Speculum

Grundriss Karlskirche mit Grundriss des Kunstwerks (Detail)

Yves Netzhammer

Andreas Mertin

Der Ordo des weißen Raumes …

Info Andreas Mertin… einer reformierten Kirche mag für manchen modernen Besucher wie ein karger, leerer und vor allem bilderarmer Raum erscheinen. Nichts ist weniger wahr. Einen derartigen Raum zu betreten, heißt, eine geradezu überschäumende Fülle von Bilder zu imaginieren, sich ihrer bewusst zu werden, sie bewusst wahrzunehmen, sich des Raumes und seiner Bestreitungen klar zu werden, die Geschichte dieser Entscheidung nachzuvollziehen. Der Ordo des weißen Raumes einer reformierten Kirche ist der Bewusstseinsraum der europäischen Moderne und der Aufklärung.

Es ist der Raum des bewusst gelebten Kultbildverbots. Einen weißen Raum einer reformierten Kirche zu betreten, heißt zugleich, sich in dieser Reduktion der Fülle der historischen Bilder auszusetzen, die mit dem Betreten dieses Raumes präsent werden. Jede hugenottische weiße Kirche erzählt von den Blutströmen der Bartholomäus-Nacht, feiert die Befreiung von der Last, sich durch Bilderdienst sein ewiges Heil erkaufen zu müssen, atmet das religiöse Bemühen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

In der Spätmoderne verstehen die Menschen die Dialektik von Präsenz und Entzug nicht mehr, sie goutieren allenfalls den pittoresken Gestus des Eremiten, der sich ostentativ von der Gesellschaft zurückzieht, aber sie verzweifeln am weißen Raum, weil er ihnen die Bilder, die Kultbilder und die Bilderflut durch Entzug allzu schmerzhaft bewusst macht. Bildpräsentation durch Bildentzug ist aber einer der intensivsten Ausdrucksformen in der Geschichte der Menschheit seit den Zeiten des Echnathon und des Mose.

Jeder Kirchenraum ist darüber hinaus rationale Konstruktion, bewusste Umgrenzung und Ausgrenzung, bewusster Einschluss und Ausschluss. Mag angesichts der biedermeierlichen Verfasstheit mancher Kirchenräume diese Rationalität im Erscheinungsbild verloren gegangen zu sein, mögen manche Gemeinden ihre Hungertücher, Brot-für-die-Welt-Poster, Märtyrerfotos oder sogar Goldfischteiche mit Palmen im Kirchenraum pflegen, so sind dies doch nur temporäre Verunklärungen des rationalen Charakters, die der Topographie der räumlichen Gestaltung des Versammlungsraums der Gemeinde zugrunde liegt.

Nahezu jeder Kirchenraum ist auch mathematische Konstruktion, ist der Versuch, mit der Magie der Zahl das nicht rational Fassbare in rationalen Größenverhältnissen einzufangen und zu durchmessen. Wie ein Musikstück ist ein Kirchenraum komponiert und wie ein Musikstück wirkt er auf den Körper ein. Der Architekt Palladio, der die Architekturtheorie Vritruvs im 16. Jahrhundert praktisch fruchtbar machte, schrieb 1567 in einem Memorandum für den Dom von Brescia: „So wie die Proportionen der Stimmen Harmonien für die Ohren sind, so stellen die sichtbaren Maße Harmonien des Gesichtssinnes (unserer Augen) dar. Solche (Harmonien) werden gewöhnlich als sehr angenehm empfunden, ohne dass man sagen könnte, warum, es sei denn jene, die den Ursachen der Dinge nachgehen.“ Und so gilt, wie es Götz Pochat in seiner Geschichte der Ästhetik und der Kunsttheorie schreibt, dass „der enge Zusammenhang zwischen dem musikalischen Harmonien und Proportionen im Kosmos, im Mikrokosmos des menschlichen Körpers und im Bauwerk … in der Ästhetik und Kunsttheorie der Renaissance allgemein geläufig“ ist.

Gleichzeitig ist jeder Kirchenraum aber auch ein Bild – gleich, ob es sich um einen barocken, einen gotischen, einen romanischen oder eben einen reformierten Kirchenraum handelt. Es ist ein Bild nicht im figurativen Sinne ablesbarer Szenen – das ist ein populäres Missverständnis -, sondern im beschriebenen Sinne der inszenierten Vergegenwärtigung. Der Raum selbst teilt sich als Bild und in evozierten Bildern mit.

