Der Raum des Ästhetischen

Über den künstlerischen Umgang mit Räumen

Karin Wendt

Kennzeichnendes Merkmal der Neuzeit ist, so Peter Sloterdijk, „nicht so sehr die Entdeckung unbetretener Räume“, sondern vielmehr „die Erschließung von erweiterten Operationsräumen mittels neuer Verfahren.“ Vor allem in der Kunst werden immer neue Verfahren zur Erfassung und Darstellung des Raumes entwickelt. Unter ästhetischen Gesichtspunkten interessieren Ausmaße und Grenzen, die meist versteckte Konstruktion eines Raumes, die Struktur und Semantik einer Architektur oder das System von Bezugsachsen, die von innen nach außen und zurück führen. So ist die ästhetische Aneignung und Übersetzung von Räumen eine wesentliche Voraussetzung für unser heutiges Verständnis vom Raum.[1]

Wenn die Moderne nun vom Raum des Ästhetischen spricht, spricht sie erstmals kategorial vom Raum, also von seiner formgebenden Eigenschaft als transformatorischer Raum. Ästhetisch machen wir dies sichtbar: Wir stellen die Dinge in einen besonderen Raum, in dem wir unser Wissen von der Welt überprüfen und revidieren können, eine Art Blackbox, wie Michel Serres es beschreibt: „Wenn wir etwas nicht verstehen, wenn wir unsere Wissenschaft auf später verschieben, wenn die Sache zu komplex für die derzeitigen Mittel ist, wenn wir alles zeitweilig in eine Black-box hinein verlegen, dann tun wir so, als handelte es sich um ein System. Öffnen wir dann schließlich die Black-box, so sehen wir, daß sie wie ein Transfomationsraum funktioniert. Das System ist das Nichtwissen, es ist die Kehrseite des Nichtwissens. [...] Das Wissen als solches ist ein Transformationsraum.“ (Michel Serres, Der Parasit)

Vom Raum des Ästhetischen zu sprechen, heißt daher genau genommen, nicht mehr oder noch nicht vom Raum zu sprechen. Der Raum des Ästhetischen ist kein Raum neben anderen, sondern die Erfahrung seiner Möglichkeiten. Diese Erfahrung setzt uns in unserem Verhältnis zum und unseren Umgang mit Raum frei. Wir bemerken, woran wir Räume erkennen, wir werden aufmerksam auf die Art und Weise, wie wir sie betreten, deuten und bewerten. Wir erwägen, was wir von ihnen erwarten und was wir aus ihnen ausschließen, wie und warum wir in bestimmten Räumen agieren und wann wir sie wieder verlassen.

Künstlerische Interventionen

Mit der Loslösung der Kunst aus kirchlichen und staatlichen Bindungen verliert die Kunst zwar den Kontext, der bis dahin ihre Lesbarkeit verbürgte und gesellschaftlich vermittelte, ihre Deutung und Verwendung wird jedoch erstmals in die Verantwortung und Freiheit jedes einzelnen Menschen gelegt. Der Freiraum des Ästhetischen, der damit entsteht, emanzipiert und konkretisiert sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch einmal, und zwar in einer zweifachen Weise: Zum einen wird der im Bild dargestellte Raum zum Darstellungsraum des Bildes, zum anderen etabliert sich ein besonderer Raum für das auszustellende Bild: der „White Cube“ (Brian O’Doherty). Mit der Konkretisierung des Ästhetischen geht jedoch auch eine gewisse Indifferenz gegenüber den Erfahrungszusammenhängen einher, aus denen Künstler ihre Inhalte und Fragestellungen beziehen. Von daher lässt sich heute die gegenstandsfreie Kunst auch als ein Ende der Moderne und der leere Galerie- und Ausstellungsraum als deren räumliches Äquivalent begreifen.

Zwar gab es bereits in den 60er Jahren auch abseits von Galerie und Museum so wichtige ästhetische Strömungen wie die Land Art und das Happening und wegweisende Performance-Kunst, eine breite Besinnung auf den öffentlichen Raum und räumliche Sedimentierungen eines kollektiven wie individuellen Gedächtnisses kann man jedoch seit den 90er Jahren verzeichnen, als Künstler wieder verstärkt in den sozialen Raum eintreten und gezielt ideologisch, funktional oder symbolisch ‚besetzte’ Orte aufsuchen.

Das Verfahren der künstlerischen Intervention verdankt sich einem zweifachen Impuls: Es begreift jeden Raum als möglichen Darstellungsraum und erweitert so den Begriff vom Bild, und es wendet sich gegen eine Kodifizierung der Wahrnehmung durch (räumliche) Abgrenzung, indem es gezielt in außerkünstlerische Kontexte eingreift.

