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Magazin für Theologie und Ästhetik


Parallelen

Fritz Winter, Gerhard Richter, Tadao Andō

Karin Wendt

Wieder von vorn?

Es ist als würde derzeit in Bezug auf Kunst lediglich ein modernes Paradigma noch Geltung haben: das ihrer praktischen Zweckfreiheit. Dass die Absage der Moderne aber auch jedem Versuch einer inhaltlichen Funktionalisierung von Kunst galt und gelten muss, scheint mir heute fast schwerer vermittelbar als man sich dies in Deutschland unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vorstellen mag, wo Künstler wie in der Gruppe ZEN 49 und Initiativen wie die Darmstädter Gespräche die Auseinandersetzung mit dieser Entscheidung von der Gesellschaft einforderten und die Diskussion darum öffentlich führten. Tatsächlich war die Entscheidung, an die ästhetischen Errungenschaften vor 1933 anzuknüpfen, überlebensnotwendig – als Voraussetzung für einen Neuanfang in der eigenen Existenz und um Anschluss an eine gemeinsame Geschichte zu finden. Wenn wir heute auf diese Zeit blicken, fällt uns meist nur die programmatische und bisweilen auch ideologische Verknüpfung von Freiheit und Abstraktion auf. Das Beharren auf dem Primat der Form war jedoch nicht identisch mit einem abstrakten Formenkanon. Auch die Tatsache, dass die Idee der Abstraktion in der Folge politisch instrumentalisiert wurde[1] und inzwischen – wie die der Figuration auch – von Künstlern nurmehr als künstlerische Folie der Aneignung neben anderen frei gewählt wird, darf nicht dazu dienen, alle Konflikte und Wegmarken dieser Befreiungsgeschichte zu ignorieren, um an eine vermeintlich inhaltlich gegründete und damit Sinn stiftende Kunst anknüpfen zu können. Es gab sie nie. Erst die Betrachtung dieses Weges erlaubt uns freilich, Neuerungen, ja Revolutionen überhaupt zu sehen. Das Bemühen verstehen zu lernen und weitergeben zu wollen, was Kunst nach dem „Ende der Kunst“ für unsere Befreiung zum Menschsein bedeutet, vermisst man derzeit auch von Seiten der beiden christlichen Kirchen.

Unbehagen gegenüber einem verkürzenden Verständnis dessen, was mit der Abstraktion erreicht worden war, äußerten Künstler bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Um zu erläutern, dass die Autonomiebestrebungen der Moderne nicht nur eine schrittweise Entfernung von der gegenständlichen Darstellung beinhalteten, sondern eine grundlegend veränderte Wahrnehmung von Kunst, griff man Anfang der 30er Jahre auf Hegels Begriff des Konkreten als das Wirkliche im Sinne eines vollständig begrifflich Bestimmten zurück. In einem Kommentar zum Manifest der „Art concret“ pointierte der Künstler und Theoretiker Theo van Doesburg, was bis heute die neue Wahrnehmung begründet: „Konkrete und nicht abstrakte Malerei. Denn nichts ist konkreter, wirklicher, als eine Linie, eine Farbe, eine Oberfläche.“ Zur Entwicklung dahin schrieb van Doesburg weiter: „Auf der Suche nach der Reinheit waren die Künstler gezwungen, von den Natur-Formen, die die plastischen Elemente verbargen, zu abstrahieren. Um sich auszudrücken und Kunstformen zu schaffen, war der Gestalter gezwungen, die Natur-Form zu zerstören. Heute ist die Idee der Kunst-Form (Beispiel Picasso, Abstraktion) ebenso veraltet wie die Idee der Natur-Form (Beispiel: Paulus Potter), Naturalismus.“ Die „Evolution der Malerei“ bestehe nun in der Suche nach „dem Wahren, als Kultur des Optischen.“[2] Mit dem Begriff der „Kunstform“ bediente sich van Doesburg erneut der Terminologie von Hegel. Dieser hatte drei historische Kunstformen unterschieden: die symbolische, die klassische und die romantische. In der symbolischen Kunstform, so Hegel, erscheinen Form und Inhalt in einem beliebigen Verhältnis zueinander, in der klassischen finden sie eine angemessene Einheit und in der romantischen übersteigt der Inhalt die Form und bewirkt so für die Wahrnehmung ein Äußerlichwerden der Form. Van Doesburg konstatiert nun für den Übergang zur Moderne zunächst eine Unterscheidung zwischen Natur-Form und Kunst-Form, also zwischen Kunst als Nachahmung von Natur auf der einen und Kunst als von der Natur abgeleitete Darstellung der Welt auf der anderen Seite. Beides wird in der Moderne überboten, insofern das ästhetisch „Wahre“ nicht mehr wie noch bei Hegel die sinnliche Darstellung eines verstehbaren Inhalts ist, sondern „eine Kultur des Optischen“, also die je spezifische Erschließung seiner visuellen Form. Zum einen gehört dieser Versuch, idealistisches Gedankengut auf eine materialistische Grundlage zu stellen, zu den typischen Kippfiguren der klassischen Moderne. Zum anderen stellt van Doesburgs Begründung der modernen Kunst als konkreter ‚Bruch’ mit den bisherigen ‚Kunstformen’ eine der frühesten Explikationen von Hegels These vom „Ende der Kunst“ dar. Modern ist sie deshalb, weil er erkennt, dass erst durch die von der modernen Kunst nicht mehr geleistete Integration von Inhalt und Form Kunst einen autonomen kulturellen Stellenwert bekommt.[3]

