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Magazin für Theologie und Ästhetik


Begegnungen

Willem de Kooning, William Kentridge, Paul Chan

Karin Wendt

Das gegenwärtige Kunstgeschehen scheint in die Mitte der Gesellschaft gerückt zu sein. Fast keine Nachrichtensendung ohne Hinweis auf einen neuen Film, eine Theaterinszenierung oder eine spektakuläre Ausstellung. Es gibt eine Fülle von Medienformaten, die Kunst präsentieren und kommentieren. Auf der anderen Seite zählt die Stimme der Kunst aber auch so wenig wie kaum in den vergangenen Jahrzehnten. Nur wenn sie den Rahmen einer restringierten Diskursauffassung nicht sprengt, scheint sie grundsätzlich tolerierbar. Nicht die Kunst stellt in Frage, sie wird in Frage gestellt. Fast ist es, als sei sie nur dann willkommen, wenn sie sich in ihrem Kunstsein verleugnet. Unter Verweis auf die Notwendigkeit eines respektvollen Miteinanders erwartet man nicht selten, dass sich die Kunst einem ‚gesunden’ Empfinden fügt – für Religion, Recht, Ordnung, oder was auch immer man glaubt verteidigen zu müssen. Oft ist hierbei der Rekurs auf verletzte Gefühle lediglich ein dankbares Argument, um die Anstrengung der Reflexion bei der Begegnung mit Kunst zu unterlassen und stattdessen dort Solidarität zu heucheln, wo man in anderem Zusammenhang scharfe Grenzen zieht und harte Unterscheidungen trifft. Erst die Moral und dann ..?

Die Kunst hat ihrerseits vielfältige Formen der Begegnung entwickelt. Das können andere Menschen oder unsere Umwelt, Situationen oder Geschichten und nicht zuletzt wir selbst sein. Im folgenden möchte ich drei Künstler mit Hinblick auf das Moment der Begegnung befragen: Es geht um den Maler Willem de Kooning (1904-1997), Vertreter des Abstrakten Expressionismus, der die Entstehung seines Bildes Woman I zum Anlass einer neuen Ästhetik der Begegnung zwischen Kunst und Kritik werden ließ. Es geht um den Filmemacher und Zeichner William Kentridge (1955), der in seinen Animationsfilmen eine künstlerische Form der Begegnung mit dem historischen Trauma der Apartheit entwickelt hat, und es geht um den Medienkünstler Paul Chan (1973), in dessen Video- und Computerkunst uns bisher Vertrautes auf ungewöhnliche Weise neu begegnet.

Invitation au voyage

Als Willem de Kooning 1950 mit der Arbeit zu einem Bild mit dem Titel „Woman“ begann, hatte er mit dem Kritiker Thomas B. Hess vereinbart, dass dieser ihn während der Entstehung des Bildes wiederholt besuchen und während des Malens beobachten würde, um seine Erfahrungen anschließend in Form eines Essays zu Papier zu bringen. Das Gemälde Woman I wurde nicht zuletzt durch den Aufsatz „Willem de Kooning paints a picture“[1], der im März 1953 in der Zeitschrift Art News erschien, zu einer Art Inkunabel des Abstrakten Expressionismus. Für die Kunstkritik begründete Hess einen neuen Stil.[2] In der Parallelisierung von beurteilendem Schreiben und dem Schaffen eines Kunstwerks lag eine Relativierung der eigenen Deutungshoheit und zugleich eine Aufwertung der Interpretation im Sinne eines Dazwischen-Tretens.

