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Magazin für Theologie und Ästhetik


Katastrophenfaszination

Michael Girke im Gespräch mit Klaus Theweleit


Was man sieht: 2004 und 05 waren noch einmal und noch einmal gesteigert dominiert von Bildern von Folter, Krieg, Untergang, Naturkatastrophen. Aber diese Bilder zeigen nicht einfach Ereignisse, sie sind häufig genug Ausdruck von Faszination. Was kommt in der Katastrophenfaszination zur Sprache, wie zeigt sie sich in Praktiken von Intellektuellen, Künstlern, Journalisten - und wie zeigt sie sich in der Liebe? Michael Girke mit Klaus Theweleit im Kino - und vor dem Fernseher.


Michael Girke: Der enorme Erfolg von Bernd Eichingers Hitlerfilm "Der Untergang", die Welle von Weltkrieg 2 - Dokumentationen im TV; man könnte daraus schließen, dass die Deutschen unterschiedlicher Generationen nun, 60 Jahre danach, eine weiterreichende Auseinandersetzung mit der Zeit von Nationalsozialismus, Krieg und Shoah suchen.

Klaus Theweleit: Wobei wir sehr unterschiedliches zu sehen bekommen. Claude Lanzmanns epochalen Shoah-Film neben allerlei Machwerken, die die Bombardierung Dresdens etwa gegen die Judenvernichtung aufrechnen etc. Lanzmann möchte seinen Shoah-Film z.B. nicht im Zusammenhang mit Eichinger/Fests "Untergang" genannt sehen. Für ihn ist dieser Film die Transponierung der Auseinandersetzung mit NS, Krieg und Shoah in den Bereich fälschender Unterhaltung.

MG: Sieht man genauer hin, leisten Filme und TV-Dokus noch etwas anderes. Sie helfen nicht bei der Durcharbeitung deutscher Vergangenheit, sondern sind Ausdruck aktueller Erfahrungen und Befindlichkeiten, sie zeugen vielleicht auch davon, wie Ökonomie, Politik, Geschichte derzeit empfunden werden: als Folge höherer Gewalt, als verhängtes Schicksal, gegen das man lieber nicht ankämpft. Einübung in Untergangsszenarien: In dieser Perspektive hätte man plötzlich ein Gemeinsames von auf den ersten Blick total verschiedenen Filmen wie "The Day After Tomorrow", "Troja" und "Der Untergang".

KT: Das wären erstmal nur thematische Übereinstimmungen, Ähnlichkeiten von Motivkomplexen. Auf die soll man nicht so viel geben. Aber interessant, wovon Produzenten und ihre Auftragstäter sich das Klingeln der Kassen erhoffen. Man projiziert seine Existenz in mythische Untergänge, "wenn man nicht mehr weiß, wie man das Leben organisieren soll!", wie Heiner Müller sagte. Das gilt immer.

MG: Was halten Sie von der These Siegfried Kracauers, dass Filmbilder Ausdruck psychischer Dispositionen eines Kollektivs, einer Bevölkerung sind?

KT: Einer Bevölkerung? Bewahre! Filmbilder heute sind Ausdruck psychischer Dispositionen von Filmproduzenten. Wenn man Markterfolg und Geldgier als "psychische Dispositionen" anerkennen will. Ich würde lieber von krimineller Energie sprechen.

MG: Aber trifft es nicht zu, dass zentrale Züge von Caligaris Wahn oder des Nibelungen-Films von Fritz Lang, in dem der Untergang zu etwas Erhabenem stilisiert wird, im Polit-Wahn Hitlers sich materialisierten - so wie Kracauer es beobachtete?

KT: Man könnte behaupten, dies hätte zuletzt Syberbergs Hitlerfilm aus dem Jahr 1977 auf seine Weise noch einmal einleuchtend unterstrichen. Der war übrigens auch von Eichinger produziert. Anders als in "Der Untergang" erscheint der Nationalsozialismus bei Syberberg als Suche des deutschen Parzival nach "dem Gral": "Endsieg" und "Endlösung" sind verschoben ins Religiöse, als Erlösung von "dem Übel" alles Irdischen (=Jüdischen). Dieser Film kann allerdings nur schwer als Beleg für Kracauers These herangezogen werden. Syberbergs Versuch, das Phänomen Hitler in sechs Stunden von verschiedenen Seiten der deutschen Geschichte, des deutschen Unbewussten, der deutschen Kunst, sowie der deutschen politisch-kulturellen Aktualität von 1977 her einzukreisen, war im Prinzip analytisch angelegt. Und also nicht mißzuverstehen als "Ausdruck" psychischer Dispositionen einer aktuellen deutschen "Volksseele" von 1918 und auch nicht der von 1977…

MG: …die ja zu diesem Zeitpunkt mit einem anderen Untergang befasst war, nämlich dem der RAF in Stammheim.

KT: Genau. Und der NS-Staat wurde im Zusammenhang mit der RAF eben gerade nicht aufgearbeitet, sondern tatsächlich stimmungsmäßig wiederbelebt. Mit Sätzen wie "Die inhaftierten Terroristen soll man auf der Flucht erschießen", die "Volkes Stimme" damals sprach, übertragen von TV-Kameras, war ja ein Zentralmittel der Nazis bei der Gefangenenbehandlung wieder in die Mitte des öffentlichen Bewusstsein gerückt, aus dem es offenbar nie verschwunden war.

MG: Ich frage mich, ob solche Kontinuitäten nicht anzeigen, dass etwas an Kracauers Wahrnehmung stimmte: dass Film nämlich über die Qualität verfügt, Affektlagen, psychische Konstellationen in Bevölkerungen seismographisch anzuzeigen; Affektlagen, Haltungen, die später dann auch politisch relevant werden können.

KT: Politikern wird ja die Fähigkeit nachgesagt, solche psychischen Konstellationen lesen und sie dann in ihr spezielles Polit-Wahnsystem übersetzen zu können. Das wird wohl die Kunst der sog. Populisten sein. Für mich geht es aber in eine falsche Richtung, wenn beispielsweise ein Theoretiker wie Georg Lukacs aus Martin Luther erst Bismarck, dann Nietzsche, dann Hitler hervorkriechen sieht. Oder Hitler eben aus Caligari. Zum einen verkürzt es diverse Filme, spricht beispielsweise dem berühmten "Das Kabinett des Dr. Caligari" all seine eher anti-hitlerischen Züge ab, z.B. seinen kubistischen Schwarz-Weiß-Expressionismus. Zum anderen: Wer solche historischen Reihenbildungen ernsthaft erwägen will, müsste sich zuerst selber als Teil einer solchen erkennen. Lukacs beispielsweise müsste dann sagen, ich komme aus Robbespierre und Stalin. Das relativiert den Unsinn und man kann ihn diskutieren.

