Fernsitzende

Aus alten Lexika und Büchern

Andreas Mertin

Info Andreas MertinDer folgende kleine Streifzug durch einige Lexika und Bücher des 18. und 19. Jahrhunderts möchte an den Ursprung und die politischen Veränderungen des Wortes „Dissidenten“ erinnern. Denn keinesfalls stimmt der aktuelle Sprachgebrauch des Wortes Dissident mit dessen Bedeutung in der historischen Entwicklung überein, man könnte gut vertreten, dass sich die historische, vor allem religiöse Bedeutung geradezu verflüchtigt hat. Wer heute im korpuslinguistischen Wortschatz der Universität Leipzig das Wort „Dissidenten“ eingibt, stößt auf alles Andere als auf kirchengeschichtliche Hinweise.

Als ob es eine Vorgeschichte nie gegeben hätte, beherrscht heute der politische Dissident in der Nachfolge Alexander Solschenizyns die Alltagssprache. Da geht es um kubanische, iranische, chinesische Dissidenten, um Inhaftierung und Menschenrechte, um Journalisten und Schriftsteller. Dass das Wort Dissident eigentlich einen anderen, nämlich kirchengeschichtlichen Ursprung hat, ist in Vergessenheit geraten.

Früher wurden bei der Aufzählung von Stadtbewohnern die Dissidenten extra erwähnt, wie zum Beispiel in Pierers Universallexikon von 1857 zum Stichwort ‚Berlin’: „460.000 Einwohner, darunter etwa 6000 Abkömmlinge der französischen Colonie, 1000 böhmischer Abkunft, 13.000 Israeliten, 5000 Separatisten u. Dissidenten, 18.000 Katholiken u. 415.000 unierte Protestanten, wenige Griechen u. Mennoniten.“

A - Lexika

1 - Damen Conversations Lexikon, Band 3. [o.O.] 1835, S. 188-189.

Ältestes greifbares Lexikon war das Damen Conversations Lexikon von 1835. Es begnügt sich mit einer knappen inhaltlichen Füllung, ohne sich mit historischen Daten abzugeben. Deutlich wird aber schon aus dieser Beschreibung, dass „Dissident“ im historischen Gebrauch weniger die Abweichung im heutigen Sinne, sondern statt dessen die Duldung oder vorsichtige Anerkennung bezeichnet. Während die Wiedertäufer, die wir heute eher als Dissidenten bezeichnen würden, gerade keine sind, weil sie keine Anerkennung genießen, sind Lutheraner und Reformierte welche, gerade weil sie in ihrer Differenz zur katholischen Kirche anerkannt sind. Dissidenz ist also ein Legalitätsstatus.

Dissidenten werden in Polen alle Christen genannt, welche nicht Katholiken sind, mithin die Lutheraner, Reformierten, böhmischen Brüder, Armenier. Aber die Socinianer, Quäker und Wiedertäufer sind unter diesem Namen nicht mit begriffen, weil sie ehemals in Polen nicht geduldet waren.


2 - Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837, S. 574-575

Deutlich umfassender und mit historischen Verweisen ausgestattet ist das 1837 erschienene Brockhaus Bilder-Conversationslexikon. Deutlich wird bei ihm, warum die Dissidenten überhaupt Anerkennung gefunden haben, weil sie nämlich bereits einen Gutteil der Bevölkerung stellten, mithin nicht bloß eine unmaßgebliche Minderheit waren. Wirkliche Minderheiten waren dagegen keine Dissidenten.

