Das neue „Kapital“

Eine Rezension

Christoph Fleischer

Rezension: Reinhard Marx. Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen.
Pattloch-Verlag München 2008, ISBN 978-3-629-02155-7, 19,95 Euro

Dass der neu gewählte Erzbischof von München Reinhard Marx ein Buch seinem „Namensvetter“ Karl Marx widmet, soll diesem nicht unbedingt nachträglich politische Ehre verleihen. Vom Titel „Das Kapital“ bis zur blauen Farbe des Einbands ein postmodernes Spiel, so denkt man. Selbstverständlich ist Marx kein Marxist, sondern ein Verfechter der katholischen Soziallehre, deren Mitbegründer Ketteler er sehr gut zu portraitieren vermag. Dennoch wird auch einem Protestanten bei der Lektüre klar, dass die katholische Kirche in Deutschland vom Aufkommen der Arbeiterbewegung an die soziale Frage aufgenommen hat. In der Geschichte zum Ende des 20. Jahrhunderts hat dann in globaler Hinsicht der verstorbene Papst Johannes Paul II. vor allem die Armut in der Welt angeprangert.

Bezeichnend ist schon, dass Reinhard Marx nicht nur den Mainstream der katholischen Soziallehre bis hin zu den Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft erklärt, sondern bei aller Abgrenzung Karl Marx nicht nur gelesen hat, sondern ausdrücklich würdigt. Im Schlusskapitel vor allem wird deutlich, dass er den katastrophalen Absturz der Finanzmärkte noch kurzfristig einbeziehen konnte und wohl von daher zum Schluss kommt: „Ich schreibe Ihnen (Marx)…, weil mir in letzter Zeit die Frage keine Ruhe lässt, ob es am Ende des 20. Jahrhunderts nicht doch zu früh war endgültig den Stab über Sie und ihre ökonomischen Theorien zu brechen.“ Sogar das Netz der Globalisierung habe Marx schon vorhergesehen. Schon Karl Marx hat die Situation der Armut in den Zusammenhang mit Freiheitsrechten gebracht, die dann nur auf dem Papier stehen, wenn die Ökonomie ihre Umsetzung verhindert. Reinhard Marx stellt vom christlichen Menschenbild her die Option für die Armen heraus und wendet sich gegen die Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Der Begriff von der „unsichtbaren Hand des Marktes“ (Adam Smith) sei als Metapher zu verstehen und der Begriff „homo oeconomicus“ vom christlichen Standpunkt her ein Zerrbild. Immer wieder wird deutlich, dass es keine Wirtschaft ohne eine Art von Regulierung oder die Vorgaben einer Rechtsordnung gibt, auch nicht weltweit. In diesem Zusammenhang korrigiert er in einem Exkurs den Begriff des „Neoliberalismus“ der z. Zt. vor allem ideologisch und abgrenzend gebraucht wird. Nach Alexander Rüstow (1938) bezeichnet der Neoliberalismus die Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit und bekannte sich zu ihrer sozialen Verantwortung, worauf auch 1959 der Sozialethiker und Kardinal Höffner hinwies. In einem Zitat von Oswald von Nell-Breuning taucht dann allerdings doch einmal der Begriff in polemischer Hinsicht auf und bezeichnet dessen Unvereinbarkeit mit der katholischen Soziallehre. Wichtig ist vor allem, dass Reinhard Marx keinesfalls theoretisch argumentiert, sondern zahlreiche Beispiele wie die auf Kreditbasis finanzierten Hedgefonds anführt. Für die Lehre der Gerechtigkeit genügt ein Blick in die Bergpredigt oder die Schilderung des Gottesfriedens bei Basilius, dem Bischof von Caesarea (330-379). Reinhard Marx weist immer wieder in unterschiedlicher Hinsicht auf das Phänomen der Armut hin, das keine soziale Randgruppe oder Unterschicht beschreibt, sondern ein Phänomen in der Mitte der Gesellschaft, das jeden treffen kann, z. B. durch plötzlichen Arbeitsplatzverlust oder persönliche Krisen. Er greift die Notwendigkeit umfassender Bildung auf und bezeichnet sie als „Grundnahrungsmittel“. Fast parallel zur Denkschrift der EKD beschreibt er die Leistung des Unternehmertums, besonders darin, sich in der Gesellschaft immer mehr sozial engagieren zu wollen. Er kritisiert aber in diesem Zusammenhang auch wieder im Rückgriff auf Karl Marx die vorrangige Orientierung am Kapital vor allem in Aktiengesellschaften und stellt den Vorrang der Arbeit vor dem Kapital im christlichen Menschenbild heraus. Im Schlusskapitel werden die Probleme der chinesischen Gesellschaftsordnung an praktischen Beispielen angeprangert. Die Globalisierung sollte nicht länger auf dem Rücken der Unzahl chinesischer Wanderarbeiter ausgetragen werden. Globalisierung aus christlicher Sicht stellt die Würde des Menschen vor Gott heraus und begründet die Pflicht zur Solidarität.

Es wird sich zeigen, ob der Zusammenbruch des globalen Finanzsystems den Weg frei machen wird zu dem, was Reinhard Marx die globale soziale Marktwirtschaft versteht.

Das Buch von Reinhard Marx „Das Kapital“ ist kein Plädoyer für einen Marxismus im bekannten Stil. Dennoch wird hier im Kontext des derzeitigen Wirtschaftssystems mit Karl Marx die Vorherrschaft rein kapitalorientierten Denkens der Wirtschaft vom christlichen Menschenbild einer unverlierbaren Würde vor Gott her in Frage gestellt. Die Kirche hat von der Bibel her den Auftrag, sich immer wieder auch gegenüber den Missständen der globalen Wirtschaftens am Menschen zu orientieren.

Das einzige, was man diesem Buch letztlich vorwerfen kann, ist, dass es kein politisches Programm entwickelt, sondern lediglich Probleme beschreibt. Doch dieser Schritt muss von Seiten der Ethik ohnehin offen bleiben.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/56/cf15.htm
© Christoph Fleischer, 2008