MG: Der Religionsphilosoph Klaus Heinrich deutet Katastrophenfaszination als Ausdruck von Verdrängung, als Weigerung der gleichsam hinter den TV-Schirmen geschützten Zuschauer, Erfahrungen zu machen. An Stelle von Erfahrungen treten, sagt Heinrich, die immer gleichen Serien von Bildern, die als Stimulans aber den realen Tod brauchen. Kann man so sprechen, können Bilder süchtig machen?

KT: Das ist meine Rede seit bald 20 Jahren, Dass der TV-Schirm als Schutzschirm vor Katastrophen und besonders vor Krieg funktioniere. >Wer fernsieht, stirbt nicht< Bei suchtdisponierten Leuten, und das sind die meisten, kann Alles Sucht erzeugen. Das Stimulans von realen Toden erhöht die Durchschlagskraft der Suchtmittel. Irakkrieg und Tsunami waren ideale Amplifyer.

Zu den Erkenntnissen von Eichinger & Co. wird allerdings gehören, dass es Ausdruck der psychischen Disposition von Bevölkerungen sei, ihr Geld für Schrott auszugeben. Eine Sucht. Schrott, den die Kinogänger als beste Unterhaltung und auch noch historische Belehrung konsumieren wie von TV und Presse vorgeschrieben. Als "geil". Nicht Geiz ist geil, sondern die Verschleuderung: "Geld für Scheiße" - diese Formel zieht. Die Käufer wissen genau, was BILD oder Eichinger/Fest anbieten, kann nur Scheiße sein. Es ist der alte deutsche Weg, die eigene Freiheit unter Beweis zu stellen, nämlich durch Anti-Intellektualismus. Die Freude am Beglotzen von Hitler/Bruno Ganz auf der Leinwand besteht in der mitgelieferten Bestätigung, als Zuschauer ein unwissendes primitives Arschloch bleiben zu dürfen. Wie der Arsch da oben, der aus dieser Position sich bald die ganze Welt unterwarf. In aller Unschuld, als Parzival. In aller Heiligkeit, als missverstandener, von seinem Volk verlassener Erlöser. Der Erfolg des "Untergangs" ist zu verstehen als Selbstfeier eines Publikums, dass seine eigene Entmündigung als Filmpublikum unterschreibt. Genau das ist die Absicht dieses Films. Es ist kein Zufall, dass es die Werbung von Medienkaufhäusern ist, die die momentanen Wahrheiten formuliert. Die Sprüche von Media Markt und Saturn: Ich bin doch nicht blöd! Und: Geiz ist geil! gelten umgekehrt: "Ich bin total blöd. Verschleudern ist geil." Zum Fenster raus damit! Freiheit!

MG: Es gibt seit einigen Jahren diesen Boom von Mystery in Filmen und TV Serien. Von "Herr der Ringe" bis eben, seit "Lost Highway", zu David Lynch, der Mystery für Cineasten liefert. In all diesen Filmen und Serien dominiert ein ungeheures Grauen, aber ein namenloses Grauen, es setzt nie Analyse ein: Wie erkläre ich dieses Grauen, woher rührt es, wie komme ich an das heran, was es erzeugt? Nie ist dieses Grauen Ausdruck von oder verbunden mit aktueller Geschichte.

KT: Ja, für die meisten Serien und Filme stimmt das absolut. Sie spielen sozusagen im Geisterreich der Touristenliebe zu Sonnenuntergängen an thailändischen Küsten an einem 25. Dezember des Jahres X. Für Lynchs Filme stimmt es aber in der Regel nicht. "The Straight Story" als Beispiel: Dieser Film, in dem ein alter Mann in Amerika seinen tausend Meilen entfernten sterbenden Bruder besuchen will - er tut dies mangels eines anderen Fahrzeugs auf einem motorisierten Rasenmäher - ist mir im Nachhinein aufgegangen als der amerikanische Film über den Zweiten Weltkrieg. Was in Deutschland immer die verborgene Geschichte ist - was haben wir mit den Juden gemacht, mit dem Osten, mit den Polen und Russen, mit den Zwangsarbeitern -, das taucht bei Lynch auf als: Was haben wir Amerikaner im Krieg eigentlich unter uns gemacht? Der Protagonist von "Straight Story" hat seinen besten Freund erschossen, weil er ihn für einen feindlichen Späher hielt. Weil es an einer falschen Stelle geraschelt hat. Lynch lässt es erscheinen wie eine Fortsetzung der Indianerkriege. Wo es raschelt, da ist Bedrohung, da wird hingeschossen. Und dabei trifft es eventuell my best friend. Das ist das Trauma einer Generation, dieser Trecker fahrenden, auf Holzveranden sitzenden und als Überlebende unglücklicher Familien in die Dämmerung starrenden alten Männer. Die dem nachtrauern, was früher der Westen war, die Freiheit und der Sieg im Krieg. Das alles ist gelandet in Whiskeyflaschen und in einem trostlosen Sterben - nur der Sternenhimmel leuchtet groß und unbeeindruckt über dieser trüben Szenerie. Das ist z.B. ein richtig guter Geschichtsfilm.

MG: In diesem Moment kommt Charlie Chaplins "Der große Diktator" wieder ins Kino, der 1939 gedreht ist, vor dem Sichtbar Werden des Massenmörderischen an Hitler. Die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch schreibt, Chaplins Burleske sei ein versuchter Tyrannenmord mittels Lachen. Wozu mir Ihr Satz von 1995 über Jean Luc Godards Kriegsfilm "Die Carabinieri" einfällt: "20000 Kopien davon nach Bosnien und der Krieg ist vorbei" Kann man ähnliches auch über Lachfilme wie den von Chaplin sagen, hat es Deutschland vor und nach 33 nicht verstanden seine Dämonen und Dämonisierer auszulachen?

KT: Ich weiß nicht, ob man Chaplins Großen Diktator einen "Lachfilm" nennen sollte. Niemand hat Hitlers mörderisches Gestammel, seinen aufgeladenen Wortsalat, besser zu Gehör gebracht als Chaplin; niemand den Umgang des "Führers", von Führern überhaupt mit der Erdkugel besser als Chaplin. Chaplin war kein "Seher". Er hat aber genau hingesehen und wahrgenommen, was an Hitler 1938 bereits sichtbar war: der aufgeblasene kriminelle Rassist im Gewand eines Staatschefs einer (angeblich) angesehenen und (angeblich) zivilisierten Nation.

MG: Gertrud Koch erwähnt einen Text des französischen Kritikers André Bazin, der 1945 schrieb, Chaplin habe Hitler mit dem "Großen Diktator" seinen Bart abgenommen, ihm sein Bild enteignet, wodurch Hitler zu einer marginalen Figur wurde. Da scheint mir das Wunschdenken derer zu dominieren, für die Film das Größte ist.

