Palazzo Zenobio

Territorios

Andreas Mertin

Im schönen Palazzo Zenobio ist – neben Exponaten aus Armenien, Schottland und Australien – lateinamerikanische Kunst von Künstlern aus Bolivien, Chile, Kolumbien, Costa Rica, Kuba, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Haiti, Honduras, Nicaragua, Panama, Paraguay, Peru und der Dominikanischen Republik ausgestellt. Diese Ausstellung unternimmt einen kritischen Diskurs über die Natur, die Politik und den Glauben. Die ausgestellte Kunst ist beeindruckend und frech zugleich. Wer sie im Rahmen seines Biennale-Besuchs nicht gesehen hat, hat etwas verpasst. Der barocke Palast wurde 1690 von Antonio Gaspari für die Familie Zenobio errichtet.

Die Exponate aus Schottland und Armenien vermochten mich nicht zu überzeugen, sie blieben weitgehend im Konventionellen stecken. Erwähnenswert die Arbeit aus Australien von Callum Morton „Valhalla“, die eine Art Abbruchhaus darstellt, das verkommen im Irgendwo steht. Betritt man das Haus, befindet man sich im Fahrstuhlraum eines modernen Hochhauses und hört die dort zu erwartenden Geräusche. Nur sind die Fahrstuhltüren miniaturisiert und daher disfunktional. Eine überraschende und interessante Arbeit.

Im ersten Stock des Palazzo Zenobio befindet sich die Ausstellung „Territorios“ des Italo-Lateinamerikanischen Institutes. Sie versammelt beeindruckende Werke, von denen ich einige herausheben will.

Beim Entree stößt man zunächst auf Maríadolores Castellanos’ Arbeit „Über die Meere hinweg“, eine an Arbeiten von Velazquez erinnernde Skulptur, die effektvoll vor einem Spiegel in einem barocken Saal inszeniert wurde.

Im angrenzenden Raum findet sich die „Weiße Bibliothek“ von Wilfredo Prieto (*1978) aus Kuba. Der gesamte Raum ist gefüllt von weißen Büchern mit weißen leeren Buchseiten und weißen Zeitschriften. Während meines Besuches las eine Aufsicht in diesem Raum in einer „normalen“ Zeitschrift mit Text und Bild, was in diesem Raum dann absolut pornografisch wirkte.

Patricia Bueno (*1952)

Außerordentlich gefallen hat mir die Arbeit „Tuyo es el Reino“ von Patricia Bueno aus Peru. Schon der Titel der Arbeit „Dein ist das Reich“ ist in seiner Zitatform eine Herausforderung schlechthin. Der Betrachter sieht nach einer einleitenden fotodokumentarischen Sequenz vom 31. März 1950, in der der Präsident Manuel A. Odría eine Verordnung über politische Symbolik verkündet. Diese Anordnung soll die Konformität/Gleichförmigkeit der politischen Ausdrucksform sichern. Dieser historischen Sequenz folgt eine Inszenierung, in der drei Frauen drei Dummies tragen, die wie Alter Egos wirken. Sie treffen sich zu einem Essen, das wie ein letztes Mahl nach einem schrecklichen Ereignis wirken soll. Der sich entspinnende Dialog – in direkter religiöser Konnotation – kreist um Schweigen und Fragen, und er lässt uns selbst im Zweifel, ob wir es hier mit drei differenten Identitäten oder drei Ausformungen einer Identität zu tun haben. Wenn die Form das Entscheidende ist, muss sie mit der Zeit zur Konvention und dann zur Geschichte werden – sie entfernt sich von der Gegenwart und wird anachronistisch. Das Lebendige (im Video eine Katze) entwickelt dagegen ein Eigenleben und sprengt die Form. Obwohl die Arbeit nur 9:18 Minuten lang ist, könnte sie einen stundenlang in Beschlag nehmen. Sie ist höchst ambiguitär und kritisch zugleich.

Moico Yaker (*1949)

Frech und anspielungsreich die Arbeit „Descendimiento“ (Kreuzabnahme) von Moico Yaker ebenfalls aus Perus. Es ist eine Doppelarbeit aus Video und Gemälde. Es zeigt die Verhandlung zweier militärischer Vertreter während der kolonialen Auseinandersetzung: „In the first, the artist includes an image that recreates the frustrated armistice between the Liberator José de San Martín and the Spanish Viceroy La Serna to prevent a bloody confrontation between the armies under each of their commands: a crucial battle for the suppression of Colonial administration in South America.“ (Emilio Tarazona) Zwischen beiden befindet sich ein Kruzifix, dessen Christus im Verlaufe der Gemäldesequenz und auch im Video kunstvoll sich vom Kreuz befreit und durch das offene Fenster davon fliegt, eine Wüste überquert und schlussendlich in einer kleinen Andachtskapelle am Wegesrand landet. Kein Segen liegt dagegen auf dem Gespräch der Kontrahenten, das jederzeit bei aller zur Schau gestellten Gelassenheit in einer Eruption der Emotionen und des Leidens enden kann.

Cinthya Soto (*1969)

Im nächsten Raum zeigt Cinthya Soto aus Costa Rica neben einer anspielungsreichen Schlachthausszene ihre Arbeit „Taller de Escultura Hidalgo“, eine 15teilige sich überlappend fotografierte Serie eines Ausstellungsraumes einer religiösen Devotionalienwerkstatt, wie man ihn in nahezu allen wichtigen katholischen Städten dieser Welt findet. Ein Albtraum an Kitsch und Wieder-Holung des Immergleichen und der Überführung von Religion in Kommerz.

Jorge Pineda (1961)

Bitterböse ist die auf den ersten Blick gefällig wirkende Arbeit von Jorge Pineda „Aus der Serie ‚Ich gehe: Norden’" [De la serie "Me voy: Norte"] aus der Dominikanischen Republik. Was aus größerer Entfernung noch wie ein kleiner Junge wirkt, der geradezu seismografisch einen Raum anmalt, erweist sich auf den zweiten Blick als Junge, dessen Hände und Arme bleistiftartig den Raum verzieren und sich dabei – wie bei einer Bleistiftmine – aufbrauchen bzw. an die Wand transformieren.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/49/am225.htm
© Andreas Mertin