Cinema Paradiso

Ein-Blick

Karsten Visarius

Cinema Paradiso (OT: Nuovo Cinema Paradiso); Giuseppe Tornatore, Italien 1988/USA 2002 (rekonstruierte Fassung); Farbe, 123 Min./174 Min. (rekonstr. Fassung); Regie: Giuseppe Tornatore; Buch: Giuseppe Tornatore, unter Mitarbeit von Vanna Paoli; Kamera. Blasco Giurato; Musik: Andrea Morricone, Ennio Morricone; Darsteller: Salvatore Cascio (Salvatore als Kind), Marco Leonardi (Salvatore als Jugendlicher), Jacques Perrin (Salvatore als Erwachsener), Philippe Noiret (Alfredo), Agnese Nano (Elena als Jugendliche), Brigitte Fossey (Elena als Erwachsene), Antonella Attili (Maria), Pupella Maggio (Maria als alte Frau) u.a.

Wer das Kinoparadies verspricht, hat sich weit vorgewagt. Er lässt sich ein mit einer Glücksverheißung, die jenseits und vor aller Geschichte verortet ist. Wer genauer hinhört, bemerkt aber auch, dass von einem Verlust die Rede ist. Alle profanen Paradiese sind nur noch Abglanz und Schatten, nur Sehnsuchtsfiguren eines der Zeitlichkeit entzogenen Zustands, den weder Arbeit, Reisen in die Südsee noch die Imagination wieder herzustellen vermögen. Deshalb kann das Kinoparadies nur ein Täuschungsmanöver sein. In der Kluft zwischen Verheißung und Enttäuschung ist Tornatores Film schon mit seinem Titel angesiedelt. Die Zeit, an die das Kino wie wir selbst gebunden sind, macht Steine und Träume zu Staub. So endet die Erzählung Tornatores, die die Glanzzeit des Kinos zwischen Kriegsende 1945 und Entstehungsdatum des eigenen Werks heraufbeschwört, mit der Staubwolke, in der das Nuovo Cinema Paradiso des sizilianischen Städtchens Giancaldo, das neue Kinoparadies, nutzlos geworden und gesprengt versinkt. Aus den Trümmern rettet der Film eine Montage von Filmschnipseln, die eine der ergreifendsten Apotheosen des Kinos, ein Finale von durchschlagender Kraft hervorgebracht hat – ein Ende nach dem Ende. Es ist eine Montage von Filmküssen, die sinnlich, erotisch, in der Spannung zwischen Verlangen und Erfüllung, Welle auf Welle, alle Dämme vernünftiger Zürückhaltung überspülen.

Vermutlich hat dieses grandiose Finale verhindert, dass der Film vergessen wurde. Was das Publikum zu sehen bekam, war nämlich nur eine Filmruine, die Tornatores Diagnose vom Niedergang des Kinos am eigenen Werk, seinem zweiten und von keinem folgenden übertroffenen Kinospielfilm, bestätigte. Bei der italienischen Uraufführung hatte der Film eine Länge von 155 Minuten – und wurde ein Misserfolg. Für die internationale Premiere bei den Filmfestspielen von Cannes 1989 versuchte man es mit einer auf 123 Minuten gekürzten Fassung, die einen Spezialpreis der Jury, den europäischen Filmpreis Felix für Philippe Noiret in der Rolle des Filmvorführers Alfredo und den Oscar für den besten ausländischen Film gewann – ein Schub symbolischen Kapitals, der "Cinema Paradiso" zu einem weltweiten Publikumserfolg, aber nicht zu einer breiteren Anerkennung bei Filmkritik und Filmgeschichtsschreibung verhalf. 2002 schließlich brachte Miramax für den US-amerikanischen Kinomarkt unter dem Titel "Cinema Paradiso. The New Version" eine restaurierte Fassung heraus, die ganze 51 Minuten mehr Material enthielt als die Fassung von 1989. Die europäischen Kinos erreichte die Neuedition schon nicht mehr. Der durch die (ebenfalls amerikanische) DVD-Edition ermöglichte Vergleich beider Fassungen bietet nicht nur ein Lehrstück in Filmphilologie, sondern auch über den manchmal schmalen Grat, der einen respektablen Kinoerfolg von einem Meisterwerk scheidet. In Begriffen der Affekte gesprochen unterscheiden sich Standard- und (vermutliche) Urfassung durch Nostalgie und Ernüchterung, in mythologischen Begriffen durch Beschwörung eines verlorenen Paradieses – der Kindheit, des Kinos, der Wünsche – und Einsicht in die unvermeidliche Vertreibung aus diesem Paradies. Man muss deshalb bei einer Würdigung von Tornatores "Nuovo Cinema Paradiso" von zwei Filmen sprechen.