KT: Dass Bazin das so gesagt haben sollte, scheint mir zweifelhaft. Zuerst einmal hat doch Hitler dem Chaplin seinen Bart gestohlen, dies Wahrzeichen des Tramps, des stolpernden Underdogs, der trotzdem triumphiert - akrobatisch, ähnlich wie die großen Tänzer im amerikanischen Musical. Mit dem "Großen Diktator" hätte Chaplin dieses Zeichen dann von Hitler zurückerobert, bzw. für Hitler unbrauchbar gemacht. Dass Hitler dadurch zu einer marginalen Figur geworden wäre, überschätzt leider die Kräfte eines Films gegenüber staatlich sanktionierten Massenmördern. Dass Hitler durch Chaplins Film aber alle komischen Züge verloren hätte, das kann man sagen. Chaplins Film enthüllt Hitler als den Mann unsagbaren, also nur "komisch" zu verhandelnden Grauens. Chaplin hat übrigens nach dem Krieg, in der Mc Carthy Ära dauernden Ärger wegen seines Hitler Films gehabt, als angeblicher Kommunist, und hat deswegen schließlich Amerika verlassen.

MG: Wenn "Der Große Diktator" oder Lubitschs "Sein oder Nichtsein" früher im TV liefen, wurde vorher, von höchster Stelle verordnet, stundenlang erörtert, ob Lachen in diesem Kontext erlaubt sein soll. Joachim Fest hat Chaplin mangelnden Ernst vorgeworfen. Hitler sei jemand, dem mit Lachen nicht beizukommen sei.

KT: Was für ein Quatsch. Lubitsch hat doch schon 1944 mit seinem "Sein oder Nichtsein" das Gegenteil bewiesen. Eine polnische Theatertruppe stellt mit Hilfe von Shakespeare-Texten und eines Hitler-Doppelgängers, mit den Mitteln der Screwball Comedy die deutschen Besatzer Warschaus als Leute dar, die im Umgang mit allen Sorten menschlicher Realitäten so hoffnungslos überfordert sind, dass ihnen nur Terror als alltägliche Umgangsform bleibt. Der Anspruch der Nazis auf Weltherrschaft wird damit als ein spezifischer Wahn des unentwickelten Deutschen kenntlich. Man lacht die ganze Zeit während des Films und alles ist todernst. Während Fest/Eichinger aus Hitler eine Charaktercharge machen, darstellbar von einem Großschauspieler à la Bruno Ganz, den rasenden Dämon an der Macht, völlig losgelöst vom Rest "der Deutschen", die, ob Sekretärin oder General, jeder offenbar die "Vernunft" verteidigt haben. "Der Untergang" entspricht voll und ganz der Fest- Direktive, ist in der Tat kein "Lach-", sondern ein lächerlicher Film. Chaplins und Lubitschs filmische Beschreibungen dagegen sind gültig bis heute als Darstellungen "deutschen Wesens" vor 45, von dessen Art die Welt zu beglücken.

Übrigens hat Fest große Teile des Untergang-Drehbuchs von Georg Wilhelm Pabsts "Der letzte Akt" aus dem Jahr 1953 als Gerüst für seinen Film benutzt. Der Eindruck beim Sehen dieses alten Films - wozu soll man diesen Drecksack von Hitler auch nur eine Sekunde lang "leibhaftig" auf der Leinwand als "Person" agieren sehen - wiederholt sich jetzt beim "Untergang". Kern meines Buches Männerfantasien war die Erkenntnis, dass "Hitler" nicht als einzelne Figur verstehbar und darstellbar ist, sondern als eine Art Zusammenfassung der Züge der völkischen Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert. Hitler ist eine Synthese des deutschen Wahns dieser Zeit. Das hat Canetti mit "Masse und Macht" begriffen, das haben Adorno und die anderen Autoren von "Der autoritäre Charakter" begriffen, Roberto Rossellini hatte das begriffen mit seinem Film "Deutschland im Jahre Null" aus dem Jahr 1946, Syberberg mit seinem Hitlerfilm hatte das begriffen, jeder Mensch, der etwas begreifen will, hatte das begriffen. Fest/Eichinger sind ein absoluter Rückschritt all demgegenüber, aber kein ungewollter, sondern ein absichtlicher. Ein Löschkommando historischer Kenntnisse und Einsichten.

MG: Sie erwähnen Roberto Rossellini. Jean Luc Godard sagt in seinen "Histoire(s) du Cinéma", das italienische Kino nach 1945 sei das einzige jemals gewesen, in Europa und weltweit, in dem eine Nation ohne zu verdrängen sich im Spiegel betrachtet habe - was natürlich auch gedacht ist als Vorwurf ans dominierende Kino nach Hollywoodmodell und dessen Anhänger in allen politischen und intellektuellen Lagern.

KT: Die italienische Resistenza fängt ja faktisch erst 1943 richtig an, nach dem ersten Sturz Mussolinis. Italien hat 1943 mitten im Krieg die Fronten gewechselt. Das bot die Chance für viele Italiener, auch für Filmemacher, sich als die Antifaschisten zu zeigen, die sie vorher überwiegend nicht waren. So eine tolle Chance hatte vorher kein Kino der Welt. Die italienischen Filmemacher haben sie dazu genutzt, für das ganze Land die Beichte und die Absolution zu besorgen. Nach Rossellinis Filmen "Rom, offene Stadt" und "Paisa" - die den spontanen wie auch den organisierten Widerstand in den Jahren 1944/5 gegen die Deutschen zeigten, die von Bündnisgenossen des faschistischen Italien mit einem Male zu Besatzern geworden waren - hatte Italien vor der ganzen Welt wieder eine politisch weiße Weste. Der damalige italienische Botschafter in den USA berichtet, wie ihm diese Filme wieder die Türen in Washington öffneten. Er wurde empfangen als zivilisierter Mensch. Rossellini ging dann nach Berlin und hat die Arbeit der Bestandsaufnahme des Faschismus für die Deutschen noch mitgemacht mit seinem genialen "Deutschland im Jahre Null" - ein Film, den die Deutschen aber nicht haben wollten, den sie zensierten, verstümmelten, in der Kritik verrissen und dann vor dem deutschen Publikum versteckten. Eben das wurde in Deutschland Tradition. Und eben das meint Godard mit seinem Lob der Italiener, dass sie ihre Mussolini-Gefolgschaft nicht versteckten, sondern in ihren Filmen bearbeiteten, wobei die Formel "ohne zu verdrängen" etwas übertrieben ist. Richtiger wäre es zu sagen, dass man, besonders in Rom (ganz anders als in Mailand oder Florenz) sehr wohlwollend mit Mussolini-Anhängern umging, die bereit waren, die Seiten zu wechseln, d.h. unter die Fittiche der römischen Kirche oder auch der Kommunistischen Partei sich reumütig zu begeben. Das, was ab 1959 Paris war, nicht nur für die Nouvelle Vague, sondern für die Welt des Films insgesamt, was Berlin für die 20er Jahre war, was davor und danach Hollywood war, das ist für die Nachkriegsjahre Rom: Die Welthauptstadt des Films. Selbst die spätere Bewegung gegen den Neorealismus, Antonioni etwa, profitiert noch von diesem Aufbruch, dieser Offenheit des italienischen Films 1944ff.