Ästhetische Interventionen in einen Kirchenraum etwa bedeuten eine Art Recycling der Arbeits- und Umgangsformen von Kunst und Kirche: des kirchlichen Umgangs mit Kunst und der künstlerischen Arbeit mit Religion. Sie ermöglichen damit eine selbstkritische Beschäftigung der Kunst mit den Voraussetzungen ihrer Autonomie. Freie Kunst, die sich in einen religiösen Kontext stellt und einmischt, kann nicht zuletzt Einblick in die Konstruktion ihrer Formengeschichte und Aufklärung über die Wirkmächtigkeit ihrer Inhalte gewinnen. So können auf der einen Seite bestimmte Gestalt(ungs)elemente kirchlicher Architektur und Formengeschichte offengelegt werden und auf der anderen Seite religiöse und ästhetische Deutungen zur Erschließung eines religiösen Nutzungsraumes konkret erfahrbar gemacht werden.

Der Raum

Die Geschichte der Kunst lässt sich auch als eine Geschichte von unterschiedlichen Raumvorstellungen beschreiben. Mit der Entdeckung der Zentralperspektive findet man erstmals eine Möglichkeit, den Raum exakt zu vermessen. Von da an gilt das Ideal der Darstellung eines raum-zeitlichen Erzählraums, in dem Gleich- und Ungleichzeitigkeiten wahrnehmbar werden. In den folgenden Jahrhunderten geht es dann immer weniger um den Raum als Gegenstand der Darstellung und immer mehr um den Bildraum als Darstellungsgrund. Mit der Annäherung von Bildebene und räumlicher Tiefenillusion rücken die perspektivischen Grenzen des Bildes in den Blick, bis man sich in der Moderne schließlich ganz von der Vorstellung des Bildes als „Raumbehälter“ verabschiedet, um den räumlichen Wahrnehmungskonflikt selbst in der Fläche zu organisieren.

Das Raumparadigma, das noch im 20. Jahrhundert wichtige Impulse für die Avantgarde liefert, hat für die gegenwärtige Kunst nicht mehr die zentrale Bedeutung. Die am Raumbegriff deutlich werdende Differenz von Zeichen und Realität lässt seine Verwendung im zeitgenössischen Crossover zwischen Kunst, Religion und Politik jedoch erneut fruchtbar werden.

Künstler der Moderne und noch einmal ganz dezidiert die Vertreter des Minimalismus der 60er Jahre thematisieren den Raum als Medium der Wahrnehmung, als Körper auf der einen und als Leere auf der anderen Seite. Hier die Realität des massiven Kubus, dort das Ideal eines freien Vorstellungs-Raumes. Diese Reduktion der Form wird für zeitgenössische Künstler zum Ausgangspunkt neuer Verhältnisbestimmungen. Heute ist es vor allem die Ideologie des Raumes, seine Atmosphäre, seine implizite politische, militärische oder soziale Nutzung, historische Ein- und Überschreibungen, welche einer genaueren historischen, analytischen aber auch mitunter seismografischen Untersuchung unterzogen werden.

Licht und Farben

Von je her sind Künstler von der Raum bildenden wie Raum negierenden bzw. sprengenden Eigenschaft des Lichts fasziniert. So schreibt der Architekt und Autor Louis I. Kahn zum Verhältnis von Licht und Raum: „Materie ist ausgelöschtes Licht. Die Welt ist eine Schatzkammer der Schatten. Deshalb ist Raum ohne Licht kein richtiger Raum." Abhängig vom Licht erscheint ein Gegenstand flüchtig als atmosphärischer Moment, scharf umrissen und plastisch präsent oder ganz diffus und ohne feste Umrisse. Gleißendes Sonnenlicht oder eine künstliche Beleuchtung, indirektes Licht der Dämmerung, klares Mondlicht oder das Zwielicht der Dunkelheit, das „Ungeheuer gebärt“ (Francisco de Goya) – jedes Licht lässt so unterschiedliche Räume entstehen, dass wir bisweilen meinen, uns in voneinander getrennten Welten zu befinden. Im Reflex auf diese Erfahrung kann Licht Raum inszenierend eingesetzt werden. So hat etwa der Bildhauer Gianlorenzo Bernini seine Skulptur der Teresa von Avila so positioniert, dass das natürliche, von oben durch ein Fenster in die Kapelle einfallende Licht den visionären Eindruck der Szene unterstützt.