In einer weit ausholenden Rückblende erzählt der Film von Kindheit und Jugend eines erfolgreichen italienischen Filmregisseurs, der, kurz vor der Auszeichnung seines jüngsten Films, von seiner Mutter Maria zur Beerdigung seines Mentors, des Kinovorführers Alfredo, aus Rom in die Stadt seiner Geburt zurück gerufen wird. Die Prozession mit zahlreichen ergrauten Kinogängern führt auch an der Piazza Giancaldos und seinem Kino vorbei, das am nächsten Tag abgerissen wird. Die Hinterlassenschaft Alfredos bildet eine Filmspule mit einer Montage von Filmküssen. In diese Rahmenhandlung eingebettet ist die Geschichte des kleinen Salvatore, genannt Totò, der schon als zehnjähriger Messdiener dem Kino verfällt, von Alfredo zum Vorführer ausgebildet wird und, als er zum Militärdienst einberufen wird, seine Jugendliebe Elena verliert. Mit dieser Filmbiografie verknüpft ist durch zahlreiche Zitate (die durch Stills und Plakate noch erweitert werden) ein Stück Weltgeschichte des Kinos und ihre Einwirkung auf einen in signifikanten Details heraufbeschworenen sizilianischen Mikrokosmos. Die Verknüpfung dieser drei Stränge erhellt, dass zu einer Erzählung des 20. Jahrhunderts auch die Dimension einer den lokalen und individuellen Horizont erweiternden, "medialen" Wahrnehmungsgeschichte gehört, die, wie die Kuss-Apotheose des Finales demonstriert, am wirkungsvollsten in das Bild der eigenen Leiblichkeit eingreift. Das Pathos von "Cinema Paradiso" beruht darauf, dass mit dem Untergang einer durch das Kino darstellbaren Epoche – selbst wenn der Film munter weiterlebt – auch das Ende einer befreienden Selbstentdeckung zugunsten eines inzwischen dominierenden medialen Funktionalismus besiegelt wird.

Chronologisch und ideologiegeschichtlich treffsicher beginnt der Film mit dem Widerstand der Kirche, verkörpert durch den Priester Giancaldos, Pater Adelpho, gegen die traditionsgefährdenden erotischen Triebkräfte des Kinos. Nach der Frühmesse, die auch der übermüdete Totò vor einem leeren Kirchengestühl zelebriert, eilt der Pater zu einer Sondervorführung ins örtliche Kino, um sein Nebenamt als Zensor auszuüben. Bei jedem Kuss schrillt das Priesterglöckchen und veranlasst den Vorführer Alfredo, die inkriminierte Szene mit einem Papierstreifen zu markieren und später herauszuschneiden. Im Gegensatz zum über die spürbaren Lücken im filmischen Gewebe murrenden Publikum hat Totò, der sich hinter dem Priester ins Kino geschlichen hat, den ganzen Film gesehen. Er, dessen Vater im Krieg verschollen ist, sucht in Alfredo einen Ersatz – und setzt gegen den Widerstand der Erwachsenen, auch seiner Mutter, seinen Wunsch durch, Alfredo assistieren zu dürfen. Bei einem Brand des Kinos – noch ist der leicht entflammbare Nitratfilm in Gebrauch – erblindet Alfredo; im neuerrichteten "Nuovo Cinema Paradiso" übernimmt Totò die Vorführung, die das enthusiastische Publikum mit dem ersten Filmkuss bekannt macht. Nach einem Zeitsprung in die Jugend Totòs erzählt der zweite Teil des Films von seiner Liebe zu der jungen Bankierstochter Elena, die aus dem Norden nach Giancaldo gezogen ist. Lange bleibt seine Werbung unerhört, bis Elena in der Silversternacht 1954 zu dem schon resignierten, tieftraurigen Totò ins leere Kino kommt und mit ihm die ersten nicht mehr imaginären, sondern leiblichen Küsse tauscht. Ihr Glück wird von Elenas Eltern bedroht, die für die Tochter eine bessere Partie im Sinne haben und sie zu Ausbildungszwecken immer wieder fortschicken. Ein letztes Treffen vor Totòs Einberufung zum Militär, vor der mit Missfallensbekundungen des Publikums quittierten Aufführung von Antonionis "Der Schrei" (Il Grido, Italien 1957), kommt nicht zustande; auch nach seiner Rückkehr bleibt Elena verschollen. Alfredo überredet ihn, Giancaldo um seiner Zukunft willen zu verlassen, und nimmt ihm das Versprechen ab, nie mehr zurückzukehren; erst sein Tod macht dieses Gelöbnis hinfällig.