MG: Um nur mal anzufangen die Unterschiede dieser italienischen zu unserer nur sogenannten Filmkultur zu beschreiben: Es gibt nicht einen einzigen Film von hier, der einer deutschen Familie, ihrer Geschichte so in ihre Abgründe sieht, wie es Visconti mit der Krupp-Familie gemacht hat.

KT: Ja, "Die Verdammten". Das ist reines Schauspielerkino mit Dirk Bogarde, Helmut Berger, Ingrid Thulin, wie ich es sonst nicht sehr schätze. Wie Visconti aber Geschichte anfasst, wie er die Kruppfamilie zeigt zwischen den Polen alkoholisierter Wandervogel - Homosexualität, Kinderschändung, den Konflikt dieser Brüder, Neigung zur SA beim einen, Neigung zu Wehrmachtoffizieren mit SS im Hintergrund beim anderen. Dann die exakten Szenen der Erschießung der Röhm-Leute im Juni 1934, weggeholt aus ihren nächtlichen Sauforgien: Solche Züge des deutschen Nazifaschismus haben Deutsche im Film nie thematisiert, auch in der DDR nicht, das haben tatsächlich nur Italiener gemacht. Und die Chance dazu hatten sie, weil sie Italien gleichsam offiziell entfaschisieren durften mit Kino.

MG: Sie haben mit "Männerphantasien" ein Buch über deutsche Gewaltgeschichte geschrieben, das die Lust der Täter am Foltern, Quälen und Töten herausarbeitet. Und dieses Thema weiter verfolgt in ihrem Buch "Deutschlandfilme", in der Untersuchung von Pier Paolo Pasolinis "Salò; oder Die 120 Tage von Sodom". Reichen Filmbilder als Grundlage einer nachhaltigen Auseinandersetzung mit Gewaltgeschichte oder braucht es Texte, Gespräche, konzentriertere Annäherungsweisen?

KT: Kino ist nicht alles, aber ein entscheidender Wegbereiter oder auch Schleusenöffner. Es öffnete, zunächst in Italien, die Pforten für alle Arten der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte unter Mussolini und dann unter der deutschen Besatzung. Für mich waren es aber auch immer Bilder des amerikanischen Kinos, ein grinsender Wärter beim Schlag ins Kreuz eines Gefangenen mit einer "falschen" Antwort, oder des japanischen Kinos, die kalte Freude im Gesicht eines Exekutors beim Zerfetzen eines Körpers, welche erstens die Gewissheit bestätigten, "dass es so etwas gibt" und zweitens die Frage nicht ruhen ließen, wie so etwas funktioniert. Warum ganz bestimmte Leute Lust an direkter Gewaltausübung haben. Mit dieser besonderen psychophysischen Konstellation "Lust aus der Gewalt", "Gewalt als Lust", "Sexualität als Terror und Gewalt", "Arbeit als Vernichtung" will niemand etwas zu tun haben - obwohl sie doch so offensichtlich an zentralen Stellen unserer Kultur immer wieder in Erscheinung treten - und historisch in Erscheinung getreten und ganz "privat" um einen herum sind, z. B. in Gestalt jenes Kannenschleppers, "Hilfsarbeiters" der Molkerei, deren Rampe ich auf meinem Schulweg passierte, 1948 im schleswig-holsteinischen Dorf Ostenfeld, und dort stand dieser schräge Typ mit so einer beschädigten Kriegsmütze, grinsend, zog sein Taschenmesser heraus und sagte, damit schneid ich dir die Ohren ab, wenn du wieder hier vorbeikommst. Grins. Ich änderte meinen Schulweg und dachte an viel, um es mit Johann Peter Hebel zu sagen. Das war eine Vorstufe zum Kino - ich war sechs -, deren Realität das Kino später bestätigte.

Wenn man, noch später beim Bücherschreiben, darauf kommt, dass die Gewaltsamkeit dieser Täter etwas mit negativen Symbiosen zu tun hat, mit einem nie wirklich Hinausgelangtsein aus frühkindlichen Bindungen und Symbiosen mit einer Mutter, die als verschlingend oder anders gewaltsam empfunden wurden, aus ganz allgemeinen Formen der körperlichen psychischen Zerstörung also, ist man ziemlich dicht auch immer an eigenen Zuständen und Zuständen derer, die man (zu) gut kennt. Danach zu bemerken, dass es einen ganzen Kanon äußerer institutioneller Zugriffe auf den Körper gibt, um einen soldatischen Körper, einen Sportskörper, einen Arbeiterkörper, einen Beamtenkörper aus ihm zu machen, ist so nahe liegend, dass es einen wundert, wieso die meisten Leute beispielsweise auf eine Foucault-Lektüre angewiesen sind, um so etwas zu bemerken, es "für real" zu halten. Im Kino waren diese Leser jedenfalls nicht, bzw. nur in seiner "Untergangsform", dem Lachfilm mit Beppo Brehm oder dem Lachhaft-Film mit Eddie Arendt und Joachim Fuchsberger. Mit Pasolini war es wieder ein Italiener, der entscheidende Weichen stellte. Den Blick justiert das Kino, stärker als das Gelesene.

MG: Europäische Geschichte als Gewaltgeschichte spielt auch in den Mythenfilmen Pasolinis, in "Ödipus" und "Medea" eine Rolle - welche inneren Probleme, Triebe, Spannungen, welche Konflikte der Menschen der Antike sind bis heute nicht gelöst; wodurch wurde Europa dieses Massengrab auf dem wir es versuchen uns einzurichten - diese Auseinandersetzung wird in "Salò" radikal zugespitzt. Kann man in Pasolinis Gewaltästhetik aufklärerische Züge ausmachen, mitten in all dem Scheißefressen, Foltern und Wichsen einen Protest gegen das Dargestellte?

KT: Bis heute nicht gelöst ist die im Extremfall uneingeschränkte Möglichkeit der Gewaltanwendung von Herrscherfiguren - und das heißt auch: familiärer Figuren - in der europäischen Geschichte. Wer z.B. im Ancien Regime ein oberster Jurist, Landbesitzer, Herzog war, konnte machen, was er wollte, unterlag in keiner Weise irgendwelchen Einschränkungen. Die "Freiheitsidee" der französischen Revolution war für so jemanden schon deswegen absurd, weil er im Stand der absoluten Freiheit lebte. Im Stand absoluter faschistischer Freiheit, wie Pasolini mit de Sade formuliert: machen zu können, was man will, und zwar mit und gegen jeden, ohne dass Gesetzesgewalt über einem sei. Dies mit dem überlegenen Gelächter des wirklich Freien (Arschlochs).

