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Magazin für Theologie und Ästhetik


Sonnenaufgang und Versöhnung

HJBenedict

Er war mit seiner neuen Partnerin und deren Freunden am Themse-Ufer unterwegs. Pfingstsamstag. Gerade hatte man sich noch an einem originellen Straßentheater erfreut. Ein großer blauer  Abfallsack am Fußweg. Auf einer Bank ein Musikant. Die schlendernden arglosen Passanten. Plötzlich springt der Sack hoch, auf die Nächststehenden zu. Ein junger Mann steckt drin. Das Erschrecken der Passanten, die Erleichterung, als es sich als inszenierter Scherz herausstellt, die diebische Freude, den Schrecken der nächsten Opfer beobachten zu können.

Dann war man in die Royal Festival Hall gegangen, um  einen Capuccino zu trinken. Hatte einer Reggae-Gruppe aus Ghana gelauscht. Schlenderte durchs Foyer hinaus, da bleibt der Blick an einem Fernsehschirm haften, der neben einem Stand mit DVDs aufgebaut war. Ein offensichtlich alter Schwarz-Weiß-Film wird gezeigt. Ein Stummfilm. Ein großer junger  Mann und eine zierliche Frau in einem Boot. Der Mann rudert, die Frau sitzt im Heck. In einem Sommerkleid mit Hut. Da steht der Mann  auf, geht mit entschlossenem Blick auf die zierliche Frau zu. Im Aufstehen wird er immer größer. Er steigt über die mittlere Bank. Gefährlich, bedrohlich sieht er aus. Was hat er vor? Mit weit aufgerissenen Augen schaut sie ihn an, weicht zurück, Entsetzen im Blick. Ja, er will sie aus dem Boot stoßen, das wird jetzt klar. Nein,  verschone mich, sagen ihre angstvoll aufgerissenen Augen. Weit hängt ihr kleiner Körper über den Bootsrand. Doch dann richtet sie sich ein wenig wieder auf, faltet die Hände und hebt sie   flehend zu ihm empor. Nun wieder  der Mann in Großaufnahme, seine zum Stoß bereiten Hände, da schlägt er die Hände, die Jacke vors Gesicht. Drei Glockenschläge ertönen. Was er sich vorgenommen hat, er kann es nicht tun. Er geht langsam zurück, setzt sich und fängt wie besessen an zu rudern. Die Frau schlägt die Hände vors Gesicht, zittert, weint. Das Boot legt an. Wie von Furien gepeitscht rennt die Frau davon. Hab keine Angst ruft er. Sie läuft durch den Park, plötzlich kommt eine Straßenbahn, in die sie einsteigt, die er hinterherlaufend gerade noch erreicht Die Szene wird belebter, sie  fahren in die Stadt. Verkrümmt, den Kopf gesenkt steht sie da .Sie steigt aus, rennt mitten in den Straßenverkehr. Er reißt sie vor einem Auto zurück

Wollen wir weiter gehen, fragt die Freundin, die auch gebannt zugeschaut hat. Noch einen Augenblick, sagt er. Weißt du, welcher Film das ist. Nein, ich kenne ihn nicht. Das Paar geht in ein Cafe. Sie setzen sich.. Er schaut sie nur an flehend, bittend, bettelnd. Sie bleibt in sich versunken, in ihrer Angst, ihrem Entsetzen. Er schiebt einen Kuchenteller hin. Sie nimmt ein stück, fängt an zu weinen. Hab keine Angst, sagt er noch einmal. Sie stehen auf, gehen in die belebte Stadt. Er kauft ihr einen Blumenstrauß. Wieder weint sie .In einem Flur schaut sie ihn zum ersten mal ein wenig an. Sie treten wieder auf die Straße. Glocken ertönen von fern. Eine nahe Kirche, vor der eine Hochzeitskutsche steht. In diesem Augenblick schreitet die Braut die Stufen empor. Auch der Mann und die Frau gehen hinein. Drinnen die Hochzeitsgesellschaft, das Brautpaar im Altarraum, ein dürrer Pastor im Talar. Wie gebannt schaut der Mann auf die Trauzeremonie Der Pfarrer wendet sich an den Bräutigam. Deine Frau ist jung und unerfahren, sagt er. Sei gut zu ihr und beschütze sie. Wieder das Gesicht des Mannes. Er beginnt zu weinen. Der Pastor fragt: willst du sie beschützen in guten wie in bösen Tagen, Ja, sagt der Mann aufseufzend anstelle, nein mit dem Bräutigam . Er weint und kniet vor der Frau, sagt: verzeih mir. Und endlich hellt sich ihr Gesicht auf und sie nimmt ihn in die Arme. Sie schauen sich an, stehen auf, gehen hinaus.

