Unversöhnlichkeit und Inkonsequenz

Reflexionen über die Negativität der Kunst in der Ästhetik Adornos

Jürgen Förster

Die „Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen“
Adorno GS 4, 253

I.

In Anlehnung an eine Formulierung Adornos, die den „Artisten als Statthalter“ ausweist, hat man die Rolle der Kunst im Denken Adornos mit dem Begriff Statthalterschaft beschrieben. Kunst sei für Adorno der Statthalter der Utopie. Statthalterschaft erweise sich für Adorno in einer geschichtlichen Situation, in der der Augenblick der Verwirklichung der Philosophie versäumt wurde, als die Form der Praxis, die wenigstens den Gedanken an die Utopie noch festhält. Diese Ansicht scheint plausibel, beantwortet jedoch noch nicht die Frage, wie Kunst die Statthalterschaft ausfüllt und wie sich die Utopie des versöhnten Lebens in der Kunst ausdrückt. Ist das Absolute in der Kunst ansichtig? Ist die Kunst für Adorno ein Vorschein der Versöhnung? Gleicht der versöhnte Zustand dem Paradies? Diese Fragen, die ich im Folgenden behandeln möchte, sind im Spannungsfeld von Kunst, Philosophie, Gesellschaft und Utopie angesiedelt. Meine Antwortversuche beabsichtigen einigen weit verbreiteten Ansichten über die Ästhetische Theorie Adornos entgegenzutreten, wie sie von Bubner paradigmatisch formuliert wurden. 

Bubner betrachtet die unvollendet gebliebene Ästhetische Theorie als das definitive Hauptwerk Adornos. In ihr erblickt er die Legitimation der Adornoschen Philosophie überhaupt. Für Bubner ist die Transformation von Philosophie in Ästhetik die notwendige Konsequenz aus der Annahme eines universellen Verblendungszusammenhangs.

„Ideologie ist gemäß dieser These so total geworden, daß es vor ihr kein Entrinnen gibt – schon der Versuch wäre Verrat an der wahren Sache des Geistes. Das einfache Aussprechen dessen, was ist, fiele der Verblendung anheim, da es hinzuzufügen versäumt, daß das, was ist, im Grunde und im Grunde nicht sein soll” (Bubner 1989, 74). Theoretisches Denken werde bei Adorno pauschal unter Ideologieverdacht gestellt. Er verschmelze die Ästhetischen Theorie Kunst und philosophische Erkenntnis, um sich dem „Ethos der vernünftigen Begründung” (Bubner 1989, 70) zu entziehen. Adorno verlasse somit den diskursiv-rationalen Standpunkt philosophischer Theorie. Wahrheit sei für Adorno nur noch in einem Jenseits von Begriff und Theorie erfahrbar. Dieses Jenseits ist das Reich der Kunst. Damit verwandele Adorno Philosophie in Kunst.[1] „Der Versuch, Theorie ästhetisch werden zulassen, endet in der Verwechslung eines Theoriescheins mit einem Kunstwerk” (Bubner 1989, 95). Paradoxerweise erkennt Bubner im Adornoschen Denken allerdings auch den Vorrang geschichtsphilosophischer Theorie vor der Kunst. Indem er die Begründungslast gänzlich auf die Kunst abwälze, zerstöre Adorno die Autonomie der Kunst und führe sie in eine erneute Abhängigkeit von der Philosophie. Adorno lege die freie ästhetische Erfahrung an das Gängelband der Theorie. Bubner suggeriert eine mehr oder weniger bewusste Strategie Adornos, die darauf abziele, einen privilegierten Erkenntnisstandpunkt zu beanspruchen. Denn es gelinge Adorno nur, die Kunstwerke als Kronzeugen der Theorie aufzubieten, indem er vorher klamm heimlich seine gesamte Theorie in die Kunstwerke hineinlege. Ästhetische Theorie verkomme so zu einer „narzißtischen Spiegelung”, die sich „gegen Zweifel und Erschütterung von außen ab(schließt)” (Bubner 1989, 95). In der vor aller Erfahrung auf Negativität geeichten Geschichtsphilosophie erscheine der Weltlauf eigentümlich vorentschieden und gegen das Neue immunisiert. „Die vorgängige Sicherheit, daß es immer schon ganz übel steht, läßt die jeweilige Gegenwart im trübsten Licht erscheinen. Die historische Diagnose ist durch ein Vorwissen gesteuert, das sich der Diskussion entzieht” (Bubner 1989, 76). Ihr totaler Negativismus verurteile die Philosophie zur abstrakten Esoterik, die die Maßstäbe ihrer Kritik nicht mehr angeben kann (vgl. Wellmer 1985, 20). An diesem Punkt trifft sich die Kritik Bubners mit der Kritik von Jürgen Habermas und Albrecht Wellmer. Vereidigt Adorno die Kunst auf die „Grundfarbe schwarz” (GS 7, 65) bleibt in der Tat wenig Raum für Nuance und Zwischentöne. Diese Verarmung hat Adorno durchaus gesehen und problematisiert. Sowohl Bubner als auch Wellmer gehen davon aus, dass Adorno das Nichtidentische als Naturschönes begreift und das dieses Naturschöne für ihn ein Synonym für die Utopie der Versöhnung darstellt. Die Versöhnung sei nur jenseits des Begriffs im Medium begriffloser Kunst erfahrbar. Die Kunst sei für Adorno die letzte Zufluchtsstätte vor der allgemeinen gesellschaftlichen Negativität. Einzig in der Kunst sei die Wahrheit im Sinne der Versöhnung unmittelbar anschaulich (vgl. Wellmer 1985, 14ff.).