Hess beginnt seinen Essay, indem er die Ausgangssituation und den Gegenstand seiner Beobachtung vorstellt. Das Thema „Die sitzende Frau“ habe den Künstler seit langem beschäftigt, so dass er nun versuchen wolle, in einer intensiven Arbeit gleichsam unter Beobachtung zu einer für ihn befriedigenden Lösung zu gelangen: „In the first days of June, 1950, Willem de Kooning tacked a 7-foot-high canvas to his painting frame and began intensive work on Woman – a picture of a seated figure, and a theme which had preoccupied him for over two decades. He decided to concentrate on this single major effort until it was finished to his satisfaction.”[3] Das Projekt versteht Hess als „Einladung zu einer Reise“. Es ginge bei der begleitenden Beobachtung nicht um die Registration eines Fortschritts oder die Dokumentation einer zielgerichteten Entwicklung, sondern eher um das Wagnis eines Reisenden, der sich dazu entschließt, die eigene vertraute Umwelt zu verlassen um Neuland zu erkunden. Ebenso könne man De Koonings Arbeiten nicht als sukzessive Vervollkommnung eines Bildes beschreiben, sondern als einen Wechsel von Agieren und Reagieren, als eine Suche nach Lösungen, die permanent variiert oder auch ganz verworfen werden. Hess verwendet das Motiv der Reise im Sinne des imaginären Aufbruchs in ein Reich des Fantastischen, des Fremden oder des Unterbewussten. Er stellt sich damit nicht so sehr in die philosophische Tradition der frühen Aufklärung, sondern eher in die der künstlerischen Romantik, die innere Unruhe und menschliche Offenheit als Motor einer gleichsam unendlichen Suche versteht. “It would be a false simile to compare the two years’ work that resulted in Woman to a progress or a development. Rather there was a voyage; not a mission or an errand, but one of those Romantic ventures which so attracted poets, from Byron, Baudelaire, through Lewis Carroll’s Snark, to Mallarmé and Rimbaud (Ingres’ harem, Delacroix’s Barque, Van Gogh’s Berceuse who was to accompagny lonesome sailors are parallels in painting).”[4] Die sich während der Arbeit am Bild vollziehenden Grenzüberschreitungen versteht Hess dann auch gleichnishaft als Suche nach einem übergeordneten Sinn. “There is a certain revulsion preceding and even causing the metaphysical (for the journey is inevitably around the walls of a studio) embarkation.”[5] Gleichwohl spricht sich der Kritiker lediglich für eine formale Analogie zwischen Kunst und Transzendenz aus, nicht zuletzt, indem er ausschließlich künstlerische Beispiele anführt.

Das Gemälde Woman, das bereits nach wenigen Wochen so gut wie fertig war, an dem De Kooning aber weitere zwei Jahre bis zur endgültigen Fassung arbeitete, wird im Aufsatz durch Abbildungen von sechs seiner Zustände dokumentiert. Anhand der Beschreibung dieser Stationen erläutert Hess, welche Verfahren De Koonings im prozessualen Ringen um Form und Inhalt entwickelt. So konzentriere sich De Kooning immer wieder auf einzelne Partien des Bildes, die er herauslöst, indem er sie abpaust, um sie anschließend verändert wieder einzufügen. Durch diese Fragmentierung unterbricht er die Arbeit am Ganzen und findet neue Perspektiven. So kann er verschiedene Weiterentwicklungen des Bildes durchspielen, bevor er sich für eine entscheidet. Die Idee zu den transparenten Bildfragmenten, von ihm selbst Overlays genannt, verdankt sich sicher auch seiner intensiven Auseinandersetzung mit Picassos druckgraphischen Studien, die unterschiedliche Bildzustände zu einem Bild über- bzw. nebeneinander gefügt zeigen. Anders als in der ausschließlich gestischen Malerei erreicht De Kooning durch diese Art der Montage harte Gegensätze in den Dimensionen, Ambivalenzen zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, zwischen Figur und Form sowie zwischen Zeichnung und Farbe. So entsteht der Eindruck, als würden sich im Bild verschiedene Eigenbewegungen vollziehen. Frühere Bildzustände bleiben wie Memos in der endgültigen Gestalt sichtbar und treten untereinander in einen fortwährenden Dialog. Das Malen wird zu einem demonstrativem Akt und die Reflexion sichtbarer Teil der Bildgestalt.