Die Rede vom „Ende der Kunst“ ist keine Rede vom Ende des Fragens nach Sinn. Es ist jedoch die Einsicht in das Ende einer letztgültigen Beantwortung dieser Frage. Die Kunst, so könnte man sagen, nimmt daher keine andere Haltung ein als jeder ernsthafte Versuch der Reflexion. Sie behält sich jedoch das Verharren in diesem Schwebezustand vor. Nicht die Wissenschaft und nicht die Religion können den Menschen in diesem Schwebezustand lassen, sie müssen versuchen, ihn zu erden und zu verorten. Beides, Schweben und Stehen, ist aber für unser Leben notwendig, weil wir nur so überhaupt vom jeweiligen Zustand erfahren. Antworten machen nur Sinn, wenn es offene Fragen gibt. Offene Fragen gibt es aber nur dort, wo es überhaupt den Modus des ernst gemeinten Fragens gibt. Der Philosoph Achille Oliva Bonito schreibt zu Beginn der 80er Jahre: „Der Künstler stellt sich den unausweichlichen Grundfragen und auch dem schmalen Raum zwischen der Frage und der Antwort, die die Kunst geben kann, so dass schließlich das Werk dem reinen Fragen entspricht und die Befragung der mythischen Bewegung der Existenz entspricht. [...] So wird das Werk Modus und Maßstab eines Oszillierens zwischen der Gegenwart der Frage und der Abwesenheit der Antwort. Ein Werk, das absolut von der eigenen Ausführung motiviert wird und keiner Anerkennung von außen bedarf. Die Überwindung des metaphorischen Gebrauchs der Sprache entsteht tatsächlich aus dem Vertrauen des Künstlers in die eigene Bestimmung und in die Konkretheit der geschaffenen Zeichen.[4]