Gegen diese weitverbreitete Ansicht möchte ich Einspruch erheben. Ich möchte zeigen, dass diese Ansicht in drei wichtigen Punkten fragwürdig ist. Erstens werde ich zeigen, dass Adorno Wahrheit nicht jenseits des philosophischen Begriffs bestimmt. Zweitens möchte ich daran erinnern, dass der Adornosche Negativismus keineswegs ein Negativismus vor aller Erfahrung ist. Dies zu behauptet bedeutet, die Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts zu leugnen. Adornos Philosophie ist eine Philosophie nach der Katastrophe, sie lässt sich nur als Reaktion und Reflexion dieser Erfahrung verstehen. Dieser zentrale Aspekt bleibt jedoch bei Bubner, wie bemerkt, weitgehend unberücksichtigt. Und drittens gilt es dem Missverständnis entgegenzutreten, dass Versöhnung für Adorno in den authentischen Kunstwerken unmittelbar ansichtig sei. Für Adorno sind Kunstwerke keine Erscheinung der absoluten Idee. Seine Ästhetik mutet uns den paradoxen Gedanken zu, dass Kunstwerke nur durch ihre Unversöhnlichkeit der Versöhnung die Treue halten. Dieses Paradox enthält jedoch das Problem, wie man den dialektischen Umschlag von vollendeter Negativität in die vollendete Positivität verstehen soll. Vor allem die methodische Prämisse der Dialektik, die Widersprüche bis in ihr Extrem zu treiben und einen Gedanken konsequent bis zu seinem Ende zu denken, um das in ihm enthaltene Andere zu gewahren und aufscheinen zu lassen, erweckt in manchen Formulierungen Adornos den Anschein rigoroser Konsequenzlogik, die er stets bei anderen kritisiert. Das wird zu Recht von den Kritikern als Mythologisierung kritisiert. Ich möchte demgegenüber eine alternative Deutungsmöglichkeit des dialektischen Vermittlungsbegriffs vorschlagen, indem ich auf den Begriff der Lücke und der Inkonsequenz bei Adorno hinweise. Die dialektische Vermittlung, die Adorno zu denken versucht, folgt nicht der strengen Logik der Entscheidung. Sie gehorcht nicht dem apodiktischen Entweder-Oder. Vermittlung bedeutet vielmehr ein „Sowohl als auch“, eine Überwindung der geschlossenen Grenzen, indem man das vermeintliche Fremde im Eigenen aufweist.  

Um meine Einwände gegen die oben skizzierte Lesart plausibel zu machen, werde ich zunächst auf das Beziehungsverhältnis von Philosophie und Kunst eingehen und zeigen, dass Adorno weder das diskursiv-begriffliche Denken aufgibt noch Theorie in Kunst überführt. Daran anschließend werde ich zunächst die Autonomie der Kunst problematisieren und das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft erörtern. Hierbei werde ich vor allem darauf hinweisen, dass sowohl die Philosophie als auch die Kunst durch die Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts in eine tiefe Existenzkrise geraten sind. In der Verarbeitung dieser Erfahrung erblickt Adorno die zentrale Aufgabe und das zentrale Problem moderner Kunst und Philosophie. Abschließend möchte ich herausarbeiten, dass Adorno das Verhältnis Kunst und Utopie keineswegs positiv bestimmt. Das Bilderverbot ist auch für die Kunst bindend, d.h. auch in der Kunst ist das Absolute nicht unmittelbar ansichtig, sondern schwarz verhüllt.

II.

Adorno hat Philosophie immer als begriffliche Reflexion verstanden. Bei aller nachhaltigen Kritik am Begriff war er weit davon entfernt, den strengen Anspruch der begrifflichen Reflexion zugunsten eines unmittelbar-intuitiven Erlebens oder einer Apologie unmittelbarer Erfahrung preiszugeben. Das Denken kann das Einzelne, das in der Anschauung gegebene Besondere, nur in seiner begrifflich-allgemeinen Form vergegenwärtigen. Negative Dialektik ist gerade der Versuch, den Schein der Unmittelbarkeit zu zerstören, in dem sie ihn als Verschleierung von Herrschaft erweist. Dementsprechend formuliert Adorno das Erkenntnisziel der Philosophie: „Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.“ (GS 6, 21). Das Nichtidentische ist nicht das positive Andere des Begriffs, sondern in der konsequenten begrifflichen Reflexion taucht es im Begriff als Nötigung auf, das Begriffslose, die Natur im weitesten Sinn als Motiv und Zweck des Denkens anzuerkennen.

Es ist ersichtlich, dass es Adorno in der Negativen Dialektik offensichtlich nicht um die Abschaffung des begrifflichen Denkens geht. Vielmehr findet sie sich mit den Grenzen des Begriffs nicht ab. Negative Dialektik ist bestrebt, Erfahrungsdimensionen des Begriffslosen, die dem Bewußtsein bisher verschlossen waren, zu erschließen. Paradox formuliert versucht Adorno, noch das Unsagbare zu sagen. Die Reflexion auf die Grenzen des Begriffs dient der Grenzbestimmung und der Grenzüberschreitung in einem. Gleichzeitig unternimmt die Negative Dialektik eine Kritik am Wahrheitsbegriff der philosophischen Tradition. Adorno sucht Wahrheit nicht mehr in einem Zeitlosen, Abstrakten, Unwandelbaren. Wahrheit ist nicht in einer rein geistigen Sphäre der Ideen, jenseits der gesellschaftlichen Erfahrungen angesiedelt. In diesem Sinn versteht sich Negative Dialektik als materialistische „Entzauberung“ (GS 6, 24) des Begriffs. Die Entzauberung soll verhindern, daß Philosophie selbstgenügsam wird und sich als autark verkennt. Diese weltabgewandte Haltung ist der Philosophie seit ihren platonischen Anfängen zu ihrem Wesen geworden. Wahrheit verstand sie immer als absolute Idee, also als Identität des Geistes mit sich selbst. Das Vergängliche und Individuelle galt ihr als bloßer Schein. Dagegen erhebt Adorno Einspruch. „Die Entzauberung des Begriffs ist das Gegengift der Philosophie. Es verhindert ihre Wucherung: daß sie sich selbst zum Absoluten werde“ (GS 6, 24). Verkennt sich Philosophie als Absolutes, verkommt sie unweigerlich zur ideologischen Verklärung von Herrschaft, die ihrem Wesen nach unversöhnte Natur ist (vgl. GS 4, 58).

Das Denken besitzt für Adorno jedoch die Fähigkeit, gegen sich selbst zu denken. Es ist in der Lage seine begriffslosen Wurzeln zu erfahren. Indem Philosophie ihre natürlichen Wurzeln nicht mehr verleugnet und den Vorrang des Objekts anerkennt, wird sie zur Kritik der naturbeherrschenden Gesellschaft. In dieser Reflexion eignet sich die Philosophie ihr mimetisches Erbe wieder an, das sie im Aufklärungsprozess radikal ausgeschieden hat. Da dieses verdrängte mimetische Erbe Zuflucht in der Kunst fand, scheint es, als wolle Adorno Philosophie der Kunst angleichen. Um diesem möglichen Missverständnis zuvorzukommen, betont Adorno jedoch ausdrücklich, daß Philosophie durch die Wiederaneignung der Mimesis weder zur Kunst werden solle noch könne. Denn das würde zu einer erneuten Verdrängung, in diesem Fall ihres rationalen, begrifflichen Momentes führen. Zwar „ist das ästhetische Moment [...] der Philosophie nicht akzidentell“, aber für Adorno ist es ebenso unzweifelhaft, dass „Philosophie, die Kunst nachahmte, von sich aus Kunstwerk werden wollte, [...] sich selbst [durchstriche]“ (GS 6, 26). Die Philosophie verfehle damit ihre eigentliche Bestimmung, nämlich die Versöhnung von Begriff und Gegenstand denkend zu bewirken. Bereits in seiner Habilitationsschrift über Kierkegaard weist Adorno unmissverständlich auf den Unterschied zwischen Philosophie und Kunst hin: „Wann immer man die Schriften von Philosophen als Dichtungen zu begreifen trachtete, hat man ihren Wahrheitsgehalt verfehlt. Das Formgesetz der Philosophie fordert die Interpretation des Wirklichen im stimmigen Zusammenhang der Begriffe“ (GS 2, 9). Das ist noch für die Negative Dialektik bestimmend. Die Differenz zu der oben angeführten Auffassung, Adorno gebe das begriffliche Denken auf, ist deutlich zu erkennen. Adorno sucht Kunst und Philosophie als verschiedene Sphäre des Geistes wieder einander anzunähern, sie zu vermitteln. Vermittlung bedeutet aber keineswegs Vermischung. Vermittlung zielt auf die Gemeinsamkeiten bei gleichzeitiger Anerkennung der Differenzen. Insofern besteht zwischen Philosophie und Kunst ein produktives Spannungsverhältnis: Kunst bedarf der Philosophie, „ um zu sagen, was sie nicht sagen kann, während es doch nur von der Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt“ (GS 7, 113).

