Kitsch - Kopie - Nostalgie


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Andreas Mertin

Wer die bundesdeutschen Feuilletons Ende 2008 aufmerksam verfolgt hat, konnte feststellen, dass allenthalben die Wiederkehr eines Historismus beklagt wurde. Statt auf architektonisch zeitgenössische Lösungen zu setzen, wird heute Rekonstruktion bevorzugt. Man könnte dafür Ermüdungszustände in der Architektur verantwortlich machen, aber das ist angesichts manch interessanter zeitgenössischer Architekturentwürfe weltweit eher unwahrscheinlich. Ich vermute eher, dass es sich hier mehr um eine Art fundamentalistische Reaktion auf die Unübersichtlichkeit der Gesellschaft handelt, um ein Zurückgehen auf Vertrautes und Bewährtes. Beim Berliner Stadtschloss weiß man, was man hat(te) und muss nicht gewärtig sein, schon wieder etwas Unbekanntes und Unvertrautes ins eigene Stadtbild und damit auch ins eigene Weltbild integrieren zu müssen. Dass es sich dabei oftmals um Potemkinsche Dörfer mit einer schönen Fassade vor einer Betonkonstruktion handelt (wie seinerzeit beim Frankfurter Römer) wird in Kauf genommen. Stimmigkeit (und damit auch Einebnung von Differenz) ist es, was erreicht werden soll. Nun kann man analoge Phänomene auch in den Kirchen beobachten.

Auch hier wird - insbesondere in der evangelischen Kirche – seit längerem Zeitgenossenschaft argwöhnisch verfolgt und gegen „Stimmigkeit“ ausgetauscht. Das hat etwas mit der Umwandlung der Kirche nach den Prinzipien der Ökonomie zu tun, die dann auch so etwas wie Corporate Identity erzwingen. Es hat aber auch etwas damit zu tun, dass man sich wieder Zeiten herbeiwünscht, in denen die Situation noch nicht so unübersichtlich war und die Kirche ihren festen und vor allem zentralen Platz in der Polis hatte.

Da aber „Geschichte“ in Form von Originalen nur begrenzt zur Verfügung steht, arbeitet man statt dessen mit Faksimiles oder schlichter Nachahmung. Und selbst die „Originale“, die in aller Regel aus dem Fundus irgendeines Museums besorgt werden, sind im neuen Kontext – wie man leicht beobachten kann – keine Kultobjekte, sondern Ausstellungsobjekte, sie tragen zur fortschreitenden Musealisierung des kirchlichen Raumes bei. Denn in vielen Kirchen ist eine bestimmte Form des konventionalisierten und schon lange nicht mehr subversiven Crossover zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung zum Regelfall geworden. In der Mehrzahl der älteren Kirchen begegnen wir religiösen Objekten ganz selbstverständlich nicht mehr im Rahmen einer religiösen Funktion, sondern im Rahmen ihrer Funktion als Ausstellungsstücke für den kulturinteressierten Baedeker-Christen. Und den Kirchen ist heute oftmals dieser Ausstellungswert wichtiger als der Kultwert, man könnte auch sagen: die Fassade und das Faksimile triumphieren über die Botschaft (und werden damit zur historistischen Botschaft).

Das Beispiel, an dem ich das Gemeinte verdeutlichen will, ist die Abdinghofkirche in Paderborn. Ich stieß vor einiger Zeit beim Surfen im Internet zufällig auf den Gemeindebrief der Kirche aus dem Sommer und Herbst 2008 und wollte mich informieren, was dort so passiert.

Die Abdinghofkirche ist die zentrale Kirche der Protestanten im „schwarzen“ Paderborn, eine Kirche zudem mit einer überaus interessanten und wechselvollen Geschichte. Sie gehört mit ihren Vorgängerbauten in geschichtsträchtige Zusammenhänge. Sie war zunächst und vor allem Klosterkirche, später preußische Kaserne, Pferdestallung und schließlich evangelische Kirche. Sie hat unter dem 2. Weltkrieg schwer gelitten und wurde in den 50er Jahren in ihren jetzigen Zustand gebracht.

Ich hatte 1999 und 2000 selbst mit dieser Kirche im Kontext von Kunstprojekten zu tun, einmal mit Madeleine Dietz, die die gesamte Kirche mit zeitgenössischer Kunst bespielte und mit Frank Schult, der seine Gemälde dort ausstellte. Im Heft 9 des Magazins für Theologie und Ästhetik gab es einen Rückblick von Jörg Mertin auf die dabei gemachten Erfahrungen.