Für die figürliche Wahrnehmung bewirkt das Fragmentieren eine besondere Form der ‚Annäherung’. Indem De Kooning Teile der Figur ausschneidet und sie versetzt wieder anbringt, kommt es zu dem, was er ‚intime Proportionen’ nennt. Es ist, als sehe man jemanden von zu nahe, d.h. verzerrt, undeutlich oder schief. Einzelne Partien lassen sind nicht mehr eindeutig bestimmten Körperregionen zuordnen, sondern wechseln ihre inhaltliche Bedeutung. De Kooning forciert gleichsam das kubistische Verfahren der Mehransichtigkeit, indem er Bereiche im Bild stehen lässt, die jegliche Kohärenzwahrnehmung verweigern. Damit erreicht er zum einen den Eindruck von Lebendigkeit – die Figur ‚springt’ scheinbar vor und zurück. Und er bewirkt den unvermittelten, ja fast brutalen Wechsel zwischen reiner Farbigkeit und anatomischer Lesbarkeit. Der Körper wird zu einem explosiven Aktionsfeld ohne eine bestimmbare Mitte.

Ein weiteres Merkmal der prozessualen Variation ist, so Hess, das „Maskieren“. De Kooning klebt Papier über eine bereits gemalte Fläche, malt dann in heftigen Pinselstrichen auf das Papier und darüber hinaus, entfernt das Papier wieder, so dass es eine freie andersartige Stelle hinterlässt. Dies wirkt sich zum einen auf die Oberflächenstruktur des Bildes aus: Die Farbe bildet ‚Hügel und Täler’. Die noch entscheidendere Wirkung ist aber der ‚Lupeneffekt’. Es ist als würde man, während man auf das Bild schaut, ständig die Linse wechseln und einmal von nahe und dann wieder von weitem darauf gucken. Die hierbei entstehende Räumlichkeit entbehrt einer klaren Perspektive; sie ändert sich abrupt und disharmonisch. So entstehen scheinbare ‚Raumverschiebungen’ bis hin zur völligen Auflösung von Raum in die Fläche. Die Umgebung, in die De Kooning die Figur der sitzenden Frau nach einigen Versuchen, eine realistische ‚Sitz-Ordnung’ zu schaffen, zuletzt stellt, ist abstrakt. Es bleibt unklar, ob sie im Außen- oder Innenraum vorzustellen ist, wie Hess schreibt: „At first Woman was sitting indoors on a chair. Then a window-shape at the upper riht established a wall and distance – but she could have been outside a house as well as inside, or in an inside-outside porch space.”[6] Diese Idee des ‚No-Environment’ vergegenwärtige die Ort- und Ordnungslosigkeit des modernen Menschen angesichts der Vervielfältigung der Bilder. Denn unser Fassungsvermögen, so De Kooning, reagiere auf die Bilderflut, indem wir Differenzen nicht mehr wahrnehmen: „The Renaissance man saw and visualized, let us say, n things. Today, fed by still, cinema and television cameras, we experience n to the 100th power, and of course, the ns become similar because our brains become numb to their differences.“[7]

De Kooning begegnet der Herausforderung des Bildes, indem er sich in unterschiedlicher Weise davon distanziert, um sich in veränderter Perspektive wieder darauf beziehen zu können. Durch Fragmentieren und Defragmentieren des Bildganzen erreicht er den Eindruck einer simultanen Bewegtheit des fertigen Bildes. Die Figur der Frau, die so entsteht, lässt sich nicht ungestört beobachten. Sie erscheint übermächtig in ihren sexuellen Attributen und bannt durch einen starren Blick. Gleichwohl ist es keine bestimmte Frau, von der wir uns einfach abwenden können, weil wir ihre Grenzen wahrgenommen haben. So lässt sich das Bild als optisches Gegenüber nicht gänzlich er-fassen, es zerfällt im Moment der Vergewisserung und setzt sich auf überraschende Weise immer wieder neu zusammen. Das Gemälde Woman I ist seinerseits der Anfang einer Serie von sechs Bildern, in denen De Kooning das Thema jeweils noch einmal neu ausformuliert[8]. Es ist also, um in der Metaphorik von Hess zu bleiben, lediglich eine von vielen (möglichen) Reisen in das Reich des Bewussten und des Unterbewussten. Der Essay „Willem de Kooning paints a picture“ ist ein Versuch, dieser Bewegung zu folgen und ihre spezifische Form zu analysieren, ihren Verlauf zu beschreiben und einzelne Stationen der künstlerischen Entscheidung als Wegmarken festzuhalten. Dabei bleibt dessen Deutung dem Werden des Werkes verhaftet. Hess zieht Parallelen aber keinen Schluss. Wenn man seiner Einladung zur Reise folgt, macht man Erfahrungen mit dem Kunstwerk und den eigenen inneren Bildern.