Das alles muss vorausgeschickt werden, um zu verstehen, was der Schweizer Künstler Yves Netzhammer im Sommer 2007 in und mit der Kasseler Karlskirche macht. Denn Yves Netzhammer ist kein Künstler, dem der Kontext, dem der Ordo des Raumes, in dem er seine Arbeit platziert, gleichgültig oder vernachlässigenswert wäre. Ganz im Gegenteil. In der Tradition der großen Baumeister des Mittelalters und der frühen Neuzeit komponiert er seinen Bild- und Inszenierungsraum in Korrespondenz zum Umgebungsraum, nimmt ihn auf, zergliedert ihn, buchstabiert ihn, reflektiert und spiegelt ihn und bildet dann seinen eigenen Bildraum im Bildraum der umgebenden Architektur. Ich kenne wenige Künstler, die so präzise in ihrer Arbeit geradezu architektonisch den Umgebungsraum in die Komposition ihrer Arbeit mit einbeziehen. Was wir sehen, ist en Detail auf den Umraum bezogen. Es ist kein Fremdkörper im scheinbar vertrauten Körper, eher eine Sonde, vielleicht sogar noch präziser (mit all seinen Konnotationen, die einmal die Psychoanalytikerin Luce Irigaray herausgearbeitet hat): ein Speculum im Körper der Kirche. Ein Speculum ist kein Keil, der in einen bestehenden Raum getrieben wird, es ist vielmehr ein Instrumentarium, das Dinge offen legt und sichtbar macht, die ansonsten nicht sichtbar und allenfalls fühlbar sind. Ein Speculum ist zugleich ein mehr als ambivalentes Instrument, denn was es spiegelt und zeigt, ist ebenso kontrovers wie tabuisiert.

Seitenansicht Karlskirche mit Seitenansicht Kunstwerk (Skizze)

Speculum – Ein-Lesung

In ihrem Versuch, dem Weiblichen eine Stimme und eine Sprache zu geben, kommt Luce Irigaray auch auf die Formen der Repräsentation und der Fiktion (die beide bei Yves Netzhammer eine zentrale Rolle spielen) zu sprechen. Beide stehen in einer langen Tradition der Verknüpfung, die sich an Platons Höhlengleichnis abarbeiten lässt. Irigaray findet nun Worte, die uns vorbereiten können auf das, was uns in der Karlskirche erwarten wird:

Zwei Formen der Repräsentation zerreißen die Zeit, zerreißen sich in der Zeit. Eine, die sich – selbst ohne es zu wissen – in die ständige Wiederholung des Geschehens einfügt und dabei niemals aus diesem ‚Gefängnis’ herauskommt. Das Projekt ihres für immer unsichtbaren, plötzlichen Auftauchens dient als Folie für die schnelle Vermehrung von ‚Trugbildern’, die an und in diesem blinden Fleck in der Konzeption vorbeiziehen und ihn verdecken. Ein Schattentheater, in dem nur ganz unsichere Gewissheiten zustande kommen – trügerische Anwesenheiten, ungenaue Erinnerungen, Erwartungen ohne voraussehbare Ziele -, die nach und nach aus den Erscheinungsbildern wieder verschwinden und sie zusammenstürzen lassen. Ein immerwährendes Fluten, das sich entsprechend der Verschiebung der Projektionsquelle bewegt, gemäß der Verformung der Horizont-Grenze und gemäß den eingesetzten Verführungsreizen. Eine Flut von Schatten, von Repräsentationen, die also nicht einfach festzulegen, die aber auch nicht endlos ist, die man sogar auf mehr oder weniger magische Weise als Bild fassen kann, durch die raffinierte Verdoppelung ihres Prozesses: durch die Szenerie der Höhle, die der Mensch, der in ihr gefangen ist, nicht ausmessen, deren Zeit-Raum er nicht abschätzen kann. Begrenzt in und durch seine Verzauberung, beeindruckt von Spektakeln, die (ihm) die Zeit vergehen lassen, deren Dahinfliegen nicht genau berechnet, gezählt werden kann, es sei denn durch repititive Skandierungen, die schwer zu erkennen und festzulegen sind. Und der, dem es dennoch gelingt, die Sequenzen zu unterscheiden, dem es gelingt sich an ihre Gliederungen zu erinnern, ihre Wiederholungen vorauszusehen, der verdient fraglos, dass man ihn zu einer solchen Leistung beglückwünscht.“