Dissidenten, d.i. Andersdenkende, hießen im ehemaligen Königreiche Polen seit 1573 alle nicht zur herrschenden röm.-katholischen Kirche sich bekennende Christen, jedoch mit Ausnahme der Socinianer, Wiedertäufer und Quäker. Es hatten nämlich die Grundsätze der Kirchenreformation in Polen schnelle Verbreitung und so viel Anhänger gefunden, dass 1570 ein großer Teil der Bevölkerung und die Hälfte des Senats und Adels sich namentlich zur lutherischen und reformierten Kirche bekannte und das Bedürfnis, vielfachen Irrungen ein Ziel zu setzen und größeren vorzubeugen, 1573 den Abschluss eines Religionsfriedens zur Folge hatte, der den Dissidenten den Genuss aller bürgerlichen Rechte und völlige Religionsfreiheit zusicherte. Die Bischöfe unterzeichneten jedoch diese Übereinkunft nicht, indem unklugerweise nichts über die gegenseitigen Verhältnisse und Rechte der verschiedenen Kirchen bestimmt war, daher die Dissidenten bald bei jeder Gelegenheit beeinträchtigt und allmälig ihrer Rechte wieder beraubt wurden. Unter König August II. wurde ihnen 1717 selbst das Stimmrecht auf dem Reichstage entzogen, der Bau neuer protestantischer Kirchen verboten und noch größere Bedrückungen traten unter August III. wider sie ein, obgleich Preußen, Schweden, Dänemark und besonders Russland sich ihrer annahmen. Letzteres benutzte diese Religionszerwürfnisse insbesondere mit als Vorwand seiner Einmischung in die poln. Angelegenheiten, brachte 1767 einen Vergleich zu Stande, der die Dissidenten den Katholiken wieder gleichstellte, und 1768 hob der Reichstag die ihnen nachtheiligen Beschlüsse auf. Gleichwohl wurden sie darin nach der ersten Teilung Polens durch den 1775 gehaltenen Reichstag wieder verkürzt, indem man ihnen den Eintritt in den Senat versagte und ihre Zahl unter den Landboten und bei andern Gelegenheiten beschränkte, bis mit der dritten Teilung von Polen 1795 auch die Dissidenten den Gesetzen der teilenden Nachbarreiche unterworfen wurden.


3 - Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 2, S. 407-408.

Mit Herders Conversations-Lexikon, das eine knappe Zusammenfassung der historischen Abläufe bietet, stoßen wir zum ersten Mal auf den Hinweis, dass Dissidenten nicht nur ein historisches Phänomen in Polen, sondern auch ein aktuelles Phänomen Preußens sind. Damit reagiert das Lexikon auf die seit Mitte der 1840er-Jahre entstehende deutschkatholische Bewegung.

Dissidenten, lat., Fernsitzende, Getrennte, sind im allgemeinen alle nichtkathol. Christen; näher hieß man D. die nicht unierten Griechen, Lutheraner, Calvinisten, böhm. Brüder u. Socinianer, kurz die Nichtkatholiken Polens, die auf einer Synode zu Sandomir ein gemeinschaftliches vieldeutiges Glaubensbekenntnis entwarfen, durch den pax dissidentium von 1573 Gleichberechtigung mit den Katholiken errangen u. einen »ewigen Religionsfrieden« unter einander beschlossen, jedoch forthaderten. Die Gleichberechtigung wurde ihnen bereits unter Sigmund III. 1587 geschmälert, 1717 unter August II. und 1737 unter August III. vollends entzogen; sie verlangten dieselbe unter dem letzten König von Polen 1762 wieder, bildeten mit den anderen Unzufriedenen die Generalconföderation von Radom, welche die russ. Hilfe anrief (1768) und dadurch die Teilung Polens herbeiführte. In neuester Zeit heißen D. solche, welche weder Katholiken sein noch einer anerkannten Religionsgesellschaft angehören und doch als Christen gelten wollen, namentlich die sog. Deutschkatholiken. Vgl. Ronge.


4 - Meyers Großes Konversations-Lexikon (1905), Bd. 5, S. 53 ff.

Gut 50 Jahre nach den ersten Andeutungen ist das Problem der deutschen Dissidenten in den Vordergrund getreten. Meyers Großes Konversations-Lexikon setzt geradezu staatsrechtlich an. Hier wird erstmals der grundsätzliche Gedanke der staatlich verbürgten Religionstoleranz angesprochen. Die Genese des Begriffs ist nur noch eine historische Reminiszenz.

Dissidénten (lat., »Getrennte, Außerkirchliche«), diejenigen Personen, die nicht zu der Staatskirche oder doch nicht zu den in einem Staat als vollberechtigt anerkannten Kirchen gehören. Da in den einzelnen Staaten nicht dieselben Religionsgemeinschaften als vollberechtigt anerkannt sind, so können die Angehörigen einer Kirche oder religiösen Sekte in dem einen Staatsgebiet als D. betrachtet werden, während sie in einem andern der privilegierten Kirche angehören. In Deutschland nennt man diejenigen Religionsgesellschaften D., die sich von den drei christlichen Hauptkonfessionen, der katholischen, lutherischen und reformierten, losgesagt haben. Da durch die neuere Gesetzgebung das Prinzip der Toleranz mehr und mehr zur Geltung gelangt ist, so ist heutzutage den dissidentischen Religionsgemeinschaften regelmäßig das Recht der freien und öffentlichen Religionsübung zugestanden, wenn sie auch die Rechte einer Korporation oder juristischen Person nur durch besondere staatliche Verleihung erlangen können. Für das Deutsche Reich begründet in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung die Konfession keinen Unterschied der Behandlungsweise mehr. – Eine besondere historische Bedeutung hat das Wort D. in Polen als Bezeichnung aller polnischen Nichtkatholiken, namentlich der Lutheraner, Reformierten, Griechen und Armenier, mit Ausschluss jedoch der Wiedertäufer, Sozinianer und Quäker.