Der Kunsthistoriker Brian O’Doherty beschreibt die Erfahrung mit der Malerei von De Kooning gut vierzig Jahre später als kaleidoskopische Wahrnehmung von Bildern, Räumen und verschiedenen Perioden. Er zeige uns Geschichte wie ein blinder Seher: räumlich simultan ohne klare Distinktionen, bisweilen ‚verwirrt’. Jedes Fragment ist gleichwohl Spiegel des Ganzen, in sich differenziert durch vielfältige Verweise auf die Malerei selbst. "If we further examine this de Kooning fragment (still from the mid-fifties), we find epigrams and puns in terms of painting itself, and quotations from the past. We find confusions about space and time experienced very lucidly. So the sight of de Kooning stuck in one corner is like watching a blind man. He can't – as far as we can see – tell one stroke from another, itself an exaggeration of not being able to tell one part from another, or one picture, or one period. For he sees history in terms of space, all of it simultaneous and contemporary. He paints on a canvas identified with the space of history.” De Koonings Sichtbarmachung der Prozessualität eines Kunstwerkes durch das Herausarbeiten seiner Fragmentarität stelle damit nicht zuletzt den Versuch dar, die Geschichte der europäischen Malerei zu verlebendigen. „So now we have some idea of what de Kooning is doing in that corner. He is engaged in the absurd task of painting European art over again. He is putting periods, movements, centuries into a fragment. This is an appallingly near-sighted view of history – the view of a person for whom all history has turned into space and for whom space keeps turning into time, and who doesn't know, or chooses not to know, the difference.”[9] So gesehen sind die Bilder von Willem De Kooning ihrerseits auch eine Einladung zu einer Zeitreise in die aufregende Geschichte der abendländischen Kunst.

Trauerarbeit

Diese Nahsicht auf Geschichte im Bewusstsein ihrer Wirkmächtigkeit ist auch kennzeichnend für die Animationsfilme des Künstlers William Kentridge. Die historische Wirklichkeit, die Kentridge prägte und an der sich seine künstlerischen Reflexionen entzündet haben, war die südafrikanische Apartheits-Gesellschaft, in der er als Kind weißer Bürgerrechtler behütet aber bereits im Bewusstsein eines fundamentalen Unrechtssystems aufwächst. „Etwa bis zu meinem achtunddreißigsten Lebensjahr war in Südafrika die National Party an der Macht. Die Apartheid war wie ein Naturzustand, ich kannte nichts anderes. Aber schon als Junge war mir bewusst, an einem sehr unnatürlichen Ort zu leben. Dazu trug sicher bei, dass meine Eltern beide Anwälte waren und sich – vor allem mein Vater – seit den späten fünfziger Jahren sehr in politischen Prozessen engagierten.“[10]

Ich konzentriere aus dem umfangreichen zeichnerischen[11] und filmischen[12] Werk von Kentridge auf die Serie der Soho-Eckstein-Filme, die seine Grundthematik, die ausübende Macht und ihre Auswirkung auf den Einzelnen und die Gesellschaft, in einer persönlich pointierten Weise zum Ausdruck bringen. Protagonist ist der Minen-Besitzer Soho Eckstein, ein Wirtschaftsmagnat und moderner Potentat der südafrikanischen Hauptstadt, und sein ‚Gegenspieler’, der eher nachdenkliche und passiv auftretende Felix Teitlebaum. Soho Eckstein, der sich in „Monument“ (1990) selbst zum Denkmal erhebt, wird immer wieder bedroht durch die Technik, die seine Macht begründet und am ‚Leben’ hält. Diese Logik der Verstrickung visualisiert Kentridge wörtlich, wenn wie in "Mine" (1991) Börsennachrichten zur Hydra werden, die ihn zu ersticken droht oder wie in „Stereoskope“ (1998/99) Kommunikationslinien aus dem Telefon und den Wandleitungen in sein Zimmer dringen. Felix ist dagegen derjenige, der die Opfer des Systems sieht, beobachtet, wie Morde begangen werden und auch bemerkt, wie sich währenddessen längst Protest gebildet und später organisiert hat. Während in den frühen Filmen, wie "Johannesburg: 2nd Greatest City after Paris" die Persönlichkeit von Soho Eckstein und Felix noch gegensätzlich aufgebaut wird, auch äußerlich, indem Eckstein im Anzug und Felix immer nackt gezeigt wird, nähern sich die Charaktere im Laufe der acht Filme immer mehr einander an. In beiden Figuren erkennt sich Kentridge selbst. „Im Laufe der Jahre wurde mir zunehmend klar, dass diese gegensätzlichen Figuren mir im Grunde beide sehr nahekamen. Und heute – selbst wenn ich Soho zeichne – verwende ich immer noch einen Spiegel oder Fotos. Und es stört mich nicht, dass er äußerlich kaum von Felix zu unterscheiden ist.“[13]