Die Qualitäten des Lichts sind letztlich besondere Erscheinungen von Farben. Der symbolische Farbengebrauch im Mittelalter wird in der Neuzeit zwar kurzzeitig von der Idee der Lokalfarbigkeit abgelöst, bis in die Moderne hält sich jedoch ein gewisser Verdacht gegen die natürlichen Farben. Sie sind zufällig – sie erfassen nie den ganzen Gegenstand, sondern nur einen Moment seiner Erscheinung. Im 20. Jahrhundert wird deshalb untersucht, ob und welchen Wert Farben an sich haben. Man versucht, den subjektiv ‚gefärbten’’ Augenblick vom konkreten Licht der reinen Farbe zu trennen. In der Konzentration auf Primärfarben und durch sehr gezielte Farbabmischungen schließt man Interferenzen aus, die als Stimmungswerte wahrgenommen werden könnten. So lässt sich relativ präzise zeigen, wie viel Raum jede Farbe für sich einnimmt und ausfüllen kann. Die Unterscheidung zwischen dem Ausdruckswert der Farbe und ihren konstruktiven Eigenschaften gehört zu den Leistungen der konkreten Malerei, an die zeitgenössische Künstler anknüpfen – nun jedoch, um Farben in ihrer Raum verklärenden wie aufklärenden Eigenschaft erneut zu kombinieren und so neue Fragestellungen wirksam werden zu lassen.

Erzählräume

Von der Antike bis in die Gegenwart wird die Unterscheidung zwischen dem sprachlichen und dem bildnerischen Zeichen kontrovers diskutiert. Immer wieder wird das eine gegenüber dem anderen aufgewertet oder das eine in das andere theoretisch überführt.

Lessings berühmte Grenzziehung zwischen „Mahlerey und Dichtung“ rückt aus heutiger Sicht den Erzählraum eines Bildes in den Blick. Die bildnerische Darstellung konzentriert sich auf einen besonders „fruchtbaren Augenblick“, der unsere Wahrnehmung dauerhaft fesselt. In wortsprachlicher Hinsicht bleibt ein Bild dagegen ‚stumm’, es verweigert den Versuch einer diskursiven Erschließung. So vermitteln sich bildnerische ‚Botschaften’ eher auf indirektem Weg, über signifikante „Leerstellen“ (Wolfgang Kemp). Das, was fehlt, was nicht gezeigt wird oder ausgelassen scheint, zwingt unseren Blick, sich dem, was es zu sehen gibt, immer und immer wieder zu nähern. In dieser differenten Wiederholung des Sehens, die das Bild einfordert, ähnelt es dem geschriebenen oder gesprochenen Wort.

Reflexive Räume spiegeln unsere Überzeugungen und Ängste, Ressentiments und Vorurteile. Sie sprechen widerstreitend davon, wie wir leben und wie wir glauben zu leben. Mit der Verbreitung der Medien Film und Video, durch das Fernsehen und zuletzt durch das Internet potenziert sich die Macht der Bilder und der Worte in Gestalt einer neuen Fülle, durch Beschleunigung und Simultaneitäten. Diese gegenwärtige Intensität der audiovisuellen Kommunikation kann zugleich entgegengesetzt, nämlich als Depotenzierung oder sogar als inhaltliche Nivellierung erfahren werden.

Wie genau entstehen aber kommunikative Räume und wie verschwinden sie, wie können sie sichtbar gemacht werden und was machen sie sichtbar? Was verschweigen und tabuisieren sie? Die innere Dialogstruktur der Medien kann zum Anlass für die künstlerische Befragung der öffentlichen und privaten Räume werden, in denen wir uns täglich begegnen, austauschen und über Selbst- und Fremdbilder verständigen. In der Arbeit mit den neuen Medien zeigen uns Künstler diese scheinbar vertrauten Bereiche aus einer anderen, mitunter verstörenden Perspektive. Sie arbeiten Ambivalenzen und Zerstörungen heraus und machen sie sichtbar. Synergien zwischen den Medien werden genutzt, um ein bestimmtes Irritationspotenzial im jeweils anderen Medium zu aktivieren. So erfahren wir etwas von den Grenzen, die nicht nur die Räume charakterisieren, die wir gedanklich er- oder verschließen, sondern unser Denken selbst.


Anmerkungen

[1] Der Text basiert auf meinen Ausführungen im Katalog zur Documenta Begleitausstellung „Der freie Blick“, Martinskirche, Kassel 2002.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/54/kw62.htm
© Karin Wendt, 2008