Dass diese Sorte Freiheit zu tun hat mit einer bestimmten Sorte zerstörter Körperlichkeit kann man an De Sade selbst, anhand seiner Biografie ablesen. Er war ein weggegebenes, rumgeschobenes Kind, elternlos, aristokratisch, gesetzlos und frei. Wenn man ohne Bindung, aber mit allen Möglichkeiten, Schranken zu übertreten, aufwächst, entsteht eine Art gewalttätige Bösartigkeit in der Person, die dann genossen werden kann. De Sade nimmt sich davon nicht aus, er ist nicht einfach Gegner der Libertins, wie sie sich selbst nennen, sondern durchaus der, der mit ihnen empfindet - weswegen er sein Thema der grenzenlosen sexualisierten Gewalt auch dermaßen entfalten kann. Außer in der französischen Kultur - von Roland Barthes bis Simone de Beauvoir haben so gut wie alle über de Sade geschrieben, an ihm ihre Differenzierungen vorgenommen - war dieser Denkkomplex sonst nirgendwo präsent in Europa. Wer nach dem 2. Weltkrieg diese französische Diskussion nicht im Kopf hatte, konnte auf der Ebene eigentlich gar nicht denken.

So knüpft Pasolinis Film mit Recht an diese Diskussion an. Aber er geht in seiner Gewalt- und Faschismusauseinandersetzung viel weiter als alle anderen Filmer. Aus Pasolinis Perspektive ist in dem "existentialistischen Kino", das auf den Neorealismus folgte, die politische Dimension komplett weggefallen. Er will den Neokapitalismus bearbeiten, die Welt, die die neue Bourgeoisie der italienischen Demokratie, die er als unmenschlich empfindet, großgezogen hat. Deren Bedeutung und Relevanz zu stürzen mit Kino, betrachtet er als seine Aufgabe. Als Verbündete sieht er das Subproletariat der italienischen Metropolen, die Aufstandsbewegungen der Dritten Welt, und die sich endlich von der katholischen Kirche loslösende Sexualität der jungen Generation. In diesem Punkt findet er die Studentenbewegung zunächst toll, verliert dann aber diese Hoffnung - die Studenten machen nur bürgerlichen Schnickschnack, befreien sich ein bisschen persönlich, sind politisch aber unbedeutend. Nach den Erfahrungen von Vietnam, von Kambodscha, von China, nach diversen afrikanischen Desastern brechen auch die Hoffnungen auf die antikolonialen Bewegungen der Dritten Welt zusammen. Überall setzen sich neue Diktatoren an die Spitze, das Morden geht auf anderer Ebene weiter. Es ist also nicht nur das bürgerliche Neokapital, das auf der Welt herummordet. Mit Frantz Fanon und Sartre sah es ja so aus, als könnten sich all diese Länder entwickeln zu sozialistischen Enklaven, die sich gegenüber den imperialistischen Staaten behaupten. Aber nein, die drei Befreiungsbewegungen, auf die Pasolini (und nicht nur er) gesetzt hat, fallen weg. Über diese Wahrnehmung wird er eine so isolierte und gleichzeitig radikale Figur wie niemand sonst in diesem italienischen Kino. "Aufklärerisch"? Das Wort reicht nicht. Es geht schon um die Fähigkeit des Zuschauers, das Angebotene wahrzunehmen und anzunehmen. Wer bei der simplen Ekelgrenze verharrt, wird daran scheitern. Als "Salò, oder die 120 Tage von Sodom" Ende der 70er in die Kinos kam, hatte ich "Männerphantasien" gerade fertig geschrieben, hatte also den faschistischen Terror ziemlich komplett im Kopf und bin damit in diesen Film rein. Mir ist es so gegangen, wie mit manchen Godardfilmen, ich war überfordert, da passierten Dinge auf der Leinwand, die ich nicht unterbringen konnte in meinem Aufnahmeapparat. In manche Filme muss man drei bis vier mal gehen, bis man sie sieht. In Deutschland waren wirkliche Tatbestände des internationalen Faschismus kaum in der Diskussion; also wusste kein Mensch auf Anhieb, was Salò war. Nämlich Mussolinis letzter Aufenthaltsort am Gardasee in seiner sog. Republik von Salò, eine Quarantäne unter der Ägide der Deutschen. Außerdem hatten die Verleiher den Namen Salò aus dem deutschen Verleihtitel entfernt. Man konnte Pasolinis Film also gar nicht angemessen begreifen. Meine Teil-Immunität gegen die Pasolini-Bilder bestand aber auch darin, dass ich dachte, ich habe das in "Männerphantasien" alles besser beschrieben, "genauer". Das stimmte nicht. Die Filmbilder, wenn man sie zulässt, sind präziser, scharfkantiger; sie graben sich tiefer ein als das Gelesene, sind unabweisbarer. "They flash upon my inward eye", wie William Wordsworth von seinen Narzissen sagte. Er hielt das für den "Segen des Alleinseins". Der ist einem heute gründlich genommen.

MG: In der Debatte der "Folterbilder" aus Abu Ghraib gibt es von BILD über die Feuilletons und Politikkommentare bis hin zu Kunstprofessoren eine seltene Einmütigkeit, dass es richtig sei, sich diese Bilder nicht anzugucken, sich ihnen nicht auszusetzen. Das wirkt wie der Ausdruck einer Gesellschaft, die nie ein realistisches Verhältnis zu sich selbst, zu ihrer eigenen Geschichte hingekriegt hat.

KT: Welche Gesellschaft hätte das schon? Daran kranken alle Gesellschaften. Darum gibt es jedes Mal bei Bildern wie denen aus Abu Ghraib diesen allgemeinen Aufschrei: "Wie ist so was möglich?" Ein deutlichster Beleg dafür, dass die Leute nach wie vor nicht hinschauen, die Bilder nicht in ihre Speicher aufnehmen. Leute, die sich ein bißchen auskennen mit Militär oder mit Gefängnissen sagen: Diese Gewalt passiert doch jeden Tag, wie ist es möglich, dass sie nie unterbunden wird? Sie wird nicht unterbunden, weil sie nicht wahrgenommen wird. Sie "existiert" schlicht nicht. Wo die Vernünftigen bzw. Wissenden sagen "Ich kenne das alles", schreien die Verrückten auf "So etwas hat es ja noch nie gegeben, wie kann eine zivilisierte Nation so was machen?" Der gleiche Aufschrei also, den es immer wieder zu Auschwitz gibt: "Wie konnten die Deutschen mit all ihrer Musik, Kultur und Philosophie so etwas machen?" Dies ist offenbar die real existierende dominante Umgangsform mit Gewaltphänomenen. Eine radikale Verleugnung. Warum? Es gibt verschiedene Antworten. Die naheliegendste: Die Leute sind selbst verstrickt in Gewaltgeschichten, familiär, mit ihren Frauen, ihren Kindern, im Verein oder im Betrieb. Sie tabuisieren also dieses Thema, tabuisieren überhaupt die sogenannte softe Gewalt im Alltag. Also all das, was ich "Personenverbrauch" nenne. In Beziehungen passiert es immer, dass einer die andere Person vermindert, sie aussaugt, sich was rausnimmt. Das Fiese daran ist, dass so etwas nicht als offene Auseinandersetzung laufen muss, nicht einmal als feindselige, sondern als ganz normaler Lebensprozess einer verdeckten permanenten Gewalt. Wenn man den nicht beachtet, thematisiert und problematisiert, dann läuft es immer weiter so. Die Menschen haben eine Ahnung davon, dass ihr Alltag ein Gewaltverhältnis ist, aber thematisieren wollen sie es unter keinen Umständen. Weil sie das täglich zur Reflexion zwingen würde; sie zwingen würde, zu denkenden Leute zu werden. Die Menschen halten das offenbar nicht aus. Dazu kommt erschwerend, dass es bei denen, die diese Wahrnehmung aushalten, noch nicht heißt, dass das ihnen etwas nützt. Man kann alles wunderbar beachten und reflektieren und das Leben kann trotzdem in Gewaltverhältnisse münden und zu Bruch gehen. Es gibt keine Garantie, dass man irgendetwas dafür bekommt, wenn man sich darauf einlässt, das eigene Leben und die zwischenmenschlichen Gewaltverhältnisse analytisch zu betrachten.

