„Performance“ des Evangeliums

Bericht über zwei aktuelle Bearbeitungen des Themas „Homiletik“

Christoph Fleischer

Albrecht Grözinger. Homiletik. Gütersloh 2008. ISBN 978-3-579-05403-2, 22,95 Euro

Andrea Bieler, Hans-Martin Gutmann. Rechtfertigung der „Überflüssigen“. Die Aufgabe der Predigt heute. Gütersloh 2008.  ISBN 978-3-579-08031-4, 24,95 Euro

Die Arbeit von Albrecht Grözinger versteht sich als Homiletik-Lehrbuch im klassischen Sinn, nun eben auf dem neusten Stand. Dazu gehört ein Blick in die Geschichte der Predigtlehre genauso wie die ausführliche Beschreibung des homiletischen Dreiecks Hörer-In/Prediger-In und Text, vom Kommunikationsmodell her. Wie schon in der Mitarbeit am Handbuch Praktische Theologie (Gütersloh 2007) unterstützt Albrecht Grözinger die Einbeziehung der klassischen Rhetorik. Er scheint nun aber mit dem Begriff „Performanz“ noch ein wenig darüber hinaus gehen zu wollen, was zu bezweifeln ist, da jede Rede der Aufführung bedarf. Dies wird hier orientiert am englischen „Performance“ in Performanz eingedeutscht (bzw. "performativ") und damit aber auch erweitert. Es ist eben nicht allein die Aufführung einer bestimmten Predigt, sondern die Aufführung allgemein als konkrete Redeaufgabe gemeint.

Ohne der Lektüre vorzugreifen ist kurz aufzunehmen, was Albrecht Grözinger unter einer Predigt versteht:

„Das Wort auf der Kanzel hat seine eigene Schnelligkeit – oder sagen wir besser: Langsamkeit.

Das Wort auf der Kanzel hat – hoffentlich – seine eigene Nachdenklichkeit, die anderen Nachdenklichkeiten innerhalb und außerhalb der Kirche entgegentreten kann.

Das Wort auf der Kanzel hat – und dies vor allem! - inmitten eines liturgischen Geschehens seine eigene Atmosphäre und Würde.

Der Blick auf die Mediengesellschaft sollte uns nicht dazu verleiten, unsere Erwartungen an das Medium Predigt zu minimieren, sondern das Medium selbst zu profilieren. Ihr mediales Profil in der Mediengesellschaft wird die Predigt dadurch gewinnen, dass sie einen Raum der Nachdenklichkeit und der Freiheit eröffnet.“ (S. 273)

Dieses Zitat erklärt vielleicht schon ein wenig, wieso die Frage danach, wie denn eine Predigt im Stile Grözingers nun konkret auszusehen hat, m. E. offen bleibt und offen bleiben muss. Dennoch und vielleicht sogar deshalb ist hier viel Handwerk geboten worden. Praktisch sind die kleinen Tabellen im Seminarstil, die das Buch durchziehen:

Das homiletische Grundschema (S. 83),
Strukturmerkmale ästhetischer Rezeption (S. 90),
Kennzeichen einer rhetorischen Predigt (S. 193),
Erzählperspektiven (S. 211),
Regeln der Erzählkunst (S. 217),
Kriterien für den Umgang mit fiktionalen Welten in der Predigt (S.235),
Sprach-Wege von Differenzsensibilität (S. 259),
Kompetenzen im Umgang mit Medien (S. 269),
Die drei Aspekte von Sprachäußerungen (S. 291).

Es ist klar erkenntlich, dass hier nicht in erster Linie innertheologische Diskurse, von der Geschichte der Predigtlehre abgesehen, sondern der Bezug zu aktueller philosophisch, literarisch und ästhetischer Wissenschaft eine Rolle spielt. Die Aufzählung der Namen ruft eine Reihe von Assoziationen ab: Barthes, Beck, Bloch, Blumenberg, Derrida, Eco, Habermas, Gadamer, Iser, Jens, Lyotard, Marx, Nietzsche, Ricoeur, Searle, Sennett, Taylor, Thomä, Turner, Vattimo, Warning und Wittgenstein. Dazu stellt das Buch eine ausführliche Literaturliste und ein Namens-, leider aber kein Stichwortregister.