Zwei Formen von Fiktion zerreißen die Zeit der Gegenwart und machen sie sich streitig … Funkeln der fein zerstäubten Spiegel-Folie. Gott spiegelt nichts als das Selbe. Reines Spiegel-Sein, reines Sein des Spiegels. Indem Reflexion ohne Reflex ist, ohne sichtbaren Effekt eines Doppelbildes, der keinen Schatten eines Zweifels an der Identität mit sich hinterlässt, keine Spur davon, dass schon etwas stattgefunden hat; der keine Unterstützung bietet als Zeuge eines Anfangs des Seins als Selbst der keine noch materielle Matrix hat, die sich an den eigenen Tod in dieser Spiegelung und Spekulation erinnern könnte und die dabei die schemenhaften Reste von alledem, was sich in jedem Augenblick in der (angeblich) unbeschädigten Gegenwärtigkeit seiner spiegelnden Oberfläche erhebt, in die bewegte Nacht ihrer Höhle zurückholt. Es werden Maler und Dichter sein, die diese Höhle erforschen …., solche die Gefallen an der Darstellung der Wiederholung – an der hysterischen Mimesis – haben, aber es werden nie die guten Bürger sein.“

Der Grundriss der Kirche und der Grund-Riss des Kunstwerks

Aber nicht nur die Zeit ist zerrissen, sondern auch der Raum trägt einen Riss in sich, wenn wir ihn denn als Raum wahrnehmen. „Für den religiösen Menschen“, so schreibt Mircea Eliade in seinem Buch über das Heilige und Profane, „ist der Raum nicht homogen; er weist Brüche und Risse auf: er enthält Teile, die von den übrigen qualitativ verschieden sind. ‚Komm nicht näher heran!’ sprach der Herr zu Mose, ‚Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden’ (Exodus 3,5). Es gibt also einen heiligen, d.h. ‚starken’, bedeutungsvollen Raum, und es gibt andere Räume, die nicht heilig und folglich ohne Struktur und Festigkeit, in einem Wort amorph sind ... Weisen wir sofort darauf hin, dass die religiöse Erfahrung der Inhomogenität des Raums eine Urerfahrung darstellt, die wir einer ‚Weltgründung’ gleichsetzen dürfen ... ein primäres religiöses Erlebnis, das aller Reflexion über die Welt vorausgeht.“ Für eine Orientierung in der Welt ist nach Eliades Überlegungen ein derartig eindeutig ontologisch bestimmter Punkt notwendig. Als Beispiel nennt Eliade den Kirchenbau. Dabei kann man den heiligen Ort nicht frei wählen, sondern nur suchen und finden. Das Weltsystem der traditionsgebundenen Gesellschaften lässt sich nach Eliade so beschreiben: „a) ein heiliger Ort stellt einen Bruch in der Homogenität des Raumes dar; b) dieser Bruch ist durch eine ‚Öffnung’ symbolisiert, die den Übergang von einer kosmischen Region zur anderen ermöglicht (vom Himmel zur Erde und umgekehrt von der Erde in die Unterwelt); die Verbindung mit dem Himmel kann durch verschiedene Bilder ausgedrückt werden, die sich alle auf die axis mundi beziehen: Säule, Leiter, Berg, Baum, Liane usw.; d) rund um diese Weltachse erstreckt sich die ‚Welt’ (‚unsere Welt’), folglich befindet sich die Achse ‚in der Mitte’, im ‚Nabel der Erde’, sie ist das Zentrum der Welt.“ Weitere Schlussfolgerungen ergeben sich daraus: „a) heilige Städte und Heiligtümer befinden sich im Zentrum der Welt; b) die Tempel sind Nachbildungen des kosmischen Berges und bilden das Band zwischen Erde und Himmel; c) die Grundmauern der Tempel tauchen bis tief in die unteren Regionen hinab.“ Ein derartiger heiliger Raum ist immer: imago mundi. Jede Kirche ist also eine Thematisierung eines Grund-Risses in der Welt, wäre sie das nicht, dann wäre sie nicht als Kirche erfahrbar.