5 - Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, 5. Auflage, Band 1. Leipzig 1911, S. 441.

Mit Brockhaus kleinem Konversations-Lexikon werden auch die preußischen Ereignisse historisiert. Nun ist aber der Wechsel von anerkannten zu nicht anerkannten Bewegungen abzusehen.

Dissidénten (lat., »Getrennte«), in Preußen amtlicher Name für sämtliche kleinern, außerhalb der staatlich anerkannten Kirchen stehenden Religionsparteien; früher in Polen Name der Nichtkatholiken, denen freie Religionsübung gestattet war, durch den »Vergleich von Sandomir« (1570) unter sich vereinigt; seit 1632 ihrer bisherigen Rechte allmählich beraubt, die sie erst durch fremdländische Intervention 1775 völlig wiedererlangten.


Machen wir abschließend einen Sprung zu den Lexika Anfang des 21. Jahrhunderts. Zwischenzeitlich ist bekanntlich der Begriff des Dissidenten im Kontext des Widerstands gegen totalitäre – vor allem kommunistische – Staaten zu ganz neuen Bedeutungen gekommen.

6 - Der Bockhaus in Text und Bild, 2002

Der Brockhaus beschreibt Dissidenten zunächst ganz allgemein als Abweichler. Dann aber wird der Begriff auf den politischen Tagesgebrauch der Bezeichnung einzelner Mitglieder osteuropäischer Bürgerbewegungen präzisiert.

Dissident  [lateinisch] der, im weiteren Sinn jemand, der in einem Gemeinwesen von den herrschenden politischen, weltanschaulichen und religiösen Grundsätzen abweicht; im engeren Sinn wurden Angehörige der osteuropäischen Bürger(rechts)bewegungen Dissidenten genannt.


7 - Microsoft Encarta 2003

Microsofts Encarta fokussiert sich ganz auf die Beschreibung der im späten 20. Jahrhundert vorherrschend gewordenen Bedeutung der intellektuellen Regimekritiker.

Dissident (von lateinisch dissidere: widersprechen, nicht übereinstimmen), allgemein die Bezeichnung für Andersdenkende; im besonderen werden im 20. Jahrhundert die meist aus der Intellektuellenschicht stammenden Andersdenkenden in totalitären Staaten als Dissidenten, Bürgerrechtler oder Regimekritiker bezeichnet. Wenn Staat und Staatspartei nicht nur das Monopol auf die öffentliche Meinung beanspruchen, sondern das durch sie vermittelte Weltbild als das einzig richtige und wahre ansehen, können sie abweichende Gedanken nur als böswillig, kriminell, verräterisch oder aber krankhaft verurteilen. Dem entsprechen die über die Dissidenten verhängten Sanktionen, die in nicht seltenen Fällen zu einer Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung oder zu langjähriger Internierung in Straf- und Arbeitslager führten.

Damit ist ein Bedeutungswandel vollzogen, der kaum noch die Ursprünge erkennen lässt. Von der größere Bevölkerungsteile umfassenden Religionsbewegung unter staatlicher Toleranz bis zu den intellektuellen Widerstand leistenden Individuen unter staatlicher Verfolgung ist ein weiter Weg.

Nachzutragen ist noch der Begriff der Dissenters, der Nonkonformisten. Das sind englische Gruppen, die sich im 17. Jahrhundert von der anglikanischen Kirche abspalteten. Sie kommen in nahezu allen der erwähnten Lexika vor, spielen aber als begrenztes historisches Phänomen keine begriffsbildende Rolle wie die Dissidenten.

B - Monographien

1 - Moses Mendelssohn „Jerusalem oder Über religiöse Macht und Judenthum“

Unter den zahlreichen Monographien, die Dissidenten erwähnen, sticht Moses Mendelssohn Abhandlung „Jerusalem oder Über religiöse Macht und Judenthum“ heraus.

