Du bist mein

Eine kleine Beobachtung

Andreas Mertin


Der Band 275 der Anderen Bibliothek trägt den Titel „Ich habe dich beim Namen gerufen“. Das Vorwort von Klaus Harpprecht beginnt mit folgenden Worten:

„Dem Titel dieser Anthologie folgen im Buch des Propheten Jesaja (31. Kapitel Vers 1) drei kleine und gewichtige Worte. Das ganze Zitat: »Ich habe dich beim Namen gerufen; du bist mein«. Die lapidare Konsequenz verschlug uns, wir geben es zu, für einen Augenblick den Atem. So spricht kein girrender Brautwerber, sondern ein Herrscher mit strenger Liebe: »Fürchte dich nicht«, mahnt Gott den Erzvater Jakob und das Volk Israel, »denn ich habe dich beim Namen gerufen; du bist mein«. Das sind die Schlüsselworte der Auserwähltheit, die sich als bitteres, ja oft genug tödliches Geschenk erwies … Wohl fügt der Herr tröstend hinzu: »Denn so du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht sollen ersäufen; und so du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht verbrennen …« Millionen sind dennoch verbrannt, und die Menschheit wird es bis zum Ende ihrer Tage nicht vergessen.

Interessant an dieser Einleitung ist das von Klaus Harpprecht benannte Erschrecken angesichts des „Du bist mein“. So wird der Text offenkundig heute gelesen: als Inbesitznahme und nicht als Befreiung. Das an sich logische und nachvollziehbare „Fürchte dich nicht … Du bist mein“, das in Vers 5 noch einmal explizit wiederholt wird, und das ja die Befreiung aus der Sklaverei voraussetzt und fremde Inbesitznahme und damit Versklavung eines Menschen konterkariert, wird nun nur noch als Herrschersprache (wenn auch „mit strenger Liebe“) verstanden.

Diese Lesart wäre sogar verständlich, wenn Harpprecht das Zitat aus dem Kontext lösen würde, denn dann reicht es gerade zum patriarchalischen „Du gehörst mir“. Aber Harpprecht achtet sorgsam auf den Kontext und verweist den Leser an diesen. Und doch hört er den besitzergreifenden Unterton des Verses stärker heraus als den emanzipatorischen (der uns auf die Befreiung aus Ägypten verweist). Von da aus wird dann auch anklagende Unterton verständlich, mit dem im Folgenden das Zitat aus Jesaja 43 mit dem Schrecken der Judenvernichtung konnotiert wird. Tatsächlich hat es, so Harpprecht, der Herrscher entgegen seiner Zusage nicht vermocht, im 20. Jahrhundert das in das Feuer Gehen des jüdischen Volkes zu vermeiden. So stellt sich ausgehend von Jesaja 43,2 die Frage nach einer Theologie nach Auschwitz.

Jesaja 43,1 ist in der Christenheit ein beliebter Vers, er gehört zum Populargut der Religion, vor allem als Tauf- und/oder Konfirmationsspruch findet er rege Verwendung.[1] Das heißt, man kann davon ausgehen, dass der Spruch in der Regel eher affirmativ und nicht erschreckend oder gar kritisch verstanden wird. Er soll im übertragenen Sinne die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde ausdrücken. Das wird auch in den verschiedenen Übersetzungen deutlich.

Die Übersetzungen der Textstelle sind relativ homogen und offenkundig vor allem von dem Interesse getragen, die Souveränität Gottes gegenüber dem Menschen zu betonen.

In der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache[2], die an dieser Stelle von Mattias Millard und Beate Schmidtgen verantwortet wird, lautet der Text dagegen so:

1   Aber nun spricht ‚Gott’ so: Ich habe dich geschaffen, Jakob, und dich gebildet, Israel: Hab keine Angst, denn ich habe dich befreit, ich habe deinen Namen gerufen, zu mir gehörst du.

2   Wenn du durch Wasser gehst, bin ich bei dir und Wasserströme überfluten dich nicht. Wenn du durch Feuer gehst, verbrennst du nicht, und die Flamme versengt dich nicht.

Was ist bei der Bibel in gerechter Sprache gegenüber den traditionellen Übersetzungen anders?