So schreien dann immer alle einmütig bei allen (bestbekannten, aber nie gesehenen) Foltereien, den privaten wie bei denen hinter Gefängnismauern: "Nein, wie ist es denn möglich…", und "wir als Kulturmenschen". Das eben ist unsere "Kultur".

MG: Realismus ist keine romantische Haltung, verspricht keine Gratifikationen...

KT: Genau, dass ich ein bisschen realistischer unglücklich werde als der Rest, ist ja keine besonders tolle Aussicht. Die wäre, dass sich ein bißchen was ändert. Das passiert auch zuweilen. Unter den Leuten, die ich kenne, aber eigentlich nur bei denen, die sich auf ihre Kinder eingelassen haben. Daraus resultiert ein anderer Umgang; die Kinder merken, dass sie anders behandelt werden, dass sie nicht in einer Geschichte aufwachsen, in der sie nur über das Tatsächliche "belogen" werden. Ich habe aber immer auch diejenigen nicht gemocht, die ihren Sechsjährigen erzählen, wie schrecklich Atomkraftwerke sind, was die alles anrichten können. Wir haben so etwas unseren Kindern immer so spät wie möglich erzählt. Bloß nicht Kindern mit den Üblen der Welt im Nacken sitzen. Wenn also jemand sagt, zeigt die Hinrichtung dieses Amerikaners um acht Uhr in der Tagesschau, dann würde ich sagen "Bloß nicht!" Das ist ein Überfall, das ist fies. Aber wenn Kinder Gewalt wahrnehmen, wenn sie von sich aus fragen, was mit den Juden in Deutschland los war, dann müssen Erwachsene die zutreffenden Antworten geben. Warum werden in bestimmten Ländern Südamerikas, Afrikas, Asiens von bestimmten Volksgruppen, Militärs und Diktatoren Demokratien vernichtet; warum werden hier oder dort 200.000 Leute oder auch 2 Millionen hingeschlachtet und mit welchen Methoden; was ist Gewalt auf der Welt und was ist Lust an der Gewalt? Und dann würde ich einen Film wie Pasolinis "Salò oder Die 120 Tage von Sodom" und auch die Abu Ghraib-Bilder für absolut angemessen empfinden, gerade als Schul- und Unterrichtsstoff. Aber für vorbereitete Schüler von vorbereiteten Lehrern.

MG: Das beschreibt so etwas wie eine Selbstverständlichkeit oder Souveränität, über die in dieser Debatte offensichtlich niemand verfügt. Den Normalfall sieht man, wenn beispielsweise Moderatoren der Sendung "Kulturzeit" angesichts von Abu Ghraib die Frage stellen "Was sollen wir mit diesen Bildern anfangen?" Wer so fragt, macht sich keine Arbeit mit Bildern, produziert überhaupt kein eigenes Verhältnis zu ihnen. Es ist Ausdruck vollständiger Regression, wenn alles delegiert wird an Autoritäten, an Experten.

KT: Was für Experten? Einer führender Politikredakteur einer Tageszeitung, Stefan Reinecke, schrieb in einem Artikel (sinngemäß): In den 90er Jahren sind wir dazu erzogen worden und haben gelernt, dass alles auf der Welt doch irgendwie regelhaft verläuft und regelbar ist. So etwas wie Abu Ghraib konnten wir nicht erwarten. Wo hat der das her? Wie kann man sich solche Illusionen machen - auch noch in den 90ern? Das sind Indizien dafür, dass die Weigerung, sich mit den Tatsachen auseinanderzusetzen so ungeheuer groß ist, dass man Generalverdrängungen als Alltagsnormalität unterstellen muss.

Vor ein paar Monaten war ich in Wuppertal, bei einer Gruppe, die sich "Stiftung W (iderstand)" nennt. Die haben einen Workshop gemacht über Pasolini. Einige haben "Salò" angeguckt, viele aber nicht. Wir redeten darüber, warum nicht. Es gab ein wiederkehrendes Argument: "Ich will durchaus alles über Folter wissen, ich will auch alles dazu lesen, aber ich will die Bilder nicht sehen". Ich fragte: "Warum nicht, was ist die Differenz, was tun die Bilder zu Eurem Lesen dazu, was Ihr nicht ertragen könnt?" Niemand konnte das beantworten. Am Ende der Diskussion sagte jemand: "Ich glaube, weil wir uns auf Pasolinis Folterbildern selber in der Opferrolle sehen. Ganz gleich, wer auf der Leinwand gefoltert wird und Scheiße fressen muss, wir setzen unsere eigenen Lebensprozesse an der Stelle ein: Werde ich arbeitslos, fliege ich raus, habe ich kein Geld, wer macht mich aktuell zur Sau? Auf den schrecklichen Bildern, das bin ich." Darüber ließ sich in der Gruppe Einigung erzielen. Mehrere sagten: "Wenn ich jetzt wirklich meine reale Situation einsetze, nämlich die Bedrohung, unsere Gesellschaft könnte mich jetzt in eine solche Position bringen, dass ich sozusagen an einer Leine übers Pflaster laufen und Scheiße fressen muss, dann kann ich diese Bilder der Folterungen anderer im Kopf nicht ertragen." Das war eine schöne Belehrung über den Zusammenhang von drohender eigener Arbeitslosigkeit und Angst vor den Bildern eines Films wie Pasolinis Salò.