Auf eine ähnliche Weise formuliert Adorno das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft. Für die Kunst wie für die Philosophie besteht in einer vom Tauschprinzip bestimmten Gesellschaft das Problem, dass ihre errungene Freiheit noch nicht die Freiheit der ganzen Gesellschaft ist. Werden Kunst und Philosophie sich ihrer Partikularität nicht bewusst, verfallen sie der Ideologie. Ihr Entronnensein aus den Zwängen der naturhaften Gesellschaft, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Entmächtigung. Denn die gesellschaftliche Arbeitsteilung sperrt sowohl die Kunst als auch die Philosophie in kulturelle Sonderbereiche ein, sei es die Wissenschaft oder das Museum. Kunst wird darüber hinaus geduldet als „Naturschutzpark“ des Irrationalen. Sie besitzt keine weitere Relevanz mehr für das Leben.

III.

Seitdem Kunst sich aus den Zwängen des kultisch-religiösen Ritus befreite und zu einem autonomen gesellschaftlichen Bereich ausdifferenzierte, droht ihr gleichfalls die Gefahr der Verklärung gesellschaftlicher Herrschaft. „Vermöge ihrer Absage an die Empirie [...] sanktioniert sie deren Vormacht“ (GS 7, 10). Ihre Autonomie wird ihr zum Verhängnis, wenn Kunst sich in ihrer Freiheit als absolut autark verkennt. Die Autonomie der Kunst gerät nämlich in Widerspruch mit der gesellschaftlichen Unfreiheit. Diese Unfreiheit zerstört zunehmend die Bedingungen künstlerischer Autonomie.[2] „Die Autonomie [...] zehrte von der Idee der Humanität. Sie wurde zerrüttet, je weniger Gesellschaft zur humanen wurde“ (GS 7, 9). Durch diesen Widerspruch gerät das Wozu der Kunst ins Ungewisse. Die durch die Autonomiebestrebung hervorgerufene Isolierung von der Gesellschaft birgt Adorno zufolge „die tödliche[.] Gefahr ihres Gelingens“ (GS 12, 24). Wird der Kunst die Autonomie zum Selbstzweck, hält sie naiv, selbstgenügsam und unbekümmert um den Zustand der sie umfassenden Gesellschaft, an ihr fest, verkommt sie zur „leere(n) fröhliche(n) Fahrt“, wie Adorno es mit Kafka ausdrückt. Die autonome Kunst droht langsam zu erblinden. Sie ereilt die „Gefahr des Gefahrlosen“ (GS 14, 143). Die Befreiung erweist sich letztlich nicht als Erweiterung, sondern als Schrumpfung: Anstatt dem Subjekt zum Ausdruck zu verhelfen, schafft die Autonomie das Subjekt als willkürliches und kunstfremdes ab und ersetzt es durch bloße Technik. Darin spiegelt sich die Tendenz der Ersetzung des künstlerischen Zwecks durch die technischen Mittel. In der Emanzipation der Kunst steckt ein zwanghafter Zug alles kunstfremde, an Natur und Gesellschaft Gemahnende auszuschließen; Niederschlag „technokratische[r] Gesinnung“ (GS 14, 144) bisheriger Aufklärung. Kunst wird hier „Komplize der Ideologie“ – sie „täuscht vor, Versöhnung wäre schon“ (GS 7, 203). Gibt der Künstler diesem Zwang der Verdrängung widerstandslos nach, gräbt er sich die Quellen der Erfahrung ab, die die Bedingung für das Gelingen seiner Kunst wären. Die Autonomie der Kunst schlägt um in Positivismus, subjekt- und bedeutungsloses Spiel mit Formen und Farben. In ihm werden die kompositorische Idee und der künstlerische Ausdruck zugunsten der reinen Kompositionstechnik verabschiedet. Damit „gerät [sie] an den Rand von Gleichgültigkeit, degeneriert unvermerkt zur Bastelei, [...] zum Tapetenmuster“ (GS 11, 426). Wie Adorno an der Entwicklung musikalischer Werke nach dem Zweiten Weltkrieg bemerkt, drückt sich in ihnen die „Unverbindlichkeit eines Radikalismus [aus], der nichts mehr kostet. [...] denn er regt sich heute kaum noch jemand über die auf allen Musikfesten ausgestellte Zwölftontechnik auf. Sie wird toleriert als Privatbeschäftigung von Spezialisten, [...]; niemand [...] wird selber angefochten, niemand erkennt sich darin wieder, spürt einen verbindlichen Anspruch auf Wahrheit“ (GS 14, 148f.). Kunst wird zum bloßen Spiel, verkommt zum luxuriösen Kitsch. Damit vollzieht sich in der Kunst die allgemeine Tendenz der Dialektik der Aufklärung, der Abschaffung des Subjekts. Sie bleibt aber in der Kunst nicht das letzte Wort. Kunst partizipiert zwar an der Dialektik der Aufklärung, indem sie eine Kritik am Mythos formuliert, aber Kunst enthält Adorno zufolge auch das Potenzial seiner Rettung (vgl. GS7, 180f.). Dieses Potenzial kann sie aber nur realisieren, wenn sie sich unversöhnlich gegen die verwaltete Welt richtet. „In der verwalteten Welt ist die adäquate Gestalt, in der die Kunstwerke aufgenommen werden, die der Kommunikation des Unkommunizierbaren, die Durchbrechung des verdinglichten Bewußtseins“ (GS 7, 292). Diesem Ideal entsprechen beispielsweise die Werke von Kafka, Beckett und Schönberg. 