Parallel zur Natur

Eine der Grundfragen unserer Existenz betrifft unser Verhältnis zur Natur. Was ist natürlich und wie natürlich ist das Künstliche? Woher kommt die Unterscheidung zwischen beidem und wohin führt sie, wenn ich sie auf die Umgebung, auf andere Menschen oder aber mich selbst anwende? Der Künstler Paul Cézanne hat sich besonders intensiv mit dem Phänomen der Natur auseinandergesetzt und beschreibt in einem Gespräch mit dem Schriftsteller Joachim Gasquet, wie er versucht, das was er sieht, möglichst direkt in Farbe und Form übersetzen, ohne dabei eine bestimmte Idee von Natur zu verfolgen: „Die Natur ist immer dieselbe, aber von ihrer sichtbaren Erscheinung bleibt nichts bestehen. Unsere Kunst muss ihr das Erhabene der Dauer geben, mit den Elementen und der Erscheinung all ihrer Veränderungen. [...].“ Jede bestimmende Vorstellung von Natur macht blind gegenüber deren Komplexität. Der ästhetische Blick versucht daher, diese Komplexität zunächst einmal wahrzunehmen. So führt Cézanne seinen Gedanken weiter aus: „Was ist hinter der Natur? Nichts vielleicht. Vielleicht alles. Alles, verstehen Sie. [...] Ich nehme rechts, links, hier, dort, überall diese Farbtöne, diese Abstufungen, ich mache sie fest, ich bringe sie zusammen. – Sie bilden Linien, sie werden Gegenstände, Felsen, Bäume, ohne dass ich daran denke. Sie nehmen ein Volumen an, sie haben einen Wirkungswert. Wenn diese Massen, diese Gewichte auf meiner Leinwand, in meiner Empfindung den Plänen, den Flecken entsprechen, die mir gegeben sind, die wir da vor unseren Augen haben, gut [...] Aber wenn ich die geringste Ablenkung habe [...] besonders wenn ich einmal zu viel hineindeute, wenn mich heute eine Theorie fortreißt, die der von gestern widerspricht, wenn ich beim Malen denke, wenn ich dazwischenkomme, dann stürzt alles ein und ist verloren.“[5] Die Gesetzmäßigkeit der Kunst, die ihr eigene Harmonie, so folgert Cézanne, verhält sich parallel zur Natur, und zwar insofern, als sie für uns sichtbar macht, wie unsere Wahrnehmung der äußeren Welt von unserer inneren Vorstellung durchdrungen ist. Noch einmal mit den Worten von Cézanne: “die gesehene Natur, die empfundene Natur, die dort draußen (er deutet auf die grüne und blaue Ebene und die hier drinnen – (er schlägt sich an die Stirn), beide müssen sich durchdringen, um zu dauern, zu leben, ein halb menschliches, halb göttliches Leben, das Leben der Kunst, hören Sie – das Leben Gottes. Die Landschaft spiegelt sich, vermenschlicht sich, denkt sich in mir. Ich objektiviere sie, übertrage sie, mache sie fest auf meiner Leinwand.

Cézannes Ethik aus einer Ästhetik der Natur verlangt drei Fähigkeiten: Intuition, Aufmerksamkeit und Verantwortung. Im Folgenden möchte ich drei Arbeiten vorstellen, die diese Momente in je verschiedenen Medien thematisieren und so höchst unterschiedliche Beispiele einer gelungenen Parallelisierung von Kunst und Natur darstellen. Intuition ist eines der Themen des Malers Fritz Winter (1905-1976); was ästhetische Aufmerksamkeit heißt, vermittelt die Kunst von Gerhard Richter (1932); inwiefern sich ein Gebäude vor der Natur und vor dem Menschen verantwortet, zeigt die Architektur von Tadao Andō (1941).

Vom Schweben

An die selbstreflexive Wende der Kunst vor dem Krieg anzuknüpfen, bedeutete nach 1945 an der in Bewegung geratenen Bildform weiterzuarbeiten. Die perspektivische Aufsplitterung des Gegenstandes in Kubismus und Futurismus, die Erweiterung des Raumes im russischen Konstruktivismus und seine flächenparallele Einebnung in der konkreten Malerei – all dies waren Neuerungen, die Eckpunkte markiert hatten und nun zum Weiterdenken herausforderten. Die ersten Versuche der Nachkriegsjahre, einen eigenen ‚bildnerischen Rhythmus’ (Kandinsky) zu finden, zeichnen sich durch zweierlei aus: Sie wirken verglichen mit den modernen Vorbildern verhalten, ja fast ‚gezähmt’[6]; bestimmte Kompositionsentscheidungen werden oft so ausformuliert, dass die Bilder bisweilen wie Illustrationen bestimmter Formlösungsansätze wirken. Zum anderen bilden viele der Kunstwerke aber gerade in dieser dem Versuch des Verstehens geschuldeten Aneignung einen ganz eigenen Bildtonus aus, der sie zu unverwechselbaren Dokumenten künstlerischer Sensibilität werden ließ. Die Kunst der frühen 50er Jahre bildet in ihrer Mischung aus dem Verzicht auf heroische, wenn man so will klassische Gesten, und einer ungewöhnlichen Detailpräzision, in der Entscheidung für das ‚kleine’ Format und für eine radikal individuelle Formensprache eine Art Ästhetik des ‚Schwebens’ aus. Sie lässt Raum für das Unbewusste, für das assoziative Sehen und manchmal auch für den gänzlichen ‚Verlust’ der Form.