Restauration

Was ist seitdem geschehen? Offenkundig lässt sich die Programmatik inzwischen mit dem Wort Restauration beschreiben. Schon seit längerem wird darüber spekuliert, ob einer der phänomenologischen Unterschiede zwischen Protestanten und Katholiken, was die Raumgestaltung betrifft, der sein könnte, dass Katholiken den Raum nach den jeweiligen theologischen oder kirchlichen Erfordernissen gestalten, ohne auf eine einheitliche Raumgestaltung Rücksicht zu nehmen (exemplarisch etwa die Veränderungen nach dem II. Vatikanum). Protestanten dagegen gehe es um einen einheitlichen Raumeindruck. Wenn also Moderne angesagt ist, dann aber ganz und gar, wenn dagegen die Romanik ins Blickfeld gerät, dann wird alles dem entsprechend umgemodelt. Und in der Abdinghofkirche in Paderborn scheint man sich zwischenzeitlich mit der Romanik angefreundet zu haben. Das hat natürlich eine gewisse Plausibilität, stammt doch die Baugestalt der Klosterkirche aus romanischen Zeiten.

Stück für Stück geht man nun hin und füllt die Abdinghofkirche mit romanischen Versatzstücken. 2007 bekommt die Kirche eine „wunderschöne Kanzel aus dem Fundus von Kloster Dalheim“ und erhält so eine Orientierungsgröße für weitere Ausstattungen. Wenn man dem Gemeindebrief glauben darf, dann ist diese „wunderschöne Kanzel“ „fast 100 Jahre alt“. Da sieht man, wie nah uns die Romanik ist. Also wird es sich wohl um ein neoromanisches Stück handeln, was das ganze noch viel interessanter macht: „Umgekehrt zum historischen Auftreten folgte die Neuromanik der Neugotik, denn im nationalistisch geprägten Deutschland des Zweiten Kaiserreiches wurde bewusst, dass die favorisierte Gotik letztlich aus Frankreich stammt. Den gesuchten deutschen Stil glaubte man nun in der Romanik zu finden.“ [wikipedia] Neoromanik steht also im Bewusstsein seiner Betreiber für den „deutschen Stil“ – anders als etwa der zeitgleiche Jugendstil, der zum internationalen Stil gehört. Das macht es eben nicht so leicht, schnell mal ein wenig „Neo-Romanik“ in die Kirche zu reintegrieren. Ästhetischer Stil ist immer auch ein Teil der politischen Programmatik, man kann das eine nicht fein säuberlich vom anderen trennen. Ich kann nicht erkennen wie jemand, der sich in seiner Kirche zur Neo-Romanik bekennt, die religionspolitische Programmatik davon lösen kann.

Konsequenterweise bekommt die Krypta der Abdinghofkirche im Dezember 2007 dann ein „romanisches Scheibenkreuz“ zu dem es heißt: „Das aus Lindenholz gefertigte vergoldete Scheibenkreuz zeigt die vier Evangelistensymbole und erinnert mit den aufgesetzten Steinen an Tod und Auferstehung Christi.“ Ob diese in ihrer Anknüpfung an die neuplatonische Metaphysik notwendig anagogische Lesart eines Kreuzes wirklich noch evangelisch ist? Ich würde gerne wissen, was sich in den „aufgesetzten Steinen“ theologisch spiegelt? Das neue Jerusalem? Die Blutstropfen Christi?

2008 folgt dann der Ambo als bisher letztes Stück in der restaurativen Phase der Abdinghofkirche. Das Lesepult ist aus Holz gefertigt, durch die Art der Bemalung erhält es jedoch eine Sandsteinoptik. Der Adler wurde, wie es heißt, aus Kunstharz mit Edelstahlverstärkung gegossen und anschließend vergoldet. Der ausführende Künstler hat nun sowohl die Motive auf der rückwärtigen Seite des großen Kreuzes über dem Altar gefertigt, wie die abschließenden Arbeiten an der Kanzel und das eben erwähnte Scheibenkreuz in der Krypta. Wir haben also ein komplettes Programm vor uns, wie wir es bei manchen mittelalterlichen Kirchen finden. Nur stammt dieses „Programm“ nicht aus dem Mittelalter, nicht einmal aus der Neo-Romanik des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sondern aus der Neo-Neo-Romanik des beginnenden 21. Jahrhunderts.

Zur Programmatik schreibt der Gemeindepfarrer: „Christliche Symbolik hat eine alte Tradition. Sie soll mithelfen, Glauben zu wecken, zu verstehen und zu bewahren. So ist es unser Wunsch, dass auch dieses Adlerpult auf den christlichen Glauben hinweist, ihn  weckt und fördert. Der Glaube braucht Symbole und Zeichen, an denen er sich festmachen kann.“ [Gemeindebrief] Dagegen würde ich daran festhalten, was auch Martin Luther gelehrt hat, dass nämlich das einzige Symbol, das wir im strikten Sinne haben, das Abendmahl ist. Und keinesfalls braucht der Glaube andere Symbole, an denen er sich festmachen kann. Und schon gar keinen neoromanischen Goldadler. Da hilft es auch nichts, wenn man versucht, ihn ersatzweise als Lokalisierungshilfe anzupreisen: „Unsere Kirche hat aus bestimmten historischen Gründen nur wenige Zeichen und Symbole. Nun hat sie ein Zeichen hinzugewonnen, das auf den Ort der biblischen Verkündigung verweist, denn Epistel und Evangelium werden am Lesepult gelesen.“ [so der Gemeindebrief]. Man ahnt, wie es gemeint ist (es soll ein liturgischer Ort bezeichnet werden), aber ist doch verstimmt, denn dieser Ort ist kein essentieller, sondern nur ein akzidentieller. Der Ort der biblischen Verkündigung ist die ganze Welt und innerhalb des Kirchenraumes könnte man ebenso die Kanzel oder eine andere Stelle verwenden. Und ob der Ort der biblischen Verkündigung wirklich so triumphalistisch gestaltet sein sollte, wie hier mit einem goldenen Adler, erscheint mir äußerst zweifelhaft.