Diese Kritik wäre deshalb falsch verstanden, wenn man sie im Sinne konservativer Technikfeindlichkeit interpretieren würde. Adorno war sich der zentralen Bedeutung von Fragen der technischen Gestaltung für das Gelingen des Kunstwerkes äußerst bewusst. Für ihn hat gerade das Formprinzip Anteil an der Versöhnung. Die Kritik Adornos zielt auf die bewusstlose Verabsolutierung des Technischen. Denn Freiheit, die auf Verdrängung und Ausschließung beruht, dementiert sich selbst.

„Nicht der Ausdruck als solcher müsste aus der Musik als Hexenspuk exorziert werden – sonst bliebe nichts als die Tapetenmuster tönend bewegter Formen übrig -, sondern das Moment des Verklärenden, das Ideologische am Ausdruck ist fadenscheinig geworden. [...] Es käme darauf an, dem Ausdruck die Dichte der Erfahrung zurückzugewinnen, wie man es schon in der expressionistischen Phase versuchte, nicht aber sich damit zu begnügen, an Stelle des kultischen Scheins von Menschlichem den Kultus der Unmenschlichkeit zu betreiben“ (GS 14, 156).

Das Problem der Grenzenlosigkeit der künstlerischen Freiheit und der Beliebigkeit des Ausdrucks werden für Adorno vor allem nach dem Weltuntergang, der sich in den Vernichtungslagern des 20. Jahrhunderts ereignete, unerträglich, denn jetzt ist unweigerlich klar, daß es nichts Harmloses mehr gibt. Oder in den Worten Brechts: „Was sind das für Zeiten, wo/Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist/Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“ (Brecht zit. in GS 7, 66). Auf den gleichen Sachverhalt reagierte Adornos Diktum: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben“ (GS 10.1, 30). – Leider wird häufig nur der erste Teil des Satzes zitiert. In der Verkürzung erscheint er als ein Verbot der Kunst, das sich der Philosoph anmaßt. Aber es handelt sich eher um eine Selbstkritik des Denkens. Dieser Satz sollte deshalb nicht als ein moralisches Verbot, ein Tabu, sondern als ein Hinweis auf ein Dilemma gelesen werden. Als den Hinweis auf die Unmöglichkeit eines angemessenen Ausdrucks dieser Gewalterfahrung. „Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu werden“ (GS 10.1, 30). „Angst und Leid sind im Extrem angewachsen und lassen sich von der Psyche des einzelnen kaum mehr sich bewältigen. Das nötigt zur Verdrängung, und diese [...] steht hinter der Idiosynkrasie gegen den Ausdruck, der mit dem Leiden eins ist“ (GS 14, 156). Dass es sich bei dem Verdikt über die Lyrik nach Auschwitz eher um eine Reaktion auf ein Dilemma handelt, wird durch die folgenden Sätze Adornos bekräftigt. „Den Satz, nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben, sei barbarisch, möchte ich nicht mildern; [...] Aber wahr bleibt auch Enzensbergers Entgegnung, die Dichtung müsse eben diesem Verdikt standhalten, so also sein, daß sie nicht durch ihre bloße Existenz nach Auschwitz dem Zynismus sich überantworte. Ihre eigene Situation ist paradox“ (GS 11, 422f.). Die eigene Unmöglichkeit zu gewahren und ihr dennoch standzuhalten, drückt für Adorno den Wahrheitsgehalt avancierter Kunst aus. Einzig das Aushalten der Aporie verleiht der Kunst wie der Philosophie ihre Daseinsberechtigung.

Den Ausweg einer Politisierung der Kunst, wie ihn etwa Brecht und Sartre verfolgt haben, hält Adorno für verfehlt. Problematisch sei bereits die Vernachlässigung des künstlerischen Anspruchs zugunsten der politischen Wirksamkeit, weil Kunst damit zur Propaganda mutiere und abermals ihrer Verdinglichung gehorchen müsse. Schwerer wiege jedoch die sich in dem Anliegen ausdrückende politische Naivität. „Dem politischen Engagement zuliebe wird die politische Realität zu leicht gewogen“ (GS 11, 418).

„Mitgewoben wird an dem Schleier der Personalisierung, dass verfügende Menschen entscheiden, nicht die anonyme Maschinerie, und dass auf den sozialen Kommandohöhen noch Leben sei; Becketts Krepierende erteilen darauf den Bescheid. Sartres Ansatz verhindert ihn daran, die Hölle zu erkennen, gegen die er revoltiert.“ (GS 11, 415).

Die Abschaffung der Kunst durch ihre Politisierung löst keineswegs die Dialektik des Scheins. Sie löst nicht den Knoten, sondern zerschlägt ihn. Gegen die Forderung einer engagierten Kunst verteidigt Adorno ironisch das Recht des l‘art pour l‘art.[3]

„In dem Augenblick, da zum Verbot geschritten wird und dekretiert, es dürfe nicht mehr sein, gewinnt die Kunst inmitten der verwalteten Welt jenes Daseinsrecht zurück, das ihr abzusprechen selber einem Verwaltungsakt ähnelt. Wer Kunst abschaffen will, hegt die Illusion, die entscheidende Veränderung sei nicht versperrt. [...] Die Abschaffung der Kunst in einer halbbarbarischen und auf die ganze Barbarei sich hinbewegenden Gesellschaft macht sich zu deren Sozialpartner“ (GS 7, 372f.). „Das wilde Gebrüll der ‚Maßnahme‘ überschreit das Unheil, das der Sache widerfuhr und das er [Brecht, J.F.] krampfhaft als Heil ausgeben möchte“ (GS 11, 421).

Dem entgegnet Adorno mit dem Einwand, dass gerade die Kunstwerke in die Realität eingriffen, wenn sie die politische Wirkung nicht direkt intendierten, ja sich der Kommunikation ihrer Gehalte weitestgehend versagten. Kriterium des Wahrheitsgehalts der einzelnen Kunstwerke ist für Adorno nicht ihre politische Wirkung, sondern ihre ästhetische Stimmigkeit, ihre Artikulation und ihre Ausdrucksstärke. Wahrhaft autonom wäre die Kunst erst, wenn sie frei wäre, sich ihrem Gegenüber ganz zu öffnen, um das, was sie in dieser Entäußerung erfahren hat, angemessen auszudrücken.