So die bekannte Fassung von "Cinema Paradiso". Kindheit, Kino und romantische Liebe erscheinen als der bessere Teil eines Lebens, das aus deren Verlust die Inspiration für eine Künstlerkarriere bezieht. Eine schöne, berührende, aber sentimental gefärbte Liebeserklärung an das traditionelle Kino, das Ende der achtziger Jahre seinen Ort in der Mitte der Gesellschaft und als Schnittpunkt ihres imaginären Haushalts verloren hat: das ist der Eindruck, den der Film damals hinterließ. Die Rekonstruktion von 2002 enthält einerseits einen erheblich (um mehr als dreißig Minuten) längeren Schlussteil. Jetzt sieht Salvatore bei seiner Rückkehr nach Giancaldo die verheiratete Elena wieder, als Mutter einer selbst schon erwachsenen Tochter. Zwar schenkt ihnen Tornatore die Liebesnacht, die ihnen in ihrer Jugend versagt blieb. Aber er erspart ihnen nicht die Einsicht, dass die Zeit über ihre Liebe hinweggegangen ist. Fast noch bitterer ist eine Enthüllung, die Alfredo betrifft; Tornatore unterstreicht sie durch eine erneute, gleichsam nachgeholte Rückblende. Während Salvatore die Geliebte sucht, hat Alfredo die Vorführung von "Der Schrei" übernommen. Elena kommt verpätet, um ihre Adresse zu hinterlassen. Bei Salvatores Rückkehr behauptet der Blinde, Freund, Lehrer und Ersatzvater, sie sei nicht erschienen; in seiner Enttäuschung übersieht Salvatore auch ihre vorsorglich auf der Rückseite eines Lieferscheins notierte Botschaft. Kein Zufall, sondern eine "väterliche" Aggression verstößt Salvatore aus der Heimat, aus dem Glück, aus dem Reich der Illusionen, aus welchen Motiven auch immer. Wie der Beginn des Films andeutet, verbringt er sein Leben seither mit wechselnden Geliebten und in innerer Einsamkeit.

Weniger umfangreiche, aber nicht minder gravierende Kürzungen haben das komplexe Assoziations- und Kontrastgefüge des Films zerschnitten. Zwei Beispiele. Um den Erfolg eines nationalen Kinoereignisses auszuschöpfen, des Films "Sühne ohne Sünde" (Catene, Italien 1949) von Raffaele Matarazzo, hat der Kinobesitzer Don Ciccio beschlossen, die Kopie zeitversetzt auch im Kino des Nachbarortes zu zeigen. Boccia, ein Schulkamerad Totòs, transportiert per Fahrrad die abgespielten Spulen zur zweiten Vorführung. Während die einen in Tränen aufgelöst das rührende Finale verfolgen, bricht bei den anderen ein Tumult aus, als die letzte Filmrolle ausbleibt. Geschnitten: Salvatore entdeckt Boccia im Gebüsch, beim Liebesakt mit der Prostituierten Teresa, und weicht erschrocken zurück. Auf der Flucht mit der Spule im Gepäck hört er den pflichtvergessenen Freund seine Lust aus sich herausschreien. Dargestellte und mitgefühlte Empfindung, Bilderentzug, unfreiwillig beobachtete Szene, Schuld und physisch erlebtes Glück sind unauflöslich ineinander verschlungen. Zur ironischen Gerechtigkeit der Erzählung gehört auch, dass sich Boccia, den der Film zuerst als Versager beim Einmaleins vorstellt, als Elenas Ehemann entpuppt. Ähnliches Muster, anderes Beispiel: Nach Fellinis "Die Müßiggänger" (I Vitelloni, Italien 1953), der eine neue Epoche des italienischen Kinos eröffnet, wird Salvatore im leeren Kinosaal von Teresa entjungfert. Jetzt sei er ein Mann, nein: ein Stier, kommentiert sie seine Leistung. Die nächste Szene zeigt Salvatore bei seinen ersten Filmaufnahmen, die die Schlachtung eines Kalbes festhalten. Ein Stück "Vitelloni", Entjungferung und weibliche Anerkennung – sie fehlen in der gekürzten Version, die ein Loch in seine Initiation zum Mann und Filmemacher reißt. In Tornatores ursprünglicher Vision darf auch die Enttäuschung und Desillusionierung, die Kraft des Realen, das Leben voranbringen. Und jenseits der Täuschungen ersteht das Kino neu, als ein Fest der wiedergefundenen Zeit.

Literatur:

Gili, Jean A.: Italian filmmakers: self portraits. A selection of interviews. Rome , 1998

Karsten Visarius: Die Vertreibung aus dem Paradies. Zu Giuseppe Tornatores "Cinema Paradiso". In: Margrit Frölich/Reinhard Middel/Karsten Visarius (Hrsg.): Alles wird gut. Glücksbilder im Kino. Arnoldshainer Filmgespräche Bd. 20, Marburg 2003, S. 126-142

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/52/kv11.htm
© Karsten Visarius 2008