Eine radikale Lösung

Die Kapelle des Nichts von Thierry De Cordier

Andreas Mertin

Was denkt man, wenn man den Titel dieser Kapelle zum ersten Mal hört: Kapel van het Niets? Was ist das: eine Kapelle des Nichts? Das Nichts ist eine durch und durch philosophische Kategorie, schwer vorstellbar, sicher nicht greifbar. „Ans Nichts glauben – darunter lässt schwerlich mehr sich denken als unter dem Nichts selber; das Etwas, das, legitim oder nicht, vom Wort Glaube gemeint wird, ist der eigenen Bedeutung nach kein Nichts. Nichtsgläubigkeit wäre so abgeschmackt wie Seinsgläubigkeit, Quietiv des Geistes, der stolz sein Genügen dabei findet, den Schwindel zu durchschauen“ schreibt Theodor W. Adorno in der „Negativen Dialektik“. Oder mit den Worten Johann Gottfried Herders: „Kurz, das Nichts ist Nichts; es ist also auch jedem Wesen, das da ist, geschweige dem Grunde und Inbegriff aller Wirklichkeit, Gott, ein leeres Nichts, d.i. undenkbar.“

Nach Martin Heidegger offenbart sich erst durch das „Nichts“ das „Sein“ als eine „Befremdlichkeit“ oder als das „Andere“. Deutlich spürbar ist dieses „Nichts“ in der „Stimmung“ der Angst, nicht in der Furcht vor etwas Bestimmtem, sondern in der tiefen, in uns verborgenen „Angst vor“, oder „wegen“. Nicht ganz unbestimmt, aber auch nicht in Worten fassbar, eben die Angst vor dem „Nichts“. In einer solchen Angst ist einem alles gleichgültig und zwar gleichermaßen gleichgültig. Ob Tisch oder Stuhl, Tod oder Leben, es hat keine Relevanz. Eine merkwürdige Ruhe durchzieht einen, fast wie in der Stimmung der Langeweile, die dem Sein am spürbar nächsten ist, und doch nicht ganz. Dieser kleine, von uns gefühlte Unterschied zwischen den beiden Stimmungen, wieder nicht in Worten fassbar, aber als etwas „Fehlendes“ fühlbar, ist das „Nichts“. (wikipedia)

Was also ist dann eine Kapelle des Nichts? Eine Kapelle in der über das Nichts nachgedacht wird? Eine Kapelle in der Nichts ist? Eine Kapelle der Leere? Eine leere Kapelle? Eine Kapelle, die Raum für die Erfahrung der Leere gibt? Auf jeden Fall verspricht die Kapel van het Niets – wenn es denn mehr als ein Wortspiel sein soll – eine besondere Form der Erfahrung.

Thierry De Cordier ist ein 1954 in Oudenaarde geborener belgischer Künstler, der in der Auvergne in Frankreich lebt. In Deutschland bekannt ist u.a. das letztlich nicht realisierte Projekt für die Skulptur. Projekt Münster 1987. Er hatte vorgeschlagen, an die Mauer der Lambertikirche „Die Münstersche. Die letzte Berghütte“ anzubringen, ein Objekt ähnlich einem geneigtem Trichter, das Töne hervorbringen sollte. Angesichts der drohenden Ablehnung seines Projekts durch den Kirchenvorstand der Lambertikirche schrieb De Cordier seinerzeit zu seiner Arbeitsweise an den Ausstellungskuratoren Kaspar König: „Bis heute gehe ich bei meinen Arbeiten immer von einer Idee aus (ich arbeite also divergierend-konvergierend, als eine Art Ansammlung vieler Bedeutungen) und manchmal mit Hilfe einer kleinen Skizze. Ich weiß selbst nie im voraus, was die endgültige Arbeit sein wird (falls ich überhaupt von Endgültigkeit sprechen kann). Es ist wie mit dem Leben selbst (»man weiß nie, was die Nacht am Morgen bringen wird...«). Ich mag es nicht, durch irgendeine von mir selbst vorgedachte, unveränderbare Form eingesperrt zu sein... Ich muß mich in meinem Kopf, in meinem Tun frei bewegen können. Ich bin ein Adept der »Architektur ohne Architekten«. Ich glaube nicht, dass ich modern bin... Ich versuche, zu dem Punkt zurückzugehen, an dem der Mensch sich selbst verloren hat. Ich schütze mich vor »Verfremdung« (Entfremdung). Deshalb ist es für mich wichtig, dass ich immer selbst an einem Stück arbeite, auch wenn es groß ist. Da es aber unvorhersehbar ist, kann ich nur von einer möglichen Form, von einem möglicherweise benutzten Material, einer möglichen Farbe, einer möglichen Funktion reden.“ Diese Äußerungen können vielleicht auch dazu verhelfen, de Cordiers Kapelle des Nichts zu verstehen.