Die Forderung einer Politisierung der Kunst verkennt, dass bereits im Autonomieprinzip ein Kritikmoment enthalten ist, das es gilt festzuhalten. Indem sich die Kunst dem bloßen Mitmachen verweigert und nichts anderes sein will als Kunst, wirft sie Sand ins Getriebe der Gesellschaft. Insofern ist Kunst für Adorno „Statthalter einer besseren Praxis“ (GS 7, 26). Durch ihr bloßes Dasein kritisiere sie einen gesellschaftlichen Zustand, der Praxis auf abstrakte Arbeit reduziere. „Das minimale Glücksversprechen darin freilich, das an keinen Trost sich verschachert, war um keinen geringeren Preis zu erlangen als den der vollkommenen Durchartikulation bis zur Weltlosigkeit. Jedes Engagement für die Welt muß gekündigt sein, damit der Idee eines engagierten Kunstwerks genügt werde“ (GS 11; 425 f.).

Die Kunst wird somit für Adorno gerade in ihrer Weltabgewandtheit gesellschaftlich relevant. Dieses schwer zu verstehende Paradox wird verständlicher, wenn man sich die dialektische Struktur der Denkbewegung vergegenwärtigt. Dialektik besteht in der Vermittlung extremer Gegenpositionen. Vermittlung meint somit keinen Kompromiss, nicht den goldenen Mittelweg. Adorno zitiert in diesem Zusammenhang immer gerne ein Bonmot Arnold Schönbergs, der meinte, daß der Mittelweg der einzige Weg sei, der nicht nach Rom führe (vgl. GS 12, 13). Vermittlung sucht den Übergang zum Gegenpol, der die verdeckte Übereinstimmung der sich ausschließenden Positionen offenbart, nicht in der Mitte, sondern am äußersten Ende. Nur die Extreme berühren sich. Gegen diese Gedankenfigur richtet sich die oben erwähnte Kritik. Sie sei, so die Kritiker, im Kern mythisch und tendiere zur Immunisierung gegen Kritik.

Für Adorno sind Kunstwerke „fensterlose Monaden“ (GS 7, 15), die die Welt gerade durch ihre Weltabgewandtheit abbilden. Sie repräsentieren das, wovon sie sich abwenden, unbewusst. „Keine Bestimmung des Besonderen eines Kunstwerks, die nicht ihrer Form nach, als Allgemeines, aus der Monade herausträte [...] Die monadologische Konstitution der Kunstwerke an sich weist über sich hinaus. Wird sie verabsolutiert, so fällt die immanente Analyse der Ideologie als Beute zu“ (GS 7, 269). Kunstwerke sind gerade in ihrer Besonderheit mit dem gesellschaftlichen Allgemeinen vermittelt, deshalb reicht die immanente, rein ästhetische Analyse von Kunstwerken nicht hin, sie muss um eine kunstsoziologische, gesellschaftskritische Analyse erweitert werden. „Wird sie (die Kunst, J.F.) strikt ästhetisch wahrgenommen, so wird sie ästhetisch nicht recht wahrgenommen“ (GS 7, 17). Ästhetische Theorie hat nicht zuletzt die Aufgabe, zur „gesellschaftlichen Besinnung“ (GS7, 269) der Kunst beizutragen, d.h. ihr die Illusion der Autarkie zu rauben.

Kunstwerke betreiben „unbewußte Geschichtsschreibung“ (GS 7, 384). In ihnen vollziehen sich die allgemeinen Entwicklungen der Gesellschaft, ohne dass es ihnen überhaupt zu Bewusstsein käme. Und in ihnen wird das Verdrängte der Gesellschaft erfahrbar. Gerade das macht Kunst zur wichtigen Erkenntnisquelle. „Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form“ (GS 7, 16). Kunst ist Adorno zufolge nicht in einem Jenseits der Dialektik der Aufklärung beheimatet. Die gewaltförmige Herausbildung des Geistes, die als unerkannte zu seiner Selbstzerstörung treibt, vollzieht sich auch im künstlerischen Formungsprozess. Das Geistige der Kunst ist ihr Formprinzip. Indem das Formgesetz das Material, formt und artikuliert, verleiht es ihm Bedeutung und verhilft dem Besonderen, der Differenz zum Ausdruck. Allerdings bedingt diese Formgebung gleichzeitig eine dialektische Bewegung, die allem Geistigen innewohnt. „Stets limitiert [die Form, J.F.], was geformt wird. [...] Form ist ihre Amoralität. [...] Kunst gerät in die Schuld des Lebendigen, nicht nur, weil sie durch ihre Distanz die eigene Schuld des Lebendigen gewähren läßt, sondern mehr noch, weil sie Schnitte durchs Lebendige legt, um ihm zur Sprache zu helfen, es verstümmelt“ (GS 7, 217). Keine Freiheit ohne Entfremdung des Geistes von der physischen Natur. Aber gleichzeitig gilt, keine Freiheit ohne Entäußerung des Geistes an die Natur, ohne das „Eingedenken der Natur im Subjekt“ (GS 4; 58). Versöhnung meint, Vergeistigung der Natur und Versinnlichung des Geistes in einem, Identität, die nicht auf einem Opfer beruht. Die Entformalisierung, die Abschaffung des Geistes ist kein geeigneter Weg, um der Dialektik des Scheins zu entrinnen. Aber wie ich bereits oben gezeigt habe, ist die Formalisierung allein keineswegs das Heilmittel. Dies wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Adorno in den Monaden keineswegs die gelungene Versöhnung, sondern eher das Produkt des gesellschaftlichen Unwesens erblickt. „Die Eliminierung alles Vorgegebenen, die Reduktion der Musik gleichsam auf die absolute Monade, läßt sie erstarren und affiziert ihren innersten Gehalt. Als autarkische Domäne gibt sie einer nach Branchen aufgeteilten Einrichtung der Gesellschaft recht“ (GS 12, 27).

