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Magazin für Theologie und Ästhetik


Stein gewordene Geschichte

Eine Rezension

Andreas Mertin

Begegnungen

Als ich vor gut einem halben Jahr den Wiener Stephansdom zum ersten Mal betrat, war ich - ehrlich gesagt – ein wenig enttäuscht. Ich hatte nach allem, was andere mir von dieser Kirche erzählt hatten, etwas erwartet, das ich in die Folge meiner Besuche bedeutender Kirchen Europas hätte einordnen können: also in die Reihe von Kirchen wie dem Kölner Münster, dem Straßburger Münster, den Kirchen Roms oder den großen französischen Kathedralen. Davon verspürte ich wenig bei meinem ersten Besuch in Wien und es ist mir erst heute klar, warum.

Gegenüber meinen seinerzeitigen Gastgebern äußerte ich meine Enttäuschung über die Kirche - sehr zu ihrem Entsetzen und letztlich zu meinem Glück, denn bei meinem zweiten Besuch kam ich so in den Genuss einer profunden Domführung durch den Domarchivar Reinhard H. Gruber, die meine Gastgeber vermittelten, um meiner Abwehr gegenüber dem Dom abzuhelfen. Und tatsächlich wurden mir mit seiner Hilfe meine spontanen Reaktionen nicht nur erklärlich, sondern ich begann zugleich, mich mit diesem besonderen Gebäude anzufreunden. Denn tatsächlich war meine erste Reaktion nicht ganz unverständlich, versucht sich doch - wie mir Reinhard H. Gruber deutlich machte - der Stephansdom nach außen hin größer zu geben, als er tatsächlich ist. Meine Erwartung war durch das Äußere dahingehend stimuliert worden, ein fünfschiffiges Kirchengebäude zu betreten, aber de facto eröffnet sich einem nach dem Eingang ein dreischiffiger Kirchenbau.

Überhaupt nicht gefasst war ich auf die Gitterabsperrung gleich zu Anfang der Kirche, die eine Dreiteilung des Kirchenraumes in einen subjektiv-religiösen, einen touristischen und einen offiziell religiösen Raum bewirkte (vgl. meine Überlegungen „Raum und religiöses Gefühl“. Und ebenso überrascht war ich, dass der Chor eine deutlich niedrigere Decke besaß als das Kirchenschiff. All das wurde nun durch Erläuterung plausibel. Und ich erfuhr zugleich noch viel mehr über diesen Kirchenbau, seine verborgenen und offenbaren Räume und Schätze.

Nun liegt vor mir auf meinem Schreibtisch Reinhard H. Grubers großformatige Einführung in den Stephansdom, die mit Fotos von Robert Bouchal ausgestattet ist. Man hat bestimmte Erwartungen an derartige Prachtbände, aber dieses Buch enttäuscht sie aufs Angenehmste. Keine Lobhudelei der Kirche, kein Schwelgen in Superlativen, keine steile Dogmatik à la "Die Predigt der Steine".

Statt dessen eine detaillierte, kenntnisreiche und vor allem sprachlich absolut überzeugende und gewinnende Einführung in ein Bauwerk, das immer zugleich die religiöse wie die politische Geschichte Österreichs begleitet und dokumentiert hat. Gleichzeitig ist es - das hat mich bei der ersten Lektüre ebenso erstaunt wie fasziniert - ein "work in progress", denn die Erforschung des Stephansdoms ist keinesfalls abgeschlossen, sondern befindet sich in fortschreitender Entwicklung.