Aber du weinst ja, sagt die Freundin. Was ist los mit dir? Ist doch nur ein Film. Ja, er weint. Lass mich noch einen Augenblick zuschauen, noch 2 Minuten

Sie gehen umschlungen hinaus, schreiten wie neu Vermählte die Treppe hinunter, gehen wie traumverloren durch die belebte Stadt, haben keinen Blick für das, was um sie herum geschieht. Gehen mitten auf die Straße mit den vielen Autos , die rechts und links immer gefährlicher an ihnen vorbeibrausen. Gehen  über die Straße, wie Schlafwandler, auf nichts achtend, und da wandelt sich die Szene, eine Überblendung – sie gehen hinein in eine frühlingshafte Birken-Landschaft. Nur sich haben sie. So bleiben sie stehen. Umarmen sich, schauen sich an. Küssen sich. Dann tauchen die Geräusche der Stadt und mit ihr die Straße wieder auf. Der Verkehr um sie herum ist zum Erliegen gekommen. Ein Tohuwabohu von Autos, Straßenbahnen, Bussen, Radfahrern. Alles kommt vor dem Paar zum Stehen. Die brodelnde Stadt hält inne, muss innehalten vor der Versöhnung der Liebenden. Seliger wunderbarer Augenblick. Alle fangen an zu schimpfen und schreien. Weg da , macht Platz. Da wachen sie auf, lachen, gehen schnell auf die andere Straßenseite. Der hektische Rhythmus der Stadt beginnt von neuem.

Nun komm doch , ruft die Freundin. Er fragt schnell, wie der Film heißt. Sunrise ist die Antwort. Von Murnau. 1927.Habe damals den Oscar bekommen. Wie benommen geht er ins Freie, sieht die Menschen am Themse-Ufer. Seine Freundin hängt sich in ihn ein. Nun, komm sei wieder lustig. Dann sprechen sie mit den Bekannten über den Film. Über die Intensität der Gesichter, der Blicke, die Seelenlandschaften. Über die großartige Idee, die Versöhnung so zu inszenieren.

Ein Paar, ein versuchter Mord und doch kommt es zur Versöhnung. Ich muss mir den ganzen Film besorgen, denkt er. Sie erreichen die Millenium-Brücke und genießen den Blick auf St.Pauls Cathedral…

Abends kann er nicht einschlafen.Die Utopie jenes Augenblicks in der Kirche geht ihm nach. Das erneuerte Versprechen. Das Hineinsprechen in das Ritual der anderen. Die neue Bindung. Der Stillstand der lärmigen Stadt. Warum habe ich das nicht hinbekommen? Warum die neue Frau, statt der erneuen Bindung? Woran liegt es? Weil die Welt zusammenbricht, wenn du in der Liebe verraten wirst. Oder ist das nur eine Ausrede, weil wir die Formen nicht mehr ernstnehmen. Und die Welt kann sich doch erneuern, wenn du dich versöhnst. Warum ist es nur in der Kunst möglich? In jener Nacht, als er erfuhr, dass seine Frau ihn verraten hatte, in jener kalten Sylvesternacht, als er erfahren musste, dass sie ihn seit einem Jahr mit einem gemeinsamen Freund betrogen hatte. Er hatte geschrien, geweint, der Boden brach unter den Füßen weg, alles wankte, damals  war er auf sie losgegangen. Nicht ernsthaft, aber er hatte es getan. Sicher, sie war zu ihm zurückgekehrt, auch der Kinder wegen. Aber es war nie mehr so gewesen wie zuvor. Es gab so etwas wie Versöhnung. War aber mehr ein Weitermachen. Denn es war etwas kaputtgegangen, das nicht zu flicken war. Dann sah er sich, wie er viele Jahre später seine Frau verlassen hatte. Er hatte sich verliebt. Ganz überraschend, verheißungsvoll, ein neuer Frühling. Alles neu macht der Mai. Auch hier Tränen und Verzweiflung trotz aller Einsicht. Wie seine Frau verzweifelt auf ihn eingeschlagen hatte, nachdem sie vorher gesagt hatte: Geh doch, geh doch, es ist besser so. Er hatte ihre Mordabsichten gespürt. Es wäre besser, du wärest gestorben, hatte sie ihm entgegengeschleudert. Worte wie im antiken Drama. Flüche. Verwünschungen. Ängste.

Welch ein Film, welch eine wunderbare Versöhnung. Mit welch einfachen Mitteln in Szene gesetzt!

Muss man in die Kirche gehen um sich zu versöhnen? Muss man die alten Worte hören? Wo sind die Kirchenglocken, die des Gewissens und die des Rituals? Muss man zu der alten Form des Gebets greifen: Herr, wir sind elend, wir wissen nicht weiter, warum ist es so gekommen, hilf uns doch in unsrer Hilflosigkeit. Wir haben uns entfremdet. Die Liebe ist verschwunden. Wir leben nebeneinander her. Keiner kann dem andern verzeihen. Alles regt uns auf am andern. Wir wissen nicht, ob du uns helfen kannst. Aber wir rufen zu dir, aus der Tiefe unseres Unglücks rufen wir zu dir. Manchmal beim Therapeuten waren sie sich nahe gewesen. Auf einmal war etwas aufgebrochen. Da hätte vielleicht ein Pfarrer sie neu kopulieren müssen.Und sie wären hinausgetreten wie neu vermählt in die hektische Stadt. Und die Welt wäre neu gewesen. Aber die Welt blieb nicht stehen wie im Film. Der Autoverkehr stoppte nicht vor ihrem Glück. Der Verkehr rauschte weiter. Der Augenblick des Einverständnisses verflog.Sie stiegen  ins Auto, fuhren jeder an seinen Arbeitsplatz.