Die Autonomie der Kunst führt in einer verhärteten, verwalteten Welt zur inneren Verhärtung und Erstarrung und letztlich zum Tod der Kunst. In ihr stirbt die Fähigkeit des künstlerischen Ausdrucks. Adornos Ästhetik sucht gerade Wege, um diesem zwanghaften Umschlag der Autonomie in den Tod durch Verdinglichung zu verhindern. Die Figur des Standhaltens lässt sich somit als Versuch verstehen, auf dem schmalen Grad der Vermittlung stehen zu bleiben und sich der letzten Konsequenz zu verweigern. Das meint Adorno, wenn er in der Negativen Dialektik von der Rettung der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes spricht. Der Geist, der die Wunde schlug, ist als einziger in der Lage, sie zu heilen, da in ihm die Möglichkeit der Selbstreflexion angelegt ist. In der Selbstreflexion, in der sich das Denken gegen sich selbst richtet, bricht sich die Konsequenz die Spitze ab. Es geht darum, die Gedanken bis zur letzten Konsequenz zu denken, damit man ihre zerstörerische Wirkung erkennt und sie in der Praxis nicht vollziehen zu müssen. Das Konsequenzdenken ist in der Philosophie Adornos dialektisch gebrochen, indem die vermeintliche Notwendigkeit des konsequenten Vollzugs der immanenten Kritik unterzogen wird. Negative Dialektik betont die Fähigkeit, gegen sich selber zu denken und seinen Standpunkt zu hinterfragen. Ohne diesen Einspruch Adornos gegen die Konsequenz würde der Einwand Peter Bürgers, im Denken Adornos vollziehe sich die „Mystik des Umschlags“ (Bürger 1983, 187) berechtigt sein. Das Unbehagen an dieser scheinbar mystischen Gedankenfigur, nach der sich die Extreme berühren und die Gegensätze ineinander übergehen, kann Adorno aber nicht restlos beseitigen, zumal er in diesem Punkt nicht immer eindeutig ist. Ist die Freiheit nur durch den gesellschaftlichen Zwang hindurch erreichbar (GS 6, 148), so liegt hierin die Gefahr den Zwang als notwendiges Übel zu rechtfertigen. Allerdings ist die vermeintliche Alternative nicht minder gefährlich. Sie bestünde darin das Heil in einem antizivilisatorischen „Zurück zur Natur“ zu suchen. Die sich in der Suche nach dem Heil niederschlagende Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit und Geborgenheit wendet sich nicht selten mit äußerster Gewalt gegen die ätzende Stimme der Kritik, gegen Abweichler und Fremde. Das Idyll der unhinterfragbaren Gemeinschaft kann, wenn Entfremdung des Geistes bereits eingetreten ist, nur noch mit Ausmerzung des Nichtidentischen hergestellt werden. Aus diesem Grund ist die Dialektik der Aufklärung für Adorno nur durch ein mehr an Vernunft und Aufklärung zu durchbrechen. In dieser zweiten Aufklärung entzieht sich das Denken und Handeln den starren Alternativen des Entweder-Oder. „Durch Vergeistigung allein, nicht durch verstockte Naturwüchsigkeit durchbrechen die Kunstwerke das Netz der Naturbeherrschung und bilden Natur sich an; nur von innen kommt man hinaus“ (GS 7, 411, vgl. Gs 7, 152). Indem sie ihre subjektiven Ausdrucksmöglichkeiten bis ins Extrem steigern und ihrem Formgesetz unbeirrt folgen, sind die Kunstwerke in der Lage, der unterdrückten Natur zum Laut zu verhelfen.

Als vergeistigte opponieren die authentischen Werke der Moderne gegen ihre Reduktion auf bloße Anschaulichkeit. Sie verhängen im Prozess ihrer zunehmenden Vergeistigung geradezu ein Tabu über die naive Mimesis. „Kunst kann, als wesentlich Geistiges, gar nicht rein anschaulich sein. Sie muß immer auch gedacht werden: sie denkt selber“ (GS 7, 152)

Die Autonomie der Kunst bedingt zum einen den Übergang vom Schönen zum Häßlichen und zum anderen die zunehmende Abstraktheit. Sie entschlägt sich ihrer Verständlichkeit, verweigert sich dem bloßen Verstehen. Adorno setzt im Anschluss an Hegel dennoch voraus, dass sich Kunst deuten läßt und dass sich in ihr wesentliche geschichtliche Erfahrungsgehalte kristallisiert haben. „Sonst wäre Kunst tatsächlich ein an sich beliebiger, für die anderen gleichgültiger und womöglich historisch rückständiger Zeitvertreib“ (GS 7, 394). Authentische Kunstwerke haben etwas zu sagen, vermöge ihres formenden Geistes. Die Kunstwerke sprechen die Wahrheit jedoch nicht unmittelbar aus. Moderne Kunstwerke sind nicht mehr unmittelbar verständlich. Sie werden zu Rätseln, die ihrer Deutung verlangen. Deutung des Wahrheitsgehaltes ist aber „allein durch philosophische Reflexion zu gewinnen. Das, nichts anderes rechtfertigt Ästhetik“ (GS 7, 193). An dieser Stelle wird deutlich, dass Adorno keineswegs einen unmittelbaren Zugang zum Wahrheitsgehalt der Kunst propagiert. Wahrheit ist für Adorno gerade nicht in einem Jenseits des Begriffs beheimatet oder nur in der Kunst erfahrbar, wie die Kritiker unterstellen. Kunst bedarf der Philosophie, die sie interpretiert, „um zu sagen, was sie nicht sagen kann, während es doch nur von der Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt“ (GS 7, 113). Ähnlich wie Freud den Versuch unternimmt, das Unbewusste, Verdrängte im Bewusstsein erfahrbar zu machen, sucht Adorno das Nichtidentische im Medium des philosophischen Begriffs, das heißt in der meinenden und urteilenden Sprache auszudrücken.

IV.

Ich möchte nun zu der These übergehen, dass die Wahrheit der Versöhnung, sprich das Absolute, in der Kunst ansichtig sei. So liest man etwa bei Wellmer: „Das Kunstwerk, als Nachahmung des Naturschönen, wird so zum Bild einer beredeten, aus ihrer Stummheit befreiten, einer erlösten Natur, ebenso wie zum Bild einer versöhnten Menschheit“ (1985, 15). Diese Ansicht steht jedoch in Widerspruch zu den folgenden Ausführungen Adornos, die klar zum Ausdruck bringen, dass Kunstwerke keine Epiphanie sind. „Die Kunstwerke sagen, was mehr ist als das Seiende, einzig, indem sie zur Konstellation bringen, wie es ist [...]. Weder sind die Kunstwerke selbst ein Absolutes“, − und jetzt kommt das Entscheidende − „noch ist es in ihnen unmittelbar gegenwärtig“ (GS 7, 201). „Kunstwerke verbieten sich durch Autonomie ihrer Gestalt, das Absolute in sich einzulassen, als wären sie Symbole. Die ästhetischen Bilder stehen unterm Bilderverbot“ (GS 7, 159).

Einzig in der Kritik am Bestehenden ist die Hoffnung auf ein versöhntes Leben enthalten. Künstlerische und philosophische Erkenntnis trachten beide danach, die Macht des verdinglichten Bewußtseins, das die Fähigkeit der Erfahrung des Leides zusehends verdrängt, zu brechen (vgl. GS 6, 29).

Philosophie und Kunst erweisen sich in ihrer Absage an das Leid als solidarisch mit dem Unterdrückten und Verdrängten. Das Leid ist Index des unversöhnten gesellschaftlichen Zustands. Durch diese Aufgabe, das Leiden der Menschen auszudrücken, binden sich Philosophie und Kunst und schränken ihre Autonomie ein, ohne sie aufzugeben. Die Freiheit von Kunst und Philosophie birgt eine Verantwortung, die ihr ihren Sinn verleiht. „Das Übermaß an realem Leiden duldet kein Vergessen“ (GS 11, 423). Die Erkenntnis des Leidens stellt aber Philosophie und Kunst gerade im 20. Jahrhundert vor ein nahezu unlösbares Ausdrucksproblem. „Das Bedürfnis, Leiden beredet werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit“ (GS 6, 29). Philosophie und Kunst haben ihre Existenzberechtigung in dem Bemühen, das Leiden der Menschen auszudrücken und dem Vergessen zu entreißen. „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.“ (GS 6, 355). Aber wie kann man das sinnlose Leiden ausdrücken, ohne es ästhetisch zu verkleinern oder es mit Sinn zu versehen? Wie lässt sich die Zerstörung allen Sinns darstellen, wenn die Darstellung a priori Sinn unterstellt?