Das Bild „Kommendes Rot“ von Fritz Winter gehört zu den schönsten Beispielen dieser ahnungsvollen Ästhetik, welche die Entwicklung der Moderne in sich trägt und zugleich nahezu aufhebt. Es entstand 1951, gut zwei Jahre nachdem Winter aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden war und wieder in Dießen am Ammersee lebte. Dorthin hatte er sich 1933 zurückgezogen, als ihm von den Nationalsozialisten an der Pädagogischen Akademie in Halle Lehrverbot erteilt wurde, bis 1937 dann auch seine Malerei verboten und er 1939 zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Es sind die Jahre, in denen er sich als Gründungsmitglied der Künstlergruppe Zen 49 intensiv für eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und nicht zuletzt für eine Rehabilitation der Kunst einsetzt.

„Kommendes Rot“ ist eines von Winters „Formenzeichen-Bildern“.[7] Zu sehen sind drei schwarze Winkelformen, die in ihrem eigenen ‚Drehimpuls’ jeweils zur benachbarten Form überleiten und so – vergleichbar der Flugbahn eines Bumerangs – deren gegenläufige Drehung ‚anstoßen’. Die damit entstehenden zentripedalen Impulse bleiben jedoch verhalten, insofern die Winkel vom unteren Bildrand angeschnitten sind und von dort gleichsam ins Bild ‚hineinwachsen’. Geht der Blick nun zurück in die leere Bildmitte, ‚erlischt’ die zuvor erahnte exzentrische Bewegung der drei Winkelformen. Sie erscheinen nun vielmehr als eine Dreierkonstellation, die von einem unsichtbaren Dreh- und Angelpunkt her gestützt wird. Die anfänglich bewegten Einzelformen verdichten sich in ihren Bezügen zu einer zeichenhaft lesbaren ‚Situation’. In letzter Konsequenz nimmt man einen erzählerisch gegebenen Formenbezug im Bild wahr, der die das ganze Bild dynamisierenden Bezüge nur noch sehr schwach wirksam werden lässt. Winters formenassoziierendes Verfahren bewirkt, dass sich die anfänglich wahrgenommene Schwebewirkung der Einzelformen nach und nach zu einer ‚nächtlichen Szenerie’ verdichtet. Anders als etwa in den suprematistischen Kompositionen von Malewitsch kommt es bei Winter nicht zum Oszillieren der Formen und einem ‚Kippen’ des Bildfeldes zwischen Raum und Fläche, sondern die leere Bildmitte wird zum Integrationspunkt divergierender Bewegungen und so zu einem imaginären Zentrum. Diese Tendenz zur abstrakten Figuration weist gezielt über eine streng exemplifizierende Ästhetik des Gegenstandslosen hinaus. Die Komposition lässt Raum für Projektionen; Eindrücklichkeit und Fragilität des Bildes liegen nicht zuletzt in der darin gespiegelten Schwachheit des Subjekts.

Die ästhetische Labilität der Kunst aus den frühen 50er Jahren, fast könnte man sagen ihr ‚Todestrieb’, ist vielleicht ein Grund, warum wohl die Fortschreibung der Moderne im Informel, nicht aber ihre Erneuerung in Europa stattfinden konnte. Der abstrakte Expressionismus, Action Painting und Hard Edge – die Entwicklungen der so genannten Zweiten Moderne – waren Aufbrüche, die aus einer selbst ungebrocheneren Haltung heraus gewagt wurden.