In diesen lokalisierten Grund-Riss, der im Falle der Kasseler Karlskirche die Form eines gestreckten Oktogons angenommen hat, zeichnet Yves Netzhammer sein Werk ein. Schon die formale Konstruktion seines Werkes ist eine Zeichnung in den Raum. Wie aber zeichnet man sich in einen Grundriss ein, der selbst wiederum als imago mundi Zeichen eines Risses in der Welt ist? Netzhammer macht dies, indem er den Riss erst recht betont, indem er diese Grundlage des Raums, die immer nur mit gesetzt ist, reflexiv erfahrbar macht. Und indem er sie mit seinen Bildern, seinen Imaginationen besetzt. Die „Subjektivierung der Wiederholung“ der Rissbildung in der Welt legt – wie ein Speculum – Sichtweisen frei, die im Körper des Raumes zwar potentiell enthalten sind, deren man aber nur in dieser konkreten künstlerischen Form ansichtig wird. Der Körper des Raumes beginnt von seinem Grund-Riss her zu sprechen, seine Sprache aber findet er erst in der Kunst von Yves Netzhammer, die den Grund-Riss zur Sprache bringt.

Die Poesie der Bilder im Zeitalter ihrer digitalen Konstruktion

„Aus dem materialen Begriff der Moderne folgt, pointiert gegen die Illusion vom organischen Wesen der Kunst, bewusste Verfügung über ihre Mittel. Auch darin konvergieren materielle Produktion und künstlerische. Die Nötigung, zum Äußersten zu gehen, ist die einer solchen Rationalität im Verhältnis zum Material, nicht eine zum pseudowissenschaftlichen Wettlauf mit der Rationalisierung der entzauberten Welt. Sie scheidet das material Moderne kategorisch vom Traditionalismus. Ästhetische Rationalität erheischt, dass jedes künstlerische Mittel in sich und seiner Funktion nach so bestimmt sein muss wie möglich, um von sich aus zu leisten, wovon kein traditionales es mehr entlastet … Kunst ist Rationalität, welche diese kritisiert, ohne ihr sich zu entziehen; kein Vorrationales oder Irrationales, wie es angesichts der Verflechtung jeglicher menschlichen Tätigkeit in die gesellschaftliche Totalität vorweg zur Unwahrheit verurteilt wäre.“ Theodor W. Adornos Sätze aus der Ästhetischen Theorie können zum Verstehen der Arbeitsweise von Yves Netzhammer hilfreich sein. Seine Bildkonstruktionen – ob sie sich in computergenerierten Videoproduktionen oder in grafischen Arbeiten äußern – sind tatsächlich Konstruktionen und Dekonstruktion zugleich.

Yves Netzhammers Bilder sind offensichtlich präzise computergenerierte Bilder. Ist dieses „Wie“ wichtig? Ja und Nein. Nein, insofern die Bilder tunlichst nicht auf ihre Genese reduziert werden sollten, hier verdeckt der Begriff der Medien- oder Computerkunst mehr, als er erhellt. Ja, insofern erst mit dem fortgeschrittenen Stand der Materialbeherrschung Bilderfolgen möglich werden, die es vorher nicht geben konnte. Netzhammers Kunstfiguren bewegen sich offenkundig in Welten, für die die gängigen Gesetze der Wirklichkeit aufgehoben sind. Der Betrachter erfährt dies in der Wahrnehmung geradezu physisch.

Was sehen wir?

Wir blicken in einem gewissen Sinn auf die Paradoxie des Sehens (und des Sinns), insoweit unser Gehirn automatisch Sinn konstruiert, auch wenn es mit Paradoxen konfrontiert wird. Angesichts der Bilder von Yves Netzhammer beobachten wir uns beim Beobachten, wir reflektieren unsere sinnliche Wahrnehmung. Unser Auge sieht ein Bild, ‚liest’ es und muss im zweiten Blick feststellen, dass die unterstellte Logik (der Erzählung, der Optik, des Sinns und der Sinne) nicht zutreffend ist. Nun muss sich unser Sinn suchendes Gehirn mittels des Auges auf eine erneute Suche begeben, muss Sinnmöglichkeiten (re-)konstruieren, um nicht in der Sinnlosigkeit zu enden. Alles, was in unserer Alltagserfahrung Sinn ergeben könnte, kann (nicht erst) im Zeitalter der digitalen Konstruktion der Bilder und ihrer Sequenzierung von der Kunst unterlaufen werden. „Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel; das hat von alters her die Theorie der Kunst irritiert. Dass Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache“ (Theodor W. Adorno). Rätselhaft sind die Bilder von Yves Netzhammer und wie Rätsel fordern sie zur Enträtselung heraus. Eine ‚Lösung’ gibt es dabei nicht, insoweit es zu immer neuen Konstellationen und Herausforderungen kommt.