Bei aller Gemeinsamkeit zwischen Philosophie und Kunst konstatiert Adorno einen nicht bloß graduellen, sondern kategorialen Unterschied in Bezug auf das Problem des Ausdrucks des Leidens. „Während diskursive Erkenntnis an die Realität heranreicht, auch an ihre Irrationalitäten, die ihrerseits ihrem Bewegungsgesetz entspringen, ist etwas an ihr spröde gegen rationale Erkenntnis. Dieser ist das Leiden fremd, sie kann es subsumierend bestimmen, Mittel zur Linderung beistellen; kaum durch seine Erfahrung ausdrücken: eben das hieße ihr irrational. Leiden, auf den Begriff gebracht, bleibt stumm und konsequenzlos: [...] Die Verdunklung der Welt macht die Irrationalität der Kunst rational: die radikal verdunkelte“ (GS 7, 35).

Diskursive Erkenntnis basiert notwendig auf Stringenz, Kontinuität, Kohärenz der Begriffe; sie bedarf der logischen Stimmigkeit. Dadurch korrespondiert sie vorab mit der Vorstellung eines kohärenten und stimmigen Sinnzusammenhangs. Dieser ist durch seine logische Abfolge nachvollziehbar und verstehbar. Verstehen heißt, begehbare, sichere Brücken bauen. Diskursive Erkenntnis besitzt dadurch eine Affinität zum Phänomen der Verdrängung (vgl. GS 11, 307). Denn um den Schein des Verstehbaren, in sich Stimmigen zu erhalten, muss der Geist das, was durch die Begriffe nicht erfasst wird, als irrational ausscheiden. Die philosophische Erkenntnis reicht nicht bis an die volle Dimension des Grauens heran, die in seiner „vollendeten Sinnlosigkeit“ (Hannah Arendt) besteht. Der „Zivilisationsbruch“ lässt die Brücken einstürzen. Das ist der Grund, warum Adorno der Kunst als einer nicht-diskursiven Erkenntnisform eine Vorrangstellung in Bezug auf die Darstellung des Leidens einräumt. „Nur Kunstwerke, die als Verhaltensweise zu spüren sind, haben ihre raison d’être“ (GS 7, 26). Sie vermögen den Prozess der radikalen Zerstörung jeglichen Sinns in der Gesellschaft so darzustellen, dass sich an den von ihr ausgelösten Schocks Erkenntnis entzünden kann (vgl. GS 11, 282ff.). „Wen einmal Kafkas Räder überfuhren, dem ist der Friede mit der Welt ebenso verloren wie die Möglichkeit, bei dem Urteil sich zu bescheiden, der Weltlauf sei schlecht: das bestätigende Moment ist weggeätzt“ (GS 11, 426). Statthalterschaft durch radikale Unversöhnlichkeit mit der Welt.

V.

Nicht durch den unmittelbaren Zugriff auf die Utopie des nichtentfremdeten Lebens erweist sich die Kunst als Statthalter, sondern indem sie sich dem verdinglichten Zustand mimetisch angleicht, „durch Identifikation“ mit ihm. In dem unversöhnlichen Aussprechen dessen, was wirklich ist, in der Darstellung, was aus der Welt geworden ist, hält sie die Möglichkeit einer versöhnten Welt offen.

„Ihre Gebilde überlassen sich mimetisch der Verdinglichung, ihrem Todesprinzip. [...] Die Herolde der Moderne, Baudelaire, Poe, waren als Artisten die ersten Technokraten der Kunst. Ohne Beimischung des Giftstoffs, virtuell die Negation des Lebendigen, wäre ihr Einspruch der Kunst gegen die zivilisatorische Unterdrückung tröstlich-hilflos. [...] Während sie der Gesellschaft opponiert, vermag sie doch keinen ihr jenseitigen Standpunkt zu beziehen; Opposition gelingt ihr einzig durch Identifikation mit dem, wogegen sie aufbegehrt“ (GS 7, 201).

Die Schwierigkeit dieses Gedankens besteht darin, dass er sich wohl kaum noch von der Identifikation mit dem Aggressor unterscheiden lässt, die Adorno in seinen Analysen der Herrschaftstechniken des Nationalsozialismus kritisch als widerstandslose Anpassung begreift. Eine mögliche Lösung liegt jedoch in dem Wörtchen „virtuell“. Durch die Transformation in die Sphäre der Kunst ändert sich der Charakter der Identifikation und eröffnet die Möglichkeit, das Tödliche dieser Identifikation in der Realität zu erkennen.

Die Darstellung der Entmenschlichung darf sich nicht positiv auf einen Begriff des Menschen beziehen und ihn, wenn auch utopisch, als geltend unterstellen, sondern muss die herrschende Entmenschlichung schonungslos und trostlos aussprechen. Nicht die Beruhigung, es sei schon nicht so schlimm, es gäbe doch noch die unzerstörbare Kraft des Humanen, ist dem Geschehen in den Todeslagern angemessen. Nur die Zerstörung jeglicher Illusion befördert ein Bewusstsein, dem Adorno eine Änderung der Naturverfallenheit zutraut. Jede andere Form der Darstellung, die von einem unzerstörbaren anthropologischen Kern ausgeht, den es zu verteidigen gilt, verfehlt die eigentliche Aufgabe der Kunst, die Adorno zufolge im Ausdruck des sinnlosen Leidens besteht. „Moderne ist Kunst durch Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete; dadurch, nicht durch Verleugnung des Stummen wird sie beredet“ (GS 7, 39; H. v. J.F). „Nur Fremdheit ist das Gegengift gegen Entfremdung“ (GS 4, 103). Denn „die Entfremdung erweist sich an den Menschen gerade daran, daß die Distanzen fortfallen“ (GS 4, 45).