Zufallsordnungen

Eigentlich ist es selbstverständlich, für eine gestalterische Aufgabe Künstler anzufragen, von denen man Herausragendes erwarten kann. Nachdem Gerhard Richter für den Auftrag, das Südquerhausfenster des Kölner Doms neu zu gestalten, gewonnen werden konnte, ist es peinlich, dass die offiziellen Internetseiten betonen, „dass Gerhard Richter kaum als Kirchenkünstler gelten kann [...] und auch grundsätzlich sein Oeuvre nicht unbedingt offenkundig religiöse Motivation vermuten lässt“, dass der Domprobst daher „freimütig urteilte“, als er sagte: „Dieses Fenster stellt nichts Religiöses dar, aber eine Herausforderung des Sehens“, und dass das Domkapitel – natürlich! – zunächst eine „figürliche Darstellung“ gefordert hatte, sich dann aber „gerne überzeugen“ ließ.[8] Wahrscheinlich hätte eine Rekonstruktion des 1863 vom Preußenkönig Wilhelm I. gestifteten Glaskunstwerks mit einem Bildprogramm von Königen und Erzbischöfen, wenn jene denn möglich gewesen wäre, keinen derartigen Kommentar erfahren. Da mit der Zerstörung des Fensters im Zweiten Weltkrieg aber auch alle Unterlagen dazu verbrannt sind, war Raum für eine zeitgenössische Gestaltung.

Richters Entwurf sieht vor, die bisherige helle Verglasung des mehr als 100 Quadratmeter großen Fensters durch 11.500 Farbquadrate in 72 unterschiedlichen Farben mit einer Kantenlänge von je 9,4 cm zu ersetzen. Der Künstler greift dafür auf sein Konzept der systematischen Konstellation von Farbmodulen zurück, angefangen 1966 in den 18 Nachmalungen von Lackmusterkarten, über die Farbrasterbilder „180 Farben“ von 1971, weiter generalisiert in dem Bild „1024 Farben“ von 1973 sowie in dessen nachträglicher Re-Konstruktion: der Werkfolge „Permutation 1-1024“ von 1974. Um die unterschiedlichen Farbenmischungen zu ermitteln, legte Richter dabei ein mathematisches System zugrunde und ließ den Aufbau der Bilder mit 4, 16, 64, 256 und 1024 Farbfeldern der arithmetischen Progression folgen. Die eigentliche ‚Vorlage’ für die Glasarbeit ist die ‚ausgereifte’ großformatige Arbeit „4096 Farben“, auch aus dem Jahr 1974, in der er die Farben zu einer freien, nach subjektiven Kriterien festgelegten Anordnung fügte. Der Bau des Glasfensters folgt jedoch erneut einer Zufallsdramaturgie, indem der Computer die vielen unterschiedlichen Farbfelder so ordnet, dass keine Farbe den Gesamteindruck dominiert. Die einzelnen Partikel werden auf einer Trägerscheibe mit Silikon-Gel fixiert, so dass die Quadrate auf den 113 Quadratmetern über eine Höhendistanz von 40 Metern halten.