Die poetische Konstruktion der Bilder Yves Nerzhammers mag dabei an literarische Konstruktionen von Franz Kafka erinnern („Was für ein Naturspiel“, sagte K. und fügte, als er die ganze Hand überblickt hatte, hinzu: „Was für eine hübsche Kralle!“). Und tatsächlich gibt es frappante Ähnlichkeiten: der Gestus des Gütigen, der umschlägt in die schneidende und verletzende Geste, die Ordnung der Dinge, die unvermittelt auseinander bricht, wenn sie auf eine Bewegungsfolge stößt, die der eigenen Bewegung entgegen gesetzt ist. Digitale Poesie bietet Wahrnehmungsmöglichkeiten, die auf der Ebene der Alltagswahrnehmung als Phantasmorgien bezeichnet werden müssten. Was das Auge des Betrachters dieser (digitalen) Poesie als Normalität zu akzeptieren bereit ist, wäre auf der Ebene der Lebenswelt die Aufhebung aller Logik. Dabei lässt die Bilderwelt von Yves Netzhammer immer wieder Möglichkeiten des Identifizierens zu, eine Eule, ein Vogel, ein Schwan, dazwischen ein Pelikan? Aber keine der Identifikationen trifft, jede wird an einer Stelle durchbrochen und irritiert. Man bräuchte eine Leitfaden, so wie es das mittelalterliche christliche Bildersystem mit dem Physiologus an der Hand hatte. Den Physiologus für die Bilder von Netzhammer muss der Betrachter selbst entwickeln.

Wie sehen wir?

Vermutlich zu zerstreut. Dazu hat der Kunstphilosoph Boris Groys schon zur letzten documenta angemerkt, dass Kunst heutzutage nicht mehr kontemplativ ist, sondern unsere Kunstwahrnehmung sich der Medienentwicklung angepasst hat. Aber im Medium des Kunst-Videos gibt es wenigstens den Loop, die Wiederholung, also eigentlich den endlosen Fluss der Wieder-Holung. Die hier zu sehenden Bilder wiederholen sich aber nur technisch und keinesfalls hermeneutisch. Heraklits Satz „In dieselben Flüsse steigen wir hinab und nicht hinab, wir sind es und sind es nicht, denn in denselben Strom vermag man nicht zweimal zu steigen“ gilt auch für die Wahrnehmung von Kunst-Videos und erst recht für die Bilder von Yves Netzhammer. Die „Subjektivierung der Wiederholung“ ist ganz und gar radikal. Es ist die Aufgabe des Betrachters, Netzhammers Zeichenprozessen zu folgen, durch die Bildkonstruktionen hindurchzublicken, die Wieder-Holungen im Bild aufzusuchen, die Spiegelungen zu durchblicken und den internen Verweisen nachzugehen, in das „grenzenlose Spiel möglicher Formen“ einzutreten. „Die so genannte ‚darstellende’ Kunst kann nicht mehr als einfache Wiederholung eines vorher existierenden Modells gedacht werden, sondern nur als ein ursprüngliches Double, das jede Sicherheit erschüttert, die der Identität des ‚Gegenstandes’ sowie jene des Subjekts, indem es jedes ‚Wirkliche’ durch seine außergewöhnliche und faszinierende ‚Präsenz’ verdoppelt“ (Sarah Kofman).

„Die Subjektivierung der Wiederholung. Projekt A und Projekt B“ nennt Netzhammer seine Arbeiten auf der diesjährigen Biennale in Venedig (kuratiert von Dr. Urs Straub) und auf der Begleitausstellung zur documenta XII in der Karlskirche in Kassel.

Literatur
  • Pochat, Götz: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie. Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Köln 1986.
  • Irigaray, Luce: Speculum, Spiegel des anderen Geschlechts (1974), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980 (6. Auflage 1996)
  • Eliade. Mircea: Das Heilige und das Profane – vom Wesen des Religiösen, Frankfurt 1984
  • Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt 5/1981
  • Sarah Kofmann, Melancholie der Kunst, Graz/Wien 1986.

Eine Diskussionsveranstaltung mit Yves Netzhammer und dem Schweizer Schriftsteller Nils Röller findet am Abend des 20. Juli 2007 in der Karlskirche in Kassel statt. Interessenten sind herzlich eingeladen. Im Rahmen der Ausstellung VISION | AUDITION wird Yves Netzhammers Arbeit Die Subjektivierung der Wiederholung gezeigt.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/47/am214.htm
© Andreas Mertin