Im Animation World Magazin gibt es ein kurzes Video zum Download, das gleichsam in nuce die zwei widerstreitenden Persönlichkeiten schildert. Die Impulse von Auto- und Fremdaggression sind in „6 Soho Eckstein“ zu einem dramatischen Akt von Anklage und Klage kondensiert. Es zeigt den Entrepreneur am gedeckten Tisch, wie er sich gleichsam erbricht, um dann alles in sich Hineingeschaufelte von sich zu werfen, wo es sein wehrloses Alter Ego, beschützt von einer hinter ihm stehenden Schattenfigur oder Engel, auf freiem Feld trifft und gleichsam öffentlich richtet und zugleich rechtfertigt.

Den Sog und die Fragilität der Animationsfilme von William Kentridge beschreibt Katrin Bettina Müller eindrücklich: „Der Kohlestift und der Radierer sind die wichtigsten Instrumente von William Kentridge, geboren 1955, Zeichner und Regisseur aus Johannesburg. Zeichnen und auslöschen, Konturen ziehen und verwischen, Schwärze anhäufen und Helligkeiten hineinreißen: Ein ständiger Prozess der Veränderung findet auf seinen Blättern statt, aufgezeichnet von der Kamera. Einige Momente bleiben als Zeichnungen erhalten, die meisten aber sind am Ende des Herstellungsprozesses seiner Filme von 4 oder 8 Minuten Länge wieder verschwunden.“[14] Kentridge nutzt den Film, um dem Verlauf seines Zeichenstiftes sychnron zu folgen und so dessen Bewegung selbst ‚aufzuzeichnen’. In einem Interview in 3sat für das Kinomagazin erläutert Kentridge die Technik seiner Zeichentrickfilme: Sie „ist extrem einfach. Man braucht nur ein Blatt Papier und die Kamera. [...] Für die Bewegung einer Hand zum Beispiel gibt es nur eine einzige Zeichnung, in der die Hand gezeichnet und gefilmt, wieder ausradiert und in der nächsten Position neu gezeichnet und wieder gefilmt wird. So dass jedes Blatt Papier auch die Geschichte der Bewegungen dieser Sequenz enthält.“[15] Wie beim automatischen Schreiben im Sinne einer unmittelbaren Aufzeichnung von fortwährend fließenden inneren Bildern kommt es dabei zu Verfremdungen, Überformungen und der unerwarteten Kombination von Dingen und Zuständen, so dass eine gerade noch wirklichkeitsgetreu geschilderte Szene plötzlich in den Traumzustand gleitet und umgekehrt. Der Betrachter wird Zeuge von verblüffenden und gleichwohl unmittelbar überzeugenden Gestaltassoziationen: „Ein Mann blickt beim Rasieren in den Spiegel und sein Gesicht rutscht ihm weg. Eine Katze verwandelt sich in ein Telefon, ein Kopf in einen Felsblock, ein Hirn in eine Höhle. Ein Mann weint und seine Tränen überfluten ein Haus und schwemmen die ganze Landschaft fort. In Röntgenbildern bewegen sich unklare Schemen und aus der Dunkelheit im Inneren des Körpers schält sich das Bild einer Straße heraus, auf der ein Unfall passierte und Tote fortgetragen werden. Halden wachsen aus der Landschaft, Leichen sickern in ihren Grund, Krater brechen plötzlich auf.“[16] So entsteht eine Art Strom, in dem innere Vorstellungswelt und äußere Umwelt ineinander dringen und auseinander hervorgehen. Die zerstörerische Unaufhaltsamkeit dieser Verwandlungen und Bewegungen scheint wie eine nicht zu unterdrückende Erinnerung, die das Erinnerte als Gesehenes und Gefühltes wie einen ‚Film’ ablaufen lässt. Der zeichnerische Stil ist dabei eher aggressiv und plakativ. Seine Wurzeln sind nicht im Surrealismus sondern im deutschen Expressionismus und der Plakatkunst der 20er Jahre zu suchen. Die Intensität der Bilder und die tatsächliche Erschütterung, die sie auszulösen vermögen, wird wesentlich miterzeugt durch Musik. Wie sorgfältig Bild und Ton choreographiert sind, beweist eine Hörprobe[17], die das Mönchehaus Museum in Goslar als Illustration zu einem Ausschnitt aus dem Film „Mine“ ins Netz gestellt hat. Sie verbindet sich nicht mit den Bildern, wenn sie auch einen Eindruck von der musikalischen ‚Stimmung’ der Kentridge-Filme vermittelt.