MG: Kann man Ihr Buch "Der Knall" über die Reaktionen vieler Intellektueller auf die Bilder vom 11. September nicht auch als Kinobuch bezeichnen? Sie kommen darin zu dem Schluss, dass viele nicht mehr wissen, was sie meinen, wenn sie das Wort Realität benutzen, keinen haltbaren Realitätsbegriff mehr haben. Zugleich schreiben Sie, dass es DIE Realität, die für alle verbindlich ist, nicht mehr gibt; es gibt deren viele. Das kann heißen, Sie haben einen polyphonen Realitätsbegriff, es kann aber auch heißen, Sie geben, wie es derzeit intellektuelle Mode ist, die Unterscheidbarkeit zwischen Realität und Nicht-Realität, zwischen Wahrheit und Lüge auf. Bleibt ein ermittelndes Schreiben wie Ihres, nicht an Aufklärung gebunden und an tatsächliche Erfahrungen der Menschen?

KT: Gewiss bleibt es das. Aber warum soll man so ein beschränktes Wort wie Aufklärung benutzen? Erstens hat es eine militärische Seite, kommt vom Militär, das wissen will, wie es besser zerstören und bombardieren kann. Auf der anderen Seite bedeutet Aufklärung immer: Ich ersetze ein schlechteres Wissen durch ein besseres. Als Aufklärungsflugzeugs ist das viel zu wenig. Man muss mehr lernen, zum Beispiel, dass eine Sache, die in einem Bereich gilt, in einem anderen Bereich nicht gilt. Weil da andere Machtverhältnisse herrschen, andere Parameter, weil dieselben Sachverhalte ganz anders verhandelt werden. Wenn man in Berührung bleiben will mit diesen verschiedenen Sorten von Realitäten, dann muss man sich offen halten für verschiedene Wahrnehmungsweis- und Redeweisen, sie nicht nur zulassen, sondern entwickeln. Aus irgendeinem der existierenden Denksysteme unterscheiden in wahr/nicht wahr, das gibt es, glaube ich, nicht mehr. Das haben die Geschichtsphilosophen seit Kant und Hegel versucht. Danach haben Marx und ein bisschen Lenin versucht, das in die Dialektik zu retten, in der es wenigstens zwei Sichtweisen und eine Dynamik zwischen ihnen gibt. Es gibt aber nicht zwei Sichtweisen, es gibt acht, zwölf, sechzehn. Je nachdem, ob man sich in der Quantenphysik oder im Kindergarten bewegt, gelten verschiedene Realitätsarten und damit auch Redeweisen. In einer anderen gelten die Redeweisen der Fantasy-World von Harry Potter oder Herr der Ringe. "Nicht-Realität"? Das gibt es nicht.

MG: Muss über die diversen Einzelwirklichkeiten hinaus nicht auch, aufbauend aus einer Pluralität, das Verbindende betont werden, das damit beginnt, dass die Menschen denselben Planeten bewohnen, sich mit denselben ausbeutenden oder zerstörerischen Kräften konfrontiert sehen? Anders gefragt: Ist es nicht gerade das Zurichtungsprojekt der Ökonomie, die Leute als Extremindividuen auseinander zu dividieren, jenseits des Konsums keinerlei gemeinsames Projekt, keine solidarische Kultur zu betonen, zu denken, zu entwickeln?

KT: Dass wir alle prinzipiell dieselben Menschen seien mit denselben zwei Armen, Beinen und denselben Rechten, lockt keinen Hund mehr hinter seinem Ofen vor. Die Menschen der verschiedenen Kulturen sind different, erleben sich so und wollen es auch sein. Wollen z. B. terroristisch sein gegenüber anderen Menschen, Kulturen, Religionen. Die Gemeinsamkeiten? Bestehen darin, dass alle Fernsehen, dass alle Handy-talken, es sind elektronische Gemeinsamkeiten. Politische Gemeinsamkeiten bekommt man nur hin entweder auf terroristischer Ebene (Krieg, Selbstmordattentate) oder in überschaubaren, abgetrennten Bereichen ohne Großöffentlichkeit. Die neuerdings beliebte Rede von der "Weltinnenpolitik" (Horst Köhler etc.) ist ein vergiftetes Bonbon, geboren aus Katastrophengelegenheit. Sie verdeckt Interessen, vorzugsweise Interventions- und Investitionsabsichten. Natürlich machen Schröderfischer ihre 500 Millionen Seebebenhilfe vor allem locker, um ihre elektronischen Kontrollfinger in die nächste "Tsunamiabwehr" zu bekommen. Der größte Geldausgeber in Sachen Hilfe ist also selbstverständlich George W. Bush.

MG: Neulich sah man Sie in einer Fußballsendung, in der auch der Systemtheoretiker Dirk Baecker einen Freestyle-Rap zum Thema beitrug - dass die Erde eine Kugel ist, hatte plötzlich mit Fußball zu tun. Sie verwahrten sich gegen dieses beliebige Assoziieren, betonten, dass Sie als Kind mit Fußball und Radio nicht irgendwas auf der Ebene der Zeichen, sondern ihren Bezug zur Realität hergestellt haben. Ihr Denken und Schreiben ist also ein Gegenmodell zum reinen Begriffsapparat des Systemtheoretikers, in welchem Alltag, konkrete Realität praktisch nicht mehr vorkommt. Ich möchte von hier aus noch einmal auf Klaus Heinrich zurückzukommen. Er beschreibt als einen dominierenden Zug postmoderner und systemischer Theorien: die Eliminierung des urteilenden Subjektes. Auch hierin sieht Heinrich ein Moment der Katastrophenfaszination, nämlich die Faszination, vom Subjekt der europäischen Aufklärung befreit zu sein - diesem Wirklichkeit erfahrenden und erkennenden, Widerstand gegen geschichtlich produziertes Leiden leistenden, vielleicht enttäuschten, auf jeden Fall belasteten Subjekt. Heinrich geht soweit, die Ausschaltung jeder Erwartung und Forderung in den postmodernen Theorien als deren komplizenhaftes Mitmachen bei Projekten der Macht, der Ökonomie, der Verwaltung, bei Selbstzerstörungsprozessen der Gattung zu bezeichnen. Können Sie mit einer solchen Diagnose etwas anfangen?

KT: Kann ich absolut unterschreiben. Das beschränkt sich aber keineswegs auf Intellektuelle oder Theoretiker einer bestimmten Richtung. Komplizenschaft wächst mit Nähe zur Macht. In allen Radiobeiträgen, die ich in den letzten Wochen aus Porto Allegre von den internationalen Konferenzen der Globalisierungsgegner gehört habe, ging es um Klagen wie z. B. die, dass radikale Feministinnen zum "Mainstream" konvertieren, sobald sie in politische Einflusspositionen und mit Geldvergabe in Kontakt kämen. Von Bestechlichkeit mag man gar nicht reden. Macht korrumpiert. Alle Sorten von Intellektuellen.

MG: Manchmal, wenn sie über die Zukunft von Technologie oder Ökonomie schreiben, hat man den Eindruck, ähnlich wie beim Medientheoretiker Friedrich Kittler, Geschichte sei über Menschen verhängt. Dass es so was nicht gibt, wie eine Einspruchs- oder Widerstandsmöglichkeit. Häufig sagen Sie, man könne sich allenfalls immunisieren gegen den herrschenden Mainstream, ändern könne man nichts.