Du schläfst ja nicht, du seufzt ja. Denkst du immer noch an den Film? Ich kann mir denken, warum du geweint hast. Die verpasste Aussöhnung. Der Schmerz um das Nichtgeglückte.Und dann der Vorschein von Versöhnung im Kunstwerk, wie du immer sagst. In die Oper gegangen, geweint. Ach, mein Lieber, weine nur, aber weine nicht zu sehr, das ist nur ein Film. Du hast doch mich, kein Zelluloid. Aus Fleisch und Blut. Und dann nahm sie ihn in den Arm und kuschelte sich fest an ihn.

Am nächsten Tag waren sie zurückgeflogen. Zu Hause hatte er im Filmlexikon nachgeschaut. Sunrise von Murnau nach einem Roman von Hermann Sudermann. Da erfuhr er die Vorgeschichte.

Die Verführerin, der Vamp aus der Stadt, macht Urlaub im Dorf, verliebt sich in den jungen Fischer, überredet ihn zum Mord an der Ehefrau, er solle hinausfahren, einen Sack mit Schilfbinsen nehmen, das Boot zum Kentern bringen, sich selbst mit dem Binsensack retten, es als Unglück ausgeben. Nach der Versöhnung  des Paares kommt beim Zurückrudern wirklich ein Sturm auf, das Boot kentert, die Frau gilt als tot, ertrunken, bis sie wunderbarerweise noch lebend am Ufer antreibt. Die Verführerin ist geschlagen. Happy ending. Er musste daran denken,dass er im Film nicht gesehen hatte, wie der Fischer den Sack im Boot verstaute. Erst mit der Szene danach war sein Blick beim Hinausgehen auf den Bildschirm gefallen. Aber auf dem Weg in die Festival Hall, da war der Sack gewesen.

Von nun an ließ ihn die Frage nicht mehr los. Bin ich auch verführt worden. Hätte ich nein sagen sollen? War die Trennung trotz Entfremdung nicht wie Mord?.

Eine Hölderlin-Zeile fiel ihm immer wieder ein. Schon einmal hatte sie in seinem Leben eine Rolle gespielt „Trennen wollten wir uns. Wähnten es klug, warum schreckte wie Mord uns die Tat?“

Immer wieder zurückgeschreckt vor diesem Schritt. Wie die Passanten vor dem blauen Müllsack. Ja, die Leiche im Sack. Am Schluss der Verdi-Oper. Der falsche Leichnam Der Aufschrei des Vaters. Il Maledizione. Der Sack, an dem sich der Fischer retten soll. Ach, was für ein Wirrwarr. Es war ein Traum gewesen, aus dem er erwachte. Erwachte mit Schmerzen im Unterleib, die unerträglich wurden. Als er es nicht mehr aushielt, ging er zum Arzt. Eine Darmverschlingung. Im Krankenhaus musste er schnell operiert werden. Als er in den OP geschoben wurde, tauchte tief aus der Erinnerung eine Situation aus der frühen Kindheit auf. Jedenfalls war ihm so erzählt worden. Mit rätselhaften Magenbeschwerden wurde er als dreijähriger ins Krankenhaus eingeliefert. Die Mutter hatte gerade den jüngeren Bruder zur Welt gebracht. Herbst 1943. Ihr Gesicht tauchte auf, als die Narkose zu wirken begann Ihr sanftes Gesicht, nicht das ernste der schweren Nachkriegsjahre. Mama dableiben, habe er immer wieder gerufen. Mit dem kleinen Bruder auf dem Arm stand sie in einem weißen Kleid in der Tür. Dann war sie noch mal zurückgekommen und sagte beruhigend. Hab keine Angst, ich komme nachher wieder. Und gab ihm ein Säckchen mit Spielzeug, das sie fast vergessen hätte.

Als er erwachte, fiel sein Blick als erstes auf einen Blumenstrauß. Er sah dem Strauß in dem Film ähnlich. Seine Freundin saß da und sagte: Ich verzeihe dir. Ich verzeihe dir, dass du der verpassten Versöhnung nachtrauerst und das neue Glück nicht genießen kannst. Es ist alles gut gegangen, sagt der Arzt. Du hast Glück gehabt. Der erste Weg, wenn du wieder fit bist, weißt du, wohin er führt. Ins Kino. Nein, in die Kirche. Die hübsche Dorfkirche. Keine Angst, wir schauen uns nur eine Hochzeit an. Dass du dich dran gewöhnst.


© Hans-Jürgen Benedict 2007
Magazin für Theologie und Ästhetik 45/2007
https://www.theomag.de/45/hjb01.htm