Vergegenwärtigt man sich die Geschichte der Befreiung der Farbe aus ihrer figuralen Indienstnahme, vom anfänglichen Verzicht auf Lokalfarbigkeit, über die Infragestellung und schließlich Aufhebung der Figur-Grund Beziehung, bis hin zum monochromen Experiment, so muss der Entwurf eines Glaskunstmosaiks wie ein Rückbau dieser Entwicklung erscheinen. Genau in dieser Rückführung des von allem Inhalt befreiten Elements in einen historisch gewachsenen und mit Erfahrung gesättigten Raum, wird jedoch eine andere Traditionslinie sichtbar: „Glas und Vision waren in der Definition der avantgardistischen Architekten und Künstler der beiden ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland unvermeidlich in das Modell einer utopischen Vision eingebunden, erfasst in dem von Ernst Bloch geprägten Begriff des Vorscheins. Trotz ihrer säkularisierten Erwartungen, waren diese utopischen Visionen im Rahmen der Architektur immer wieder auf die Institution und die Idee der Kathedrale zentriert, jenen geschichtlichen und gesellschaftlichen Ort, in dem einer der europäischen Religionen ihre Mythen der Kollektivität konkretisiert hatte. So ist es nicht erstaunlich, dass der neue Glaskult sein Projekt der Säkularisation zuerst an eben jenem Material – dem mittelalterlichen Glasfenster – ansetzen wollte, das traditionell am stärksten mit religiösen Versprechen besetzt [...] worden war.“ Richter hat sich bereits einmal direkt in diesem Kontext bewegt, als er ein farbiges Glasfenster für ein ursprünglich von Walter Gropius entworfenes Berliner Privathaus ausführte.[9] Indem Richter „alle Farbelemente durch eine aleatorische Kombination anordnete, demselben Verfahren der Zufallsanordnung folgend, das er auch schon einige Jahre zuvor in der Werkgruppe ‚1024’ Farben eingesetzt hatte“ und so die Farbe enthierarchisierte, löste er das Fenster „aus seinen romantischen und symbolistischen Bezügen ebenso wie aus seinen religiösen und kultischen“.[10] Was blieb, war die Eigenwertigkeit der Farbe unter Wahrung ihrer Komplexität. Diese semantische Herauslösung kann in einer Kirche nicht gänzlich erfolgen. Ganz anders erinnert die Konzentration auf die farbigen Eigenschaften des Lichts und der bewusste Verzicht auf eine Binnenerzählung in diesem Kontext erneut an den Gedanken der Läuterung durch Glas, wie ihn der Architekt Adolf Behne in seinem Buch „Die Wiederkehr der Kunst“ 1919 äußerte: „Unter allen Substanzen, die uns zur Verfügung stehen, erzielt Glas den elementarsten Effekt. Es reflektiert den Himmel und die Sonne, es ist klar wie Wasser und es besitzt einen Reichtum an Möglichkeiten an Farbe, Form und Charakter [...] Sein tiefster Effekt jedoch wird sein, dass es die Rigidität und die Härte des Europäers aufbrechen wird ... Glas wird ihn verwandeln.“[11] Eine solche Analogie zwischen dem lichtdurchlässigen Fenster und dem geöffneten Geist formulierte Wilhelm Durand bereits 1286 in seinem Werk "Der Symbolismus von Kirchen", wenn auch freilich mit theologischer Pointe: "Auch lassen die Fenster die Sinne des Körpers erkennen, die geschlossen sein sollten gegen die Eitelkeiten der Welt und geöffnet, um mit aller Freiheit die Gaben des Geistes zu empfangen." In der Rück-Sicht auf diese kulturelle Genese liegt vielleicht die Möglichkeit zu einer Erneuerung des Gedankens der Aufmerksamkeit – jenseits didaktischer Erläuterungen – unmittelbar in der Gegenwart.

Architektur der Verantwortung

Als der japanische Architekt Tadao Ando gefragt wurde, “who would you like to design something for?”, antwortete er: “I believe that the way people live can be directed a little by architecture. I would like my architecture to inspire people to use their own resources, to move into the future. although now we are more and more governed by the american way of thinking, money, the economy... I hope that now people will shift to a more european way (of thinking), culture, individuality, and that people move towards new goals.”[12]

Andō verbindet in seiner Architektur wesentliche Grundzüge der Klassischen Moderne mit denen einer traditionellen japanischen Ästhetik, beides begegnet sich in einer strengen Komposition aus einfachen geometrischen Formen, einer klaren Linienführung und der Wiederholung des Großen im Kleinen. Gemeinsam ist die klare Untergliederung eines Gebäudes und die Einbindung natürlicher Faktoren wie Licht, Tektonik und Charakter der Landschaft. Charakteristisch ist seine Verwendung von Beton, ein Baustoff, den bereits die Ägypter in einfacher Form beim Bau ihrer Pyramiden verwendeten, und mit dem die Römer Aquädukte und die Kuppel des Pantheon errichteten. Der Wille zur klaren Form und die Nähe zu natürlichen Materialien ließen Beton und Glas verbunden mit dem neuen Material Stahl zu den bevorzugten Materialien der Moderne werden. Beeindruckt habe ihn, so Andō, Le Corbusiers Verwendung des „Béton brut“, der Unebenheiten und Abdrücke der Schalung unkaschiert lässt. Inspiriert wurde er sicher von zukunftsweisenden Entwürfe im Japan der 50er Jahre wie die schwimmende Stadt am Meer (Projekt Unabara) oder die Turmstadt von Kiyonori Kikutake. Denken mag man bei Andōs Ästhetik auch an die Klarheit von öffentlichen Bauten des Amerikaners Louis Kahns und die organische in die Natur eingepasste Bauweise von Häusern wie dem Falling Water House von Frank Lloyd Wright.