KapelleFür den Garten des psychiatrischen Zentrums St. Norbert in Duffel in Belgien baute Thierry de Cordier im Jahr 2007 die angesprochene Kapel van het Niets. Dieses erscheint von außen als gedrungener schwarzer Block (mit einer gewissen Ähnlichkeit zur Tesarkirche in der Uno-City Wien). Auch die Assoziation an die Kaaba in Mekka ist ebenso nahe liegend wie die an das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch. Und nicht zuletzt wird die Farbe Schwarz in vielen Kulturen mit dem Nichts assoziiert, weil Schwarz alle sichtbaren Lichtwellenlängen absorbiert, sie also nicht reflektiert. Über den schwarzen Block, der die Kapelle bildet, ragt eine 8 Meter hohe weiße Betonwand hinaus.

Das Innere des Baus erweist sich als nahezu leer und vermittelt eine offenes, weites Raumgefühl, nicht zuletzt, weil er nach oben nicht abgeschlossen ist. Vor der bereits erwähnten hohen weißen Betonplatte steht im Inneren eine schwarze Säule als Solitär. Ansonsten befindet sich nur noch eine Bank im Raum. Durch die Raumöffnung ergeben sich höchst interessante Lichtkonstellationen.

Der so konzipierte Raum ist gedacht als Ort der Begehung für Patienten und Besucher der Einrichtung, er ist ein Ort der Ruhe und der Meditation. Es ist ein Rückzugsraum und zugleich eine ganz unvermutete Zumutung, ähnlich einer nicht mehr genutzten, zur Ruine gewordenen romanischen Kapelle. Der Besucher ist ganz auf seine Wahrnehmung, auf die Beobachtung des Raumes und der Veränderungen im Kontext der natürlichen Gegebenheiten verwiesen. Bedeutung bekommt der Raum durch seine vorgestellte Existenz, durch seine Anmutung von Bedeutung. Es könnte eine Kapelle des Nichts sein, aber könnte auch so viel mehr sein. Ob die Angst vor dem Nichts, die hier mehr wäre als der horror vacui, überwiegt, oder im Nichts etwas finden: „Du sollst ihn lieben wie er ist ein Nicht-Gott, ein Nicht-Geist, eine Nicht-Person, ein Nicht-Bild, mehr noch: wie er ein lauteres, reines, klares Eines ist, abgesondert von aller Zweiheit. Und in diesem Einen sollen wir ewig versinken vom Etwas zum Nichts. (Meister Eckhart)

Kommentar

Von allen vorgestellten Kapellen ist die von Thierry De Cordier sicher die radikalste und konsequenteste, um nicht zu sagen kompromißloseste. Man könnte sie als philosophische Kapelle bezeichnen. Sie führt den Betrachter/Besucher zunächst weit von sich weg und beansprucht doch, ihn ganz zu sich selbst zu führen. Sie bietet mehr als bloß einen Rahmen, mehr als nur die Leere.

Dennoch bleiben Fragen. Was unterscheidet diese Kapelle von einem Kunstwerk von Barnett Newman, einer Black Form von Sol Lewitt, einem Raum von Anish Kapoor oder einem Pavillon von Dan Graham? Ist „Kapel van het Niets“ nur (aber was heißt hier nur?) die Bezeichnung (der Titel) eines Kunstobjekts oder bezeichnet „Kapel/Kapelle“ den lexikalisch darunter geführten Gegenstand und „van het Niets/des Nichts“ seinen zu bedenkenden Inhalt? Dass das offen bleibt, ist vielleicht die Stärke der Arbeit. Sie lädt zu Erfahrungen und Erkundungen ein, ohne den Betrachter in dieser Hin-Sicht zu fixieren. Kritisch fragen würde ich nur nach dem Subjekt, das dieses Kunstobjekt idealer Weise voraussetzt. Wenn die Assoziationskette von Kaaba und Malewitsch schon voraus-gesetzt ist, wer kann dem in heutiger Zeit noch folgen? Aber vielleicht ist Nachfolge in einer Kapelle des Nichts auch nicht mehr notwendig.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/54/am250.htm
© Andreas Mertin, 2008#