quadrats u.s.w., sowie die sogenannten heiligen Zahlen, Drei, Vier, Sieben, Zwölf, empfehlen sich zur Berücksichtigung im Ganzen und Einzelnen des Kirchengebäudes und sind bei massiger, sinniger Anwendung auch dem christlichen Volke leicht zum erbaulichen Verständnis zu bringen.

§21
Die Würde des Kirchenbaues verbietet den blossen Schein der Festigkeit und Dauer; sie fordert massives Material und zieht z. B. ein freies durchsichtiges Dachgebälke, dergleichen sich in den englischen Kirchen findet, einer verschalten und vergypsten hölzernen Decke und Wölbung vor. Jedenfalls sollte der Altarraum (Chor und Nische) massiv eingewölbt werden.

§22
Besonders verdient das Beispiel unserer deutschen Voreltern und unsrer mitlebenden Brüder jenseits des Kanals auch darin Nachahmung, dass sie, wenn die Mittel zum vollständigen Ausbau einer Kirche noch nicht ausreichen, das Bauwesen für spätere Vollendung anlegen und lieber vorerst nur Kirche ohne Thurm oder nur ein oder zwei Schiffe ausführen, als ein Fertigmachen des Ganzen in kleineren Dimensionen beschleunigen.

§23
Die Bauherren (Patrone, kirchliche Orts- und Stiftungsbehörden) sollten, wie es in erfreulicher Weise da und dort bereits geschieht, immer allgemeiner ihre Pflicht der Fürsorge für edlen Kirchenbau wahrnehmen und mit richtiger Einsicht in dessen Erfordernisse bethätigen.

§24
Die landeskirchlichen Behörden mögen ihr Aufsichtsrecht auch in dieser Richtung anregend, belehrend und nötigenfalls verbietend ausüben. In den Händen des Kirchenregiments ruht die Leitung des kirchlichen Bauwesens sachgemäss mit mehr Sicherheit des Erfolges, als bei Staatsbehörden und deren Technikern.

§25
Vereine für christliche Kunst sollten in größerer Zahl gebildet und von den Kirchengemeinden und Kirchengenossen gefördert werden, um namentlich für beabsichtigte Kirchenbauten den orts- und landeskirchlichen Behörden, sowie Patronen und Stiftungen mit Rath an die Hand zu gehen und, sei es, die geeigneten Künstler zu empfehlen, sei es, die schon vorliegenden Pläne zu begutachten, einer nicht selten kostspieligen Styllosigkeit oder Stylmengerei entgegenzuwirken und sowohl die Verbreitung einfach edler Raum- und Formenverhältnisse des Kirchenbaues, als auch ein richtiges Maass des ökonomischen Aufwandes für denselben zu vermitteln.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/58/prog02.htm
© 2009