Moderne Kunstwerke wirken oft grausam, häßlich, brutal, abstoßend; sie widersetzten sich der genüsslichen Rezeption. Das interessenlose Wohlgefallen Kants können und wollen sie nicht mehr wecken (vgl. GS 7, 27). Die Gewalt und das Grauen werden aber in diesen Kunstwerken erst vernehmbar, durch die Scham, sie beim Namen zu nennen. Wenn Adorno die Kunst auf den Ausdruck des Leidens verpflichtet, heißt das nicht, daß sie unaufhörlich die Katastrophe im Munde führen müssen. Das Verschweigen der Katastrophe lässt das Grauen stärker hervortreten als seine vermeintlich realistische Fotografie. So schätzt Adorno gerade an Becketts „Endspiel“, dass dieser die Katastrophe nicht benennt (vgl. GS 11, 289f.):

„Beckett hat auf die Situation des Konzentrationslagers, die er nicht nennt, als läge über ihr Bilderverbot, so reagiert, wie es allein ansteht. Was ist, sei wie das Konzentrationslager. Einmal spricht er von lebenslanger Todesstrafe. Als einzige Hoffnung dämmert, daß nichts mehr sei. Auch die verwirft er. Aus dem Spalt der Inkonsequenz“ – da ist das Motiv der abgebrochenen Spitze, das Innehalten vor der letzten Konsequenz −, „Aus dem Spalt der Inkonsequenz, der damit sich bildet, tritt die Bilderwelt des Nichts als Etwas hervor, die seine Dichtung festhält. Im Erbe von Handlung darin, dem scheinbar stoischen Weitermachen, wird aber lautlos geschrieen, daß es anders sein soll“ (GS 6, 373f.).

Erst durch diese Haltung wird die Kunst der Anonymität des Geschehenen gerecht und entgeht gleichzeitig dem wohligen Nihilismus, den Bubner Adorno vorwirft. Das Motiv der Inkonsequenz ist ebenfalls thematisch anwesend, wenn Adorno hervorhebt, „daß es keine vollkommenen Werke gibt. [...] die Wendung zum Brüchigen und Fragmentarischen ist in Wahrheit Versuch zur Rettung der Kunst durch Demontage des Anspruchs, sie wären, was sie nicht sein können und was sie doch wollen müssen. [...] Die Gestaltung der Antagonismen schafft sie nicht weg, versöhnt sie nicht“ (GS 7, 283).

Kunstwerke werden nur zu Statthaltern der Utopie, wenn sie sich der Erfahrung des Grauens stellen und ihr standhalten; nicht indem sie Surrogate der Versöhnung liefern (vgl. GS 11, 290). „Kunst wird human in dem Augenblick, da sie den Dienst kündigt. Unvereinbar ist ihre Humanität mit jeglicher Ideologie des Dienstes am Menschen. Treue hält sie den Menschen allein durch Inhumanität gegen sie“ (GS 7, 293). Treue ist der Einspruch gegen die Konsequenz. „Kunst muß das als häßlich Verfemte zu ihrer Sache machen [...], um im Häßlichen die Welt zu denunzieren, die es nach ihrem Bilde schafft und reproduziert, obwohl selbst darin noch die Möglichkeit des Affirmativen als Einverständnis mit der Erniedrigung fortdauert“ (GS 7, 78f.). Kunst ist unversöhnlich, gerade weil sie am Ziel der Versöhnung kompromisslos festhält. „So wenig wie Theorie vermag Kunst Utopie zu konkretisieren; nicht einmal negativ. [...] Durch unversöhnliche Absage an den Schein von Versöhnung hält sie diese fest inmitten des Unversöhnten, richtiges Bewußtsein einer Epoche, darin reale Möglichkeit von Utopie“ (GS 7, 55). Der Widerspruch zu der allgemeinen Ansicht, die meint, in der Kunst ein Bild der Versöhnung zu besitzen, ist deutlich.

Der Stachel, den die Kritik an Adorno darstellt, sollte jedoch nicht gezogen werden. Zeugt er doch vom Irritierenden des Adornoschen Denkens, an dem es sein Lebenselexier besitzt. Insofern trifft sich mein Anliegen mit einer Ansicht Adornos:

„Versöhnung ist ihnen [den Kunstwerken, J.F.] nicht das Resultat des Konflikts; einzig noch, daß er Sprache findet“ (GS 7, 294).

Literatur
  • Adorno, Theodor W. (1997): Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M.
  • Bubner, Rüdiger (1989): Ästhetische Erfahrung, Frankfurt/M.
  • Bürger, Peter (1983): Das Altern der Moderne, in: Adorno-Konferenz 1983, hrsg. von Ludwig von Friedeburg und Jürgen Habermas, Frankfurt/M., S. 177-197.
  • Habermas, Jürgen (1988): Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung: Horkheimer und Adorno, in: Ders., Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M., S. 130-157.
  • Schnädelbach, Herbert (1983): Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion des Rationalen bei Adorno, in: Adorno-Konferenz 1983, hrsg. von Ludwig von Friedeburg und Jürgen Habermas, Frankfurt/M., S. 66-93.
  • Theunissen, Michael (1983): Negativität bei Adorno, in: Adorno-Konferenz 1983, hrsg. von Ludwig von Friedeburg und Jürgen Habermas, Frankfurt/M., S. 41-65.
  • Wellmer, Albrecht (1985): Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt/M.
Anmerkungen

[1]    Andererseits konstatiert Bubner für die heutige Zeit eine eigentümliche Sprachlosigkeit in Bezug auf ästhetische Fragen. „Seit den Tagen des deutschen Idealismus hat es von seiten der Philosophie keine Entwürfe zur Ästhetik mehr gegeben, die den klassischen Vorbildern von Kant bis Hegel ebenbürtig wären. Das Verstummen der Philosophie vor der Kunst hängt offenbar zusammen mit dem längst geschwundenen Vertrauen in die Kraft des systematischen Gedankens, der sich neben anderen Sachgebieten auch auf die Kunst richtet, um sie in die Disziplin des Begriffs zu nehmen“ (Bubner 1989, 9). Dass diese Scheu auch Ausdruck eines Lernprozesses oder die Verarbeitung geschichtlicher Erfahrung geschuldet sein könnte und keineswegs nur als Verkümmerung zu betrachten ist, kommt Bubner nicht in den Sinn. Für ihn ist diese Situation das Resultat der Emanzipation der Künste. 

[2]    Vgl. kritisch hierzu Juliane Rebentisch 2006.

[3]    Ironisch deshalb, weil es Adorno keineswegs um den reinen Selbstbezug der Kunst geht. Er hält weiterhin an einer materialistisch-gesellschaftskritischen Ästhetik fest. Verständlich wird die Strategie Adornos, wenn man sich das methodische Prinzip seiner negativen Dialektik, sein Verständnis von immanenter Kritik und bestimmter Negation, vergegenwärtigt. Denn dann wird deutlich, dass er die Haltung des l’art pour l’art bis in ihr Extrem treiben möchte, um ihr das Eingeständnis ihres Gegenteils abzuringen. 

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/55/jf1.htm
© Jürgen Förster, 2008