"Wahrzeichen Österreichs und Haus Gottes" heißt das erste Kapitel des Buches, das einen mit dem Hinweis überrascht, dass der Eigentümer des Stephansdomes der Stephansdom als eigene Rechtspersönlichkeit und eigener Wirtschaftskörper ist. Er hat eine komplexe Vorgeschichte, die bis ins 4. Jahrhundert reicht. Er ist zugleich ein Moment der zentralen Identitätsbildung Wiens und Österreichs – das ist nicht nur im Buch in der Lektüre, sondern auch vor Ort geradezu physisch spürbar. Das zweite Kapitel „Wien ist anders – St. Stephan erst recht“ spürt den von mir eingangs geschilderten Irritationen nach. Dazu gehört die Westfassade mit ihren faszinierenden romanischen Bauteilen (dem so genannten Riesentor, den Heidentürmen und der Westempore). Die Bartholomäuskapelle als Gebetsraum des Herzogs ist für normale Besucher leider nicht zugänglich, aber sie ist in all ihrer Schlichtheit ein Juwel, die zumal dann, wenn sie künftig auch noch mit den originalen Glasfenstern ausgestattet wird, „den Originalzustand des 14. Jahrhunderts zeigt“.

Die weiteren Kapitel widmen sich den Türmen, den Glocken, dem Dach (ein „sazarenischer Teppich“), geben Einblick in den Dachboden. Vor allem erläutern sie en Detail das Riesentor und die Domportale.

Das achte Kapitel ist dann unter dem Titel „Das ‚österreichische Wohnzimmer’“ dem Innenraum von St. Stephan gewidmet. „Der Innenraum der Stephanskirche folgt nicht dem klassischen Schema einer gotischen Kathedrale, sondern ist durch die dreischiffige Halle als Stadt- bzw. Pfarrkirche ausgewiesen. Das Bauwerk ist dadurch eindeutig auf den Chorraum hin orientiert. Jedes der Schiffe ist, was sich besonders anhand der Säulenheiligen gut dokumentieren lässt, ikonographisch auf ein bestimmtes Thema bezogen: das Mittelschiff durch den Altar auf Jesus Christus, aber auch auf den hl. Stephanus und alle Heiligen, das südliche Seitenschiff auf die Apostel und das nördliche auf die Gottesmutter. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass das Mittelschiff einen leichten Knick nach Norden aufweist. Es ist nicht eindeutig geklärt, ob sich dieses Phänomen durch die während des Baus neu berechnete Ordnung erklärt oder eine ikonographische Überlegung dahinter steht: das geneigte Haupt des Erlösers am Kreuz. Nach dieser Interpretation ergäbe sich für den Dom folgendes ikonographisches Programm: Der Hauptchor stellt Jesus Christus dar, das Mittelschiff den mystischen Leib des Erlösers, das Frauenschiff Maria und das Apostelschiff den Evangelisten Johannes unter dem Kreuz.“ Ich zitiere diesen Abschnitt deshalb so ausführlich, weil er nicht nur zeigt, dass die Deutung des Stephansdomes ein work in progress ist, sondern auch weil er auf überzeugende Weise Architektur und Ikonographie verknüpft – eine Überlegung, die mir persönlich sehr einleuchtet. Mehrere zeitgenössische Künstler, mit denen ich als Ausstellungskurator gearbeitet habe, haben in ähnlicher Weise Kirchenarchitektur und Ikonographie intuitiv und auch bewusst verknüpft. Offenkundig gibt es eine fortdauernd sich mitteilende Verbindung von religiöser Gestaltung in der Architektur und der künstlerischen Ausdrucksform in der bildenden Kunst.

Es folgen noch drei ebenso spannende Kapitel über Gnadenbilder, Glasfenster und den Dom als Begräbnisstätte. Ich breche hier in der Darstellung ab, denn jeder kann sich ja das Buch zulegen und nach eigenen Interessen oder eben auch Irritationen lesen. Nicht nur für Wien-Besucher ist das Buch jedenfalls eine überaus lesenswerte Einführung in den Kosmos einer bedeutenden Kirche.

P.S.: Ein Wort noch zu den Fotos. Sie begleiten den Text nicht nur kongenial, sondern gehen weit über übliche fotografische Dokumentationen hinaus. Sie erwecken die Stein gewordene Geschichte zum Leben.


© Andreas Mertin 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 44/2006
https://www.theomag.de/44/am204.htm

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