William Kentridge selbst findet für die Technik seiner Animationsfilme den Begriff des „Drawing for Projection“. Er zeichnet, um die Verbindungen zwischen inneren und äußeren Bildern sichtbar zu machen, und er filmt sein Zeichnen, um den Vorgang des Verknüpfens sichtbar zu machen. Mit dem akustischen Kommentar macht er sich noch einmal zum Beobachter dieses Prozesses. So schafft er eine Kunst der Erinnerung, in der emotionale, assoziative und reflexive Momente unlösbar und dennoch unterscheidbar miteinander kommunizieren oder stärker ausgedrückt: miteinander um Wahrhaftigkeit ringen.  In der Perspektive der Erinnerung stellt sich auch die Frage nach persönlicher und kollektiver Schuld. Kentridge sagt dazu im Interview: „Der Prozess, den ich herausarbeiten möchte [...], sind die Momente – und hier geht es nicht nur um politische Schuld, sondern auch um die persönliche Verantwortung für Handlungen, die man begangen oder unterlassen hat –, in denen man gleichsam wie auf einer Oberfläche durch die Welt geht. Und manchmal bekommt die Oberfläche Risse, in die wir hineinfallen, oder es ragen Spitzen heraus, die uns aufrütteln und an etwas erinnern.“[18] In seinen Filmen kann man erfahren, was es heißt, Erinnertes wahrzunehmen und dafür verantwortlich zu sein, bevor man Urteile über Schuld und Unschuld, über Recht und Unrecht fällt.

Halluzinationen

Die Erfahrung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen charakterisiert nicht nur unsere Erinnerung, sondern Wirklichkeit überhaupt. Diese Erfahrung, die wir eher vermeiden wollen, weil sie unsere Grenzen gefährdet, fordert der Medienkünstler Paul Chan heraus, indem er Dinge konfrontiert, die unsere Rationalisierungen, unsere Vorstellung von Schönheit oder unsere kulturelle Identität in Frage stellen. Paul Chan wurde 1973 in Hong Kong geboren, emigrierte bereits als Kind mit seinen Eltern nach Omaha im US-Staat Nebraska und lebt heute nach seiner Ausbildung am Art Institute of Chicago für Video- und Computerkunst in New York.

Bekannt geworden ist Chan durch seine Website Nationalphilistine, eine Art persönliches Tagebuch seiner Begegnungen im und mit dem Irak, den er 2003 während des Krieges zusammen mit Aktivisten von „Voice of Wilderness“ bereist hatte. Chans Internetseiten versammeln eine Fülle von Zeugnissen der abendländischen Bild- und Schriftkultur, der globalen Popkultur und dem irakischen Alltag. Unter „Free audiobooks“ hat Chan sein „personal Alexandria“ geschaffen, fünfzehn Stunden Audio-Essays, Hörproben von Texten zu Philosophie, Kunst und Politik nach persönlichen Kriterien zusammengestellt, wie z.B. „The aesthetic of silence“ von Susan Sontag[19] unter der Rubrik “texts haunted by God“. Unter der Überschrift „Free lite rock" hat Chan Collagen aus Interviews, Musik und Dokumentargeräuschen zum Thema „Politrock“ zusammengestellt. “People are rather drived by pleasure than by competition“, so Chan. Diese, die emotionale Verbindung, sei der einzig verbürgte Zusammenhang oder besser Übergang zwischen Kunst und Politik. Nationalphilistine schafft es, der Gegenwartskultur ein persönliches Gesicht zu geben, ohne ihre verschiedenen Wurzeln zu nivellieren.