Angst oder Furcht?

Zunächst fällt der Wechsel der Begrifflichkeit von „Furcht“ zu „Angst“ auf. Dieser Wechsel ist höchst interessant und hat mehr Implikationen, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Nach landläufiger, aber in Deutschland inzwischen kaum noch gepflegter Bestimmung ist der Unterschied zwischen Furcht und Angst der, dass die Furcht sich auf ein konkretes außerhalb der Person liegendes Objekt bezieht, während Angst ein allgemeines, eher diffuses Gefühl anzeigt. Anders ausgedrückt: Furcht ist gerichtete Angst.

Deutlicher als heute noch in der deutschen Sprache wahrnehmbar, ist im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm[3] mit Furcht aber auch die Gottesfurcht in all seiner Ambivalenz mit impliziert. Dort heißt es: die aus dem bewustsein des geringerseins hervorgehende seelenregung der pflicht und rücksicht gegenüber einem höheren (erhabenen) wesen oder überhaupt höherem. eine in der bibel häufig vorkommende bedeutung.

Das Thema „Gottesfurcht“ ist daher auch den Herausgebern der Bibel in gerechter Sprache ein eigenes Stichwort im Glossar wert. Unter „jare“[4] schreibt Ulrike Bail, dass das Wort in heutiger Wahrnehmung oft zu Missverständnissen führe. Allgemein spricht die Bibel von Furcht „im Zusammenhang von Gewalt, wilden Tieren, Feindinnen und Feinden, Kriegen und Tod.“ In religiös-theologischer Akzentuierung gibt es aber eine Verknüpfung von Gottesfurcht und Leben bzw. Widerstand. Es meint eher Anerkennung als Unterwerfung. „»Fürchtet euch nicht!« ist eine Formulierung, die im AT und NT zu finden ist, und auf das Vertrauen in Gott zielt.“

Und auch an der Stelle Jesaja 43,1 werden wir auf das dort gebrauchte Wort „jare“ verwiesen. Dennoch wird in der Übersetzung das Wort „Angst“ gewählt. Denn im Kontext des Verses geht es zwar um konkrete Dinge wie Zorn, Krieg und Feuer, aber diese liegen in der Vergangenheit. Aktuell geht es Deuterojesaja darum, das Angstgefühl der Adressaten zu überwinden und eine Wende einzuleiten. Und daher ist die Verwendung von „Angst“ an Stelle von „Furcht“ durchaus adäquat. Und nicht zuletzt im Blick auf Jugendliche, denen dieser Bibelvers zugeordnet wird, ist diese Wahl die bessere.[5]

Befreit oder erlöst?

Das zweite, was auffällt, ist, dass die traditionellen Übersetzungen immer das Wort „erlöst“ verwenden, während die Bibel in gerechter Sprache an dieser Stelle das Wort „befreit“ vorzieht. Das hat natürlich seine Gründe. Das Wort „erlöst“ ist heute innerkirchlich nahezu vollständig von ökonomisch-politischen Konnotationen entleert und eschatologisch besetzt, während es außerkirchlich nahezu vollständig ökonomisiert und damit seiner befreienden Perspektive entleert ist: Kapital erlöst Rendite. Nur ganz am Rande taucht noch die Assoziation auf, dass jemand von seinen Leiden erlöst wird.[6] Anders ist es mit dem Wort „Erlösung“ das offensichtlich stärker religiös konnotiert wird (abgesehen von einigen Zitaten in der Sportberichterstattung). Eschatologisierung und Individualisierung verhindern aber, dass die Aussage des Textes noch sinnvoll rezipiert werden kann.

Worum geht es in der Sache? „Das Verb gā’al bezeichnet das Auslösen oder Freikaufen eines in Schuldhaft geratenen Verwandten, es ist ursprünglich ein Terminus aus dem Familienrecht“ schreibt Claus Westermann zur Stelle.[7] Der Text trägt also reale gesellschaftliche Bedeutungen mit sich. Wer den Vers ursprünglich hörte, hatte konkrete Schicksale von Verwandten vor Augen, die aus der Schuldhaft hatten erlöst werden müssen. Und er konnte diese Vorstellung auf das Verhältnis Gottes zum Volk Israel bzw. zum Einzelnen übertragen: „Ich habe dich erlöst.“ In der heutigen Sprache sind dagegen Begriffe wie „Lösen“, „Auslösen“ oder „erlösen“ ebenso wie „Freikaufen“ im Sinne der angedeuteten Beziehungsdramatik schwerer verständlich geworden. Der intentio auctoris dürfte „befreien“ daher eher entsprechen.