Die Anmutung der Betonästhetik ist bei Andō ist jedoch eine völlig andere als die der frühen Moderne. Durch ein spezielles Verfahren bei der Herstellung erscheint die Oberfläche nicht massiv, sondern leicht und lichtdurchlässig. Die Flächen sind gegliedert durch Schaltafeln in der Größe von Tatami-Matten; zusammen mit den Rödellöchern ergibt sich so ein unverwechselbares Oberflächenraster. Mich erinnern sie zudem an die japanischen Schiebewände (Shoji), mit durchscheinendem Papier bespannte Raumteiler in traditionellen japanischen Zimmern. Andō setzt die Wände seiner Gebäude wie riesige Raumteiler zueinander, so dass sie im Zusammenspiel mit dem Außenraum ein subtiles, ‚lebendiges’ Gefüge bilden. „Die Ausführung der Innenräume erfolgt auf der Grundlage asketischer Prinzipien: die Raummitte wird als Ort der Sammlung begriffen, die Helligkeit wird über Lichtschlitze in den Wänden bestimmt. Ziel der Gestaltung der Räume ist ein ‚Finden zu sich selbst’ und die Förderung seelischer Erholung. Der Besucher findet bei Andōs Gebäuden nicht auf direktem Wege Einlass, sondern gelangt nur durch eine schmale und biegungsreiche Wegführung ins Innere. Auch dies soll der inneren Sammlung des Eintretenden dienen. Dort angekommen, öffnen nur wenige größere ‚Bild-Fenster’ den Blick auf die Außenwelt.“[13]

International bekannt wurde Andō 1976 mit dem "Sumiyoshi-Azuma-Haus" in Osaka, berühmt ist seine in den 1980er Jahren errichtete Kapelle am Mount Rokko in Kobe, die "Kirche auf dem Wasser" in Hokkaido und die "Kirche des Lichts" in Osaka. Zwischen 1989 und 1995 schuf er allein in Japan sieben große Museumsbauten, u.a. das Kindermuseum Hyogo in Himeji und das Naoshima Museum für zeitgenössische Kunst in Okayama. Seitdem sind in Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland und den Vereinigten Staaten vielfach ausgezeichnete Privathäuser, Museen, Firmengebäude, Wohnanlagen und Kultureinrichtungen entstanden. Zu seinen jüngsten Bauten in Europa gehört das 2004 eröffnete Ausstellungshaus der Langen Foundation auf dem Gelände der Insel Hombroich. „Harmonisch in die Landschaft eingebettet, präsentiert sich die Langen Foundation als eine von Erdwällen umgebene Anlage aus Sichtbeton, Glas und Stahlträgern. Durch einen weiten Betonbogen führt der Weg an Kirschbäumen und einem künstlichen Spiegelteich entlang zu den zwei architektonisch unterschiedlichen und miteinander verbundenen Gebäudekomplexen: Ein lang gestreckter, von einem Glasmantel umgebener Betonbau und - im 45 Grad Winkel dazu - zwei parallel zueinander gebaute Betonriegel. Diese beiden sind sechs Meter tief in die Erde gegraben und schauen nur zur Hälfte heraus. Die Raumhöhe von acht Meter ist erst im Inneren des Gebäudes erfahrbar. Zwischen den zwei Trakten führt die ‚Grand Stair’ wie eine Art Himmelsleiter aus der Tiefe zurück in die Natur. Betonplatten im Format japanischer Tatami-Matten, der berühmte ‚Beton wie Seide’, lange Treppen, Rampen und Lichtschlitze sind auch für diesen Andō-Bau charakteristisch. Die Anlage ist ein Meisterwerk aus Linien, einem faszinierenden Spiel von Innen und Außen, Kunst und Natur, Massivem und Leichtem. Spiegelungen in dem Glasmantel und dem Wasser des Teiches lösen Grenzen auf und vermitteln den Eindruck von Schwerelosigkeit.“[14]

Die Besonderheit der Bauten von Andō liegt darin, dass sie Räume schaffen, die wir nicht als Begrenzungen und mithin als künstliche wahrnehmen, sondern als Bereiche der Introspektion, des Innehaltens, wenn man so will der Meditation. „Andō schafft Räume der Reflexion und Selbstbefragung, es sind geschützte, leere Räume.“[15] So ermöglichen sie uns, dass wir den Grenzen in uns begegnen, wie Bill Lacy, einer der Juroren des Pritzker-Preises, den Ando 1995 erhält, erkennt: “A key part of Andō's architectural philosophy is the creation of boundaries within which he can create introspective domains, encapsulating space where people can interrelate to light and shadow, wind and water, away from the surrounding urban chaos.”[16]