Ein ironischer Kommentar zum zweifelhaften Wesen des Glücks, das die amerikanische Gesellschaft sich selbst und der Welt versprochen hat, ist das Breitwand-Video Happiness (finally) after 35,000 Years of Civilization.[20} Zu sehen ist auf den ersten Blick ein modernes Arkadien im Stil amerikanischer Zeichentrickserien: Eine Orchideen-Wiese, zwitschernde Vögel vor blauem Himmel, Mädchen mit Blumen in der Hand, zur Musik von Bach im Reigen tanzend wie Figuren von Matisse. Die Idylle ‚kippt’ jedoch: Die Mädchen koten ins Gras, es kommt zu einer Orgie, Priester, „seltsame Akademiker“ und Soldaten erscheinen, Häuser geraten in Brand. Klassiker der Kunst des 20. Jahrhunderts laufen derweil als Videospiel, es kommt zum Kampf, bis „posthistorische Glückswesen über geblümte Wiesen“ hüpfen. Die ganze Szenerie entpuppt sich, so Niklas Maak, als „der ins Kindliche verschobene Fiebertraum der Zivilisation“.[21]

Die jüngste Arbeit von Chan ist die Serie „Seven lights“ (2005), digitale Videoanimationen von je 14 Minuten Dauer. Zu sehen ist jeweils ein farbig leuchtendes Rechteck, das großformatig so auf den Boden projiziert ist, dass es perspektivisch verzerrt erscheint, wie wenn ein starker Lichtschatten durch ein Fenster fällt. In „1st Light“ erscheint in diesem Farbfeld der Schatten eines Telegrafenmastes. Während er stabil bleibt, tauchen nach und nach die Schattenrisse verschiedener Dinge auf und entfernen sich scheinbar ohne jede Schwerkraft schwebend nach oben: ein Telefon, Laptops, ein iPod, Fahrräder, Reifen, ein LKW, Autos, ein Zug – zuletzt Menschen. „2nd light“ zeigt lediglich das reine Lichtfeld, dessen Farbe sich ändert und so den Eindruck wechselnder Stimmungen oder Tageszeiten entstehen lässt. In der dritten Animation „3rd Light“ erscheint zusätzlich eine dreidimensionale Kopie des Tisches aus Leonardo da Vincis Bild „Das letzte Abendmahl“ integriert und als erstes fällt ein Apfel vom ‚Himmel’.

Bei der Betrachtung der Filme, in die man angesichts der Größe der Projektionen wie regelrecht hineinversetzt wird, ist es nicht nur, als habe die Anziehungskraft der Erde ausgesetzt, sondern vielmehr die Zeit selbst. Die eigenartige Suggestion, die die Installationen entfalten, verdankt sich nicht zuletzt der doppelten Lesbarkeit des farbigen Feldes: als Licht und als Schatten. So entsteht das Gefühl einer halluzigenen Bodenlosigkeit, die offen lässt, ob wir gerade alles kommen oder es entschwinden sehen. „Chans formal streng komponiertes Spiel der aufsteigenden Linien, Formen und Tempi spielt mit diesen Bildern und entfaltet eine hypnotische Wirkung, bis aus der anderen Richtung, von oben, die Silhouetten von Menschen durchs Bild fallen. Man denkt, einerseits, an die schwebenden Astronauten von 1969, andererseits an die Menschen, die aus dem brennenden World Trade Center stürzten. Ein ikonisches amerikanisches Hoffnungs- und ein Schreckbild fallen in eins, wie überhaupt alles, was man in Chans Arbeit sieht, beides sein kann: utopischer Beginn oder apokalyptisches Ende.“[22]