Du gehörst zu mir oder Du bist mein?

Das dritte Auffällige, was uns ja überhaupt erst zu dieser Überlegung geführt hat, ist die kleine sprachliche Differenz zwischen „Du gehörst zu mir“ und „Du gehörst mir“. Nun ist sicher klar, dass an der ursprünglichen Stelle bei Deuterojesaja an Besitzverhältnisse gedacht ist: „Denn als gō’ēl erkauft sich Jahwe kein fremdes Gut, sondern er erwirbt zurück, was ihm schon immer – seit der Zeit Abrahams – gehörte. Jahwe nimmt sein altes Recht an Israel wahr, er verwirklicht einen Anspruch, der ihm zusteht, weil er dieses Volk geschaffen und erwählt hat und er sein König ist.“[8] Aber zugleich ist es unerlässlich wichtig, auf Vers 4 Bezug zu nehmen, wo es heißt: „weil du in meinen Augen teuer bist, du mir wichtig bist und ich dich liebe.“[9] Das macht es plausibel, die Textvariation „Du gehörst zu mir“ zu wählen, weil sie sehr viel näher am ursprünglich intendierten steht. Der Text ist nun gerade kein patriachalisches: „Du gehörst mir“, sondern ein Versuch der Beziehungsarbeit: „zu mir gehörst du“.

Das führt zurück zum Eingangs zitierten Text von Klaus Harpprecht. Ich baue eine exklusive Beziehung zu dir auf, „weil du in meinen Augen teuer bist, du mir wichtig bist und ich dich liebe“ – das ist dann doch eher der „girrende Brautwerber“ als der „Herrscher mit strenger Liebe“.

So kann die Bibel in gerechter Sprache auch die Deutung Gottes in einer Anthologie deutscher Namenspoesie bereichern. Freilich: ICH HABE DICH BEIM NAMEN GERUFEN klingt als Buchtitel vielleicht doch poetischer als das eher alltagssprachliche „ich habe deinen Namen gerufen“.

Anmerkungen

[1]    Er ist auch mein biblischer Spruch zur Konfirmation (Anm. d. Verf.).

[2]    Bail, Ulrike; Crüsemann, Frank; Crüsemann, Marlene, et al. (Hg.) (2007): Bibel in gerechter Sprache: Gütersloher Verlagshaus.

[3]    Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm (2004): Deutsches Wörterbuch. Der Digitale Grimm. Elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung für PC: ZWEITAUSENDEINS.

[4]    Bibel in gerechter Sprache, a.a.O., S. 262

[5]    Es gehört zu den Ironien der Bibel in gerechter Sprache, dass die berühmte Stelle „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ (Joh 16, 33) in der jetzigen Form lautet: „In der Welt leidet ihr Qualen, aber seid zuversichtlich, ich habe die Welt besiegt.“ Das ist vermutlich präziser, aber macht die intertextuellen Verweise schwieriger. Die Bibel in gerechter Sprache muss vermutlich ihre intertextuelle Poesie erst noch entwickeln.

[6]    Vgl. zum Zusammenhang von Glaubensökonomie und Kapitallogik: Hörisch, Jochen (2004): Gott, Geld, Medien. Studien zu den Medien die die Welt im Innersten zusammenhalten. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[7]    Westermann, Claus (1966): Das Buch Jesaja. Kapitel 40 - 66. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

[8]    Art. g’l in: Jenni, Ernst; Westermann, Claus; [Ed.] (1984): Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament. 2 Bd.; THAT. München: Chr. Kaiser, Bd. 1, Sp. 391.

[9]    So übersetzt die Bibel in gerechter Sprache die Stelle.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/51/am235.htm
© Andreas Mertin, 2008