Andōs Architekturen sind keine in die Landschaft versetzen ‚abstrakten’ Bauten, sondern konkrete Wohn-Orte, im Sinne eines umfassenden Schutzes, im Sinne eines Gestaltungsspielraums, den sie eröffnen und im Sinne der gemeinschaftlichen Repräsentation, die sie bedeuten. Andō, so Lacy, sei Architekt und Erbauer in einem elementaren Sinne, insofern er auf unsere Fähigkeit vertraut, uns in seine offene Gestaltung erfahrend einzulassen. “Andō conceives his projects as places of habitation not as abstract designs in a landscape. It is not surprising that he is often referred to by his professional peers and critics as being as much a builder as an architect. That emphasizes how important he considers craftsmanship in accomplishing his designs.“[17] Für Andō findet sich die Architektur heute auf dem Weg zu einer „Ära der Verantwortung“: "Ich möchte, dass die Leute von meinen Gebäuden ergriffen werden oder angeregt. Ich wollte immer Gebäude schaffen, die den Menschen das Gefühl geben, in Würde zu leben.“[18]

Anmerkungen

[1]    Serge Guilbaut: Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg, (Chicago 1983) Dresden/Basel 1997

[2]    Theo van Doesburg: Kommentar über die Grundlagen der konkreten Kunst, in: Art concret, Paris 1930, zitiert nach: Ausst.Kat. Konkrete Kunst, Kunstgesellschaft Zürich 1960, o.P.

[3]    So formuliert Christoph Menkes die Bedeutung von Hegels Ästhetik für die Moderne in: Ders.: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt/M. 1996.

[4]    Achille Bonito Oliva: Im Labyrinth der Kunst, Berlin 1982, S. 34.

[5]    Paul Cézanne: Über die Kunst. Gespräche mit Gasquet und Briefe [Rowohlts Klassiker Bd. 6, hrsg. von Walter Hess], Reinbek 1957. In dem Buch sind drei Gespräche dokumentiert, die Gasquet unter der Überschrift "Ce qu'il m'a dit" 1921 veröffentlicht hatte. Ab 1896 hatte Gasquet regelmäßig mit Cézanne über dessen Kunst gesprochen.

[6]    Gerda Breuer (Hg.): Die Zähmung der Avantgarde. Zur Rezeption der Moderne in den 50er Jahren, Basel/Frankfurt 1997.

[7]    Fritz Winter: Kommendes Rot, 1951, Öl auf Leinwand, 94 x168 cm. Das Bild befindet sich heute im Besitz der Fritz Winter-Stiftung in München.

[8]    http://www.koelner-dom.de/19067.html

[9]    Gerhard Richter: Glasfenster, 625 Farben, 1989, in: Ausst. Kat. Gerhard Richter: Acht Grau, Deutsche Guggenheim Berlin, New York 2002; dort erwähnt und beschrieben von Benjamin H.D. Buchloh: Gerhard Richter Acht Grau: zwischen Vorschein und Glanz, S. 24.

[10]   A.a.O., S. 24.

[11]   Adolf Behne: Die Wiederkehr der Kunst, Leipzig 1919, zitiert in: Christoph Asendorf: Batteries of Life: On the History of Things and Their Perception in Modernity, Berkeley 1993, S. 25.

[12]   http://www.designboom.com/eng/interview/ando.html

[13]   http://de.wikipedia.org/wiki/Tadao_And%C5%8D

[14]   http://www.langenfoundation.de/deutsch/architektur.html

[15]   Meister des Betons. Der japanische Architekt Tadao Ando, in: http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/kulturzeit/themen/68080/index.html:

[16]   http://www.pritzkerprize.com/andorel.htm#Tadao

[17]   Ebd.

[18]   Siehe Anm. 15.


© Karin Wendt 2007
Magazin für Theologie und Ästhetik 46/2007
https://www.theomag.de/46/kw53.htm

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