Bann und Verweisungsrecht, das sich der Staat zuweilen erlauben darf, sind dem Geiste der Religion schnurstracks zuwider. Verbannen, ausschließen, den Bruder abweisen, der an meiner Erbauung Teil nehmen, und sein Herz in wohltätiger Mitteilung, mit dem Meinigen zugleich zu Gott erheben will! — Wenn sich die Religion keine willkürliche Strafen erlaubt, am wenigsten diese Seelenqual, die ach nur dem empfindlich ist, der wirklich Religion hat.

Gehet die Unglücklichen alle durch , die von je her durch Bann und Verdammnis haben gebessert werden sollen; Leser welcher äußerlichen Kirche, Synagoge oder Moschee du auch anhängest ! untersuche, ob du nicht in dem Haufen der Verbannten mehr wahre Religion antreffen wirst, als in dem ungleich größeren Haufen ihrer Verbanner? — Nun hat die Verbannung entweder bürgerliche Folgen, oder sie hat keine. Ziehet sie bürgerliches Elend nach sich ; so fällt sie nur dem Edelmütigen zur Last, der dieses Opfer der göttlichen Wahrheit schuldig zu sein glaubt. Wer keine Religion hat, ist ein Wahnwitziger, wenn er sich einer vermeinten Wahrheit  zu gefallen, der mindesten Gefahr aussetzet. Soll sie aber , wie man sich bereden will, bloß geistige Folgen haben; so drücken sie abermals nur denjenigen, der für diese Art von Empfindniss noch Gefühl hat. Der Irreligiöse lacht ihrer und bleibt verbockt.

Und wo ist die Möglichkeit sie von allen bürgerlichen Folgen zu trennen? Kirchenzucht einführen, habe ich an einem andern Orte, wie mich dünkt, mit Recht gesagt, Kirchenzucht einführen, »und die bürgerliche Glückseligkeit ungekränkt erhalten, gleichet dem Bescheide des allerhöchsten Richters an den Ankläger : lkr fey in deiner Hand, doch schone sei, « es Lebens! Zerbrich das Fass, wie die Ausleger hinzusetzen; doch laß den Wein nicht auslaufen! Welche kirchliche Ausschließung, welcher Bann ist ohne alle bürgerliche Folgen, ohne allen Einfluß auf die bürgerliche Achtung wenigstens, auf den guten Leumund des Ausgestoßenen und auf das Zutrauen bei seinen Mitbürgern, ohne welches doch niemand seines Berufs warten , und seinen Mitmenschen nützlich, das ist, bürgerlich glückselig sein kann ? Man beruft sich immernoch auf das Naturgesetz. Jede Gesellschaft, spricht man, hat das Recht auszuschließen: warum nicht auch die religiöse ? Allein ich erwidere: gerade hier macht die religiöse Gesellschaft eine Ausnahme ; vermöge eines höhern Gesetzes kann keine Gesellschaft ein Recht ausüben, das der ersten Absicht der Gesellschaft selbst schnurstracks entgegengesetzt ist.

Einen Dissidenten ausschließen, sagt ein würdiger Geistlicher aus dieser Stadt, einen Dissidenten aus der Kirche verweisen, heißt einem Kranken die Apotheke verbieten.

In der Tat, die wesentlichste Absicht religiöser Gesellschaften ist gemeinschaftliche Erbauung. Man will durch die Zauberkraft der Sympathie, die Wahrheit aus dem Geiste in das Herz übertragen, die zuweilen tobte Vernunfterkenntnis durch Teilnehmung zu hohen Empfindnissen beleben. Wenn das Herz allzu sehr an sinnlichen Lüsten klebt, um der Vernunft Gehör zu geben; wenn es auf dem Punkt ist, die Vernunft selbst mit ins Garn zu locken; so werde es hier vom Schauer der Gottseligkeit ergriffen, vom Feuer der Andacht entflammt, und lerne Freuden höherer Art kennen, die auch hienieden schon den sinnlichen Freuden die Wage halten. Und ihr wollt den Kranken vor der Tür abweisen, der dieser Arznei am meisten bedarf; desto mehr bedarf, je weniger er dieses Bedürfnis empfindet, und in seinem Irrsinne, sich gesund zu sein einbildet? Muss nicht vielmehr eure erste Bemühung sein, ihm diese Empfindung wieder zu geben, und den gleichsam vom kalten Brande bedrohten Teil seiner Seele ins Leben zurück zu rufen? Statt dessen verweigert ihr ihm alle Hülfe und lasset den Ohnmächtigen den moralischen Tod dahin sterben, dem ihr ihn vielleicht würdet entrissen haben.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/56/am264.htm
© Andreas Mertin, 2008