„Seven Lights“ ist eine digitale Form der Schattenmalerei, bei der Schatten so eingesetzt werden, dass Figuren und Dinge dreidimensional erscheinen. Während die griechische Skiagraphie im 5. Jahrhundert v. Chr. damit die Grundlage der Malerei legte, findet Chan in ihr eine Möglichkeit der Reduktion, die gleichsam die gesamte Geschichte der Bilder wie in einem (bösen) schönen Traum enthält und zugleich negiert. Naheliegend ist auch der Gedanke an das Höhlengleichnis des Philosophen Platon. Anders als in dem Gleichnis ist die projizierte Welt aber aus den Fugen geraten. Es genügt nicht, das Dunkel der Höhle zu verlassen, um ihre wahre Beschaffenheit wahrzunehmen. Vielmehr stellt sich die Frage, was Bedeutung selbst ist. Für das Verschwinden von Bedeutung hat Chan ein Bild gefunden. Dessen Schönheit, „hat den einzigen Zweck, uns etwas anschauen zu lassen, das wir sonst nicht wagen würden.“ (Paul Chan)[23]

Anmerkungen
  1. Thomas B. Hess: Willem de Kooning paints a picture. In: Art News, März 1953, S. 30-32 und 64-67.
  2. Der Aufsatz wurde der erste einer Serie von weiteren Texten in Art News, die den Entstehungsprozess eines Kunstwerkes durch die Dokumentation seiner verschiedenen Stadien thematisieren.
  3. Vgl. Anm. 1, S. 30.
  4. Ebd.
  5. Ebd.
  6. Vgl. Anm.1, S. 66.
  7. Ebd.
  8. Folgende Bilder der Woman-Serie kann man sich im Internet ansehen: Woman II, Woman V und Woman VI .
  9. Brian O’Doherty, American Masters: The Voice and the Myth, 1998, S. 245.
  10. „William Kentridge – Drawing the Passing/Zeichnen für den Augenblick", Interview von Maria Anna Tappeiner und Reinhard Wulf, Auszug aus dem Kinomagazin, 3sat., 28.2.2004. http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/ard/kinomagazin/64245/index.html
  11. Einen Eindruck der Vielfalt allein seines zeichnerischen Oeuvres bekommt man auf den Seiten der Marian Goodman Gallery New York und der Greg Kucera Gallery Seattle.
  12. Die verschiedenen ‚Formate’ seiner Arbeit setzt er vor allem bei der Zusammenarbeit mit der Theatergruppe Handspring Puppet Company ein.
  13. Vgl. Anm. 10.
  14. Katrin Bettina Müller: Das unbeständige Gedächtnis, http://www.culturebase.net/artist.php?1006
  15. „William Kentridge - Drawing the Passing/Zeichnen für den Augenblick", Interview von Maria Anna Tappeiner und Reinhard Wulf, Auszug aus dem Kinomagazin, 3sat., 28.2.2004
  16. Vgl. Anm. 10.
  17. http://www.moenchehaus.de/traeger/kentridg/kentridg.html
  18. Vgl. Anm. 10.
  19. The aesthetic of silence by Susan Sontag
  20. Eine Abbildung des Videos "Happiness (Finally) After 35,000 Years of Civilization (After Henry Darger and Charles Fourier)", 2000-2003 zeigen die Internetseiten der Stockholmer Galerie Magasin 3, http://www.magasin3.com/exhibitions/chan.html. “The story is a dramatization of how we could achieve a better world, based on the ideas of the utopian socialist thinker Charles Fourier (1772-1837), which Chan has illustrated with an imagery inspired by the eccentric Henry Darger (1892-1973) . Paul Chan says that he has animated this in a way he believes Darger would have worked if he had been alive today and had access to the internet and knowledge about contemporary art and photography.” (Ebd.)
  21. Niklas Maak: Der Fiebertraum der Moderne, in: FAZ, 22.10.2006, S. 31
  22. Ebd.
  23. Zitiert nach N. Maak, A.a.O.

© Karin Wendt 2007
Magazin für Theologie und Ästhetik 45/2007
https://www.theomag.de/45/kw52.htm