Das Gesamtergebnis ist jedenfalls durch und durch künstlich und keinesfalls authentisch, geschweige denn künstlerisch. Es ist die Kirche als Jurassic Park. Man liquidiert alles, was mit Gegenwart, Zeitgenossenschaft und der Theologie des 20. und 21. Jahrhunderts zu tun hat und flüchtet in eine visuelle Gestaltung, die mit lebendiger Religion so viel zu tun hat wie die Produkte von ars mundi mit Kunst.

Offenkundig ist den Beteiligten eine symbolische Vermittlung des Christentums besonders wichtig. Alle hinzugefügten Objekte basieren auf einer Trivial-Symbolik, die die seit dem vierten Jahrhundert nach Christus verbreitete Evangelisten- oder Apostel-Symbolik aufgreift. Mit dieser Art der Symbolisierung ist zugleich eine Entscheidung zugunsten der didaktischen Funktion von Bildern gefallen. Nicht mehr der Eigenwert der Bilder, nicht mehr die Kunst, sondern die visuell mittels reduzierter und reduzierender Symbolik zu verkündende Botschaft steht im Vordergrund. In Zeiten, wo niemand mehr die Unterschiede zwischen den Evangelisten zu benennen weiß, soll wenigsten symbolisch auf sie verwiesen werden. Elementarpädagogik nennt man das wohl. Dass ein Gemeindepfarrer ernsthaft meint, derartige Zeichen, Symbole und Bilder würden dazu verhelfen, den Glauben an die jüngere Generation zu vermitteln (so O-Ton im Gemeindebrief), lässt mich an der Geistesgegenwart der heutigen Pfarrerschaft zweifeln. Wie soll man das nennen: Symboldidaktik für die Harry-Potter-Generation?

Nun nutzt niemand den goldenen Adler ohne die politischen und historischen Konnotationen, die damit verbunden sind. Einen Tigersprung in die Geschichte in dem Sinne, dass man alles weglassen könne, was seit dem 4. Jahrhundert geschehen ist, gibt es nicht. Auf der Seite der Reinoldikirche in Dortmund, die ebenfalls über ein Adlerpult (allerdings ein historisches) verfügen, kann man lesen: „Ein Importstück aus dem Maasland, einem damaligen Kunstzentrum für Bronzeobjekte, ist wahrscheinlich das kostbare bronzene Adlerpult. Es entstand in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts und diente den Lesungen des Evangeliums, worauf der Adler verweist, das Symboltier des Evangelisten Johannes ... Das Adlerpult kann in Dortmund neben seiner üblichen christlichen Symbolik also auch als politisches Zeichen von Macht und Kraft verstanden werden. Von anderen Adlerpulten ist bekannt, dass man über ein inneres Kanalsystem Dampf aus dem Schnabel strömen lassen konnte. Dieser Mechanismus konnte rhetorisch wirkungsvoll z.B. während einer Lesung eingesetzt werden.“ Das mag sich lustig anhören, aber es gehört zum impliziten Gehalt derartiger Symbole, dass sie Menschen beeindrucken sollen. Da ist der künstliche Dampf nur eine Verstärkung der impliziten Symbolik.

Dass beim Foto im Gemeindebrief ein Faksimile der Lutherbibel von 1534 aus dem Verlag Taschen auf dem Ambo liegt, ist ganz sicher kein Zufall. Es verrät den Geist des Ganzen. Wenn aber Rückkehr zum Geist der Romanik, dann bitte schön, aber auch voll und ganz: also keine deutsche Übersetzung von 1534, sondern die lateinische Messe mit Hokuspokus und allem anderen. Das wollen sie wahrscheinlich nicht – ich bin mir da aber nicht mehr ganz so sicher. Wenn sie es nicht wollen, warum dann die eklektizistische Fokussierung auf die Symbolsprache der vorreformatorischen Zeit? Weil es im Kern um durch Kopien vermittelten Kitsch und Nostalgie geht. Jetzt ist es wieder eine „echt antike“ romanische Kirche, mit so einer schönen Kanzel und einem so schönen Ambo und einem so schönen Scheibenkreuz.

Das wollen wir doch. Und eigentlich gleich auch wieder ein Heiliges Reich Deutscher Nation …

Die vermutlich von der reformierten Theologie beeinflussten Ratsherren der Bremer Bürgerschaft haben an ihrem Rathaus mit einem drastischen und ganz und gar symbolischen Bild, das man heute dort immer noch finden kann, gezeigt, wohin man sich derartiges stecken kann. Und mehr habe ich dazu auch nicht zu sagen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/57/am272.htm
© Andreas Mertin, 2009