Im guten Sinn des Wortes Homiletik ist hier von einer Kunst die Rede, und nicht von einer streng vorgeschriebenen Handlung: „Im Licht einer solchen ars praedicandi als Kunst des Lebens und Kunst für das Leben erscheint die Forderung nach einer guten Predigt ... nicht nur als Postulat, sondern als Verlockung zu jener Anstrengung, die in sich die Freude am Entdecken und Gestalten eines kleinen Stückchens Sprache, genannt Predigt, birgt.“ (S. 327)

Obwohl die Predigt mit Rückgriff auf die Sprechakttheorie als Handlung verstanden werden soll, wird nicht deutlich, ob sich diese Predigt wirklich in freier Rede vollzieht, oder doch eher in wohl kunstfertiger Darstellung eines fertigen Manuskripts. Wenn Grözinger in dieser Hinsicht Fragen offen lässt, dann aber nur, um zur Vertiefung und Weiterarbeit anzuregen, was sicherlich im Sinne dieses sehr umfassenden und ausdifferenzierten Lehrbuchs sein wird.


Die Arbeit von Andrea Bieler und Hans-Martin Gutmann knüpft gut darin an, wäre aber unterbewertet, wenn man in ihr nur ein Praxisbeispiel für gelungene Homiletik sehen will. Der Untertitel "Die Aufgabe der Predigt heute" zeigt, dass sich unter der Themenstellung "Rechtfertigung der 'Überflüssigen'" schon die Antwort auf die Frage der Predigtarbeit ergibt. Wenn Grözinger seine Arbeit eher von der Henne her sieht, so nehmen Bieler und Gutmann die Perspektive des Eis ein. Damit ist klar, dass auch dieses Buch eine Homiletik ist, ein Lehrbuch der Predigtkunst, und man sollte sich sogar fragen, ob es nicht in manchem weniger verliebt ist in eine umfassende Lektüre als in die Predigtaufgabe selbst. Die Autoren stellen sich dabei hier mehr theologischen Themen, zeigen aber zugleich, wie schwierig es ist aus dem Wildbach der Rechtfertigungslehre hinauszukommen in das ruhige Gewässer einer Predigt. Das oft zitierte Wort von der "Rechtfertigung der Gottlosen" wird trotz aller Bemühungen weder an einem Bibelzitat noch einem theologischen Autor verifiziert (z.B. in Auslegung von Römer 4,5, Ernst Käsemann oder Eberhard Jüngel). Die Rechtfertigung der "Überflüssigen" dagegen stellt Bezüge zu den Themen der Befreigungstheologie her. Hier scheint die Option für die Armen durch, wie sie aktuell in der wirtschaftsethischen Diskussion eine Rolle spielt.

Dennoch  oder gerade deshalb lohnt sich dieses Buch, in dem homiletische Fragen manchmal einfach ganz praktisch beantwortet werden. Hierzu nenne ich einige Notizen der Lektüre:

Die Predigt des Evangeliums will den Respekt vor Gott mit der Wertschätzung der Subjektivität verbinden (S. 117).
Die Rede vom Menschen von Gott braucht in der Predigt konkrete Gestalten (S. 102).
Die Predigt des Evangelium ist eine Einladung, der Liebe Gottes zu vertrauen (S. 135).
Predigtvorbereitung ist Raum-Zeit für den Text (S. 157).
Predigt ist Bewegung im Resonanzraum der heiligen Schrift. (S. 174)
Das Sprechen muss sich nicht in der Selbstinszenierung erschöpfen (S.191)
Im gepredigten Wort ist Gott für die Menschen da (S. 207).
Die Predigt existiert nur im Augenblick ihrer Performance (S. 222).

Diese angerissenen Lesefrüchte machen wohl deutlich, dass sich dieses Buch ebenfalls als Predigtlehre, und damit als Kunstlehre von der Predigt versteht. Im Blick auf den möglichen Adressaten gewinnt diese Predigt ihre konkrete Gestalt und sich ist ebenfalls eher Kunst als Handwerk: "Die Kunst der Predigt besteht genau darin, dass sie mitten hin in die Geschichten, in die Menschen gerade verwickelt sind, andere Geschichten erzählt, und zwar so, dass die jetzige Lebensgeschichte befreit wird und vertrauensvoll weitergehen kann." (S. 72). Hinsichtlich der Frage nach der Darstellung der Predigt als freie Rede ist dieser Homiletikband deutlicher als Grözingers, indem er die Predigtlehre des katholischen Theologen Rolf Zerfaß einbezieht, der die Methode des Sprechdenkens als Vorbereitung auf eine freie Rede vorschlägt. Hierbei dominiert schon in der Vorbereitung der mündliche Anteil vor dem schriftlichen (nähere Informationen auch bei Vera Birkenbihl. Rhetorik - Redetraining für jeden Anlass. München 3. Auflage im Taschenbuch 2004).

Ich glaube, dass zu dieser Kunst die beiden vorgelegten Lehrbücher der Homiletik verhelfen werden.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/54/cf9.htm
© Christoph Fleischer, 2008