KT: Der Gedanke, dass eine bestimmte neue Technologie Realitäten verhängt über Leute, ist bei Friedrich Kittler in der Tat sehr stark. Im Einzelfall teile ich diesen Gedanken nicht unbedingt. Weil ich weiß, dass in kleinsten Einheiten des Zusammenlebens und Produzierens Sachen oft anders verlaufen, unberechenbarer, irrwitziger, zufälliger. Wir leben in Welten von Ungleichzeitigkeiten. Eine Technologie schlägt nie so durch, dass sie alle auf die gleiche Weise dominiert. Das ist übrigens ein Punkt, zu dem ich neulich einen Einwand von Godard hörte gegen Foucault: Foucault würde immer sagen, welche Leute sich in welchem Zeitalter so und so verhalten haben, weil ein neuer Machtdiskurs ihnen dies diktierte; vielleicht aber war es für viele Einzelne ganz anders. Diesen Godard’schen Einwand finde ich richtig. Ich habe über lange Jahre einen freundschaftlichen Streit mit Friedrich Kittler darüber. Er sagt z.B., alles >Neue<, das in der Literatur auftaucht, gibt es vorher schon bei Ingenieuren. Das kann man tatsächlich zeigen, z.B. an all den Horrorerfindungen der romantischen Literatur; die Galvanisierung, die Lokomotiven, technisch-mechanische oder elektrische Erfindungen gehen den Szenerien der Texte voraus. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall: in der Literatur, in Traumgebilden, in phantastischen und surrealen Gebilden und Szenerien Vorwegnahmen von Technologien. Konfrontiert mit solchen Auseinandersetzungen, finde ich mich meist in einem Zwiespalt. Ich sage: Beides stimmt. Man kann etwas ändern. Man kann nichts ändern. Beides trifft zu.

MG: Besonders bei Ihrem "Buch der Könige" wirkt es, als gäbe es für den Text feste Adressaten, nämlich die Linke, genauer, Ihre Generation, die 68er, deren blinde Flecken aufgedeckt, deren Geschichtsauffassungen um viele Ebenen erweitert werden, um die technologischen und medialen Seiten der Wirklichkeit. War es jemals eine Hoffnung für Sie, die damals aufstrebenden Grünen, also Realpolitik schreibend zu beeinflussen?

KT: Als das "Buch der Könige" erschien, waren die Adressaten schon nicht mehr die aufstrebenden Grünen, die zu dieser Zeit, also 1988, schon Sündenfälle der verschiedenen Art hinter sich hatten: Ihr komischer Parlamentarismus, die beginnende Koalitionspolitik, die Trennungen von ihren "Fundis". Nachdem die 70er K-Gruppen, KPD/ML, KBW und die RAF erfolgreich versucht hatten, kaputt zu machen, was an Sprachenvielfalt entstanden war und an Versuchen, verschiedene Zugänge zu Realitäten zu finden - das hatte sich seit Anfang der Sechziger entwickelt und war für mich ein entscheidender Teil von 68 - war "Männerphantasien" der Versuch gewesen, etwas davon lebendig halten, einen Zugang zu all dem für Leute zu bieten, die noch daran hingen oder die danach kamen.

Mit dem "Buch der Könige" habe ich über den Kontext der Faschismusabwehr hinaus-, und in andere Lebenspraktiken hineingesehen. In das, was ich vorhin den Personenverbrauch genannt habe, nun aber auf der Ebene der Kunstproduktion. Ein anderer tabuisierter Bereich, ähnlich der alltäglichen Gewaltausübung. Ich habe diese verdeckte Geschichte der Gewalt von Künstlern gegenüber Frauen beschrieben, ihre kunstvoll verdeckte Vereinnahmungsform weiblichen Lebens, die Umarbeitung der Schönheiten des weiblichen Körpers in männliche Kunstformen, zum Beispiel Gedichte. Was ihre "reale" Geliebte, meist eine Expertin für bestimmte Medientechniken, das Leben kostet. Nicht nur "die Frau" in den Texten. Relevant waren für mich dabei eigene Beobachtungen sowie die meiner Frau und anderer Frauen und Männer, die wir kannten. In der feministischen Mainstreamtheorie gab es dazu nur sehr primitive Konfliktmodellbeschreibungen. Die Frau wurde zwar als Opfer der männlichen Produktionsverhältnisse gesehen, gleichzeitig aber als Muse inthronisiert, weitergefeiert als "Inspiratorin" der großen Werke. Die Kunst sollte also irgendwie gerettet werden als das Andere, das "Bessere" unserer Kultur. Sie ist aber auch ein Gewaltverhältnis, in dem die Liebesgeschichten zwar auch solche sind, andererseits aber auch dazu da, die Kunst zu befeuern. Die Produktionssexualität schlägt schließlich um in eine Selbstmordanleitung für die Frau.

Eine der Absichten vom "Buch der Könige" war, dass die Leute das verbreitete Wort Muse aus dem Wortschatz entfernen und etwa durch "mediale Frau" ersetzen möchten oder sollten. Das wurde nicht akzeptiert. Zu viele hätten ihre eigene Lebenspraxis überdenken müssen, auch viele Frauen ihre (strategische) Leichtsinnigkeit beim Verlieben. Das ist ja bei bestimmten der Terminologie nach "feministischen" Frauen nach wie vor sehr stark, dass sie ein Faible haben für Leadertypen oder offensichtliche Großgangster (nicht nur) der Kunstbereiche.

MG: Freiwillig, weil sie auf bestimmte Züge reinfallen oder weil die Essenz westlicher Liebe in erster Linie aus Illusionen besteht?

KT: Alles, natürlich. Untergangsfaszinationen kommen immer aus dem eigenen "Nahleben". Das "Buch der Könige" ist stark in die Richtung von Leuten geschrieben, von denen ich wusste, sie befinden sich in diesem Stadium der Auseinandersetzung: Was passiert in meiner Beziehung; wer produziert was, wer kümmert sich um die Kinder, die Arbeit, die Bücher? Ich habe vergeblich versucht, diesen unsinnigen Begriff der "Reproduktion" zu bekämpfen, den amerikanische Feministinnen dauernd benutzten und benutzen für diese Arbeit der Frauen, die man "Kinderkriegen" nennt. Die Geburt von Kindern, also die Erzeugung neuen Lebens, ist die primäre gesellschaftliche Produktion von Frauen - was ist da "Re"? Was Produktionsweisen des Alltäglichen sind, Produktionsweisen des Sexuellen, Produktionsweisen der Kunst, Produktionsweisen des Lebengebens und des Lebennehmens, des Lehrens und Lernens, das haben viele bis jetzt nicht kapiert. Nicht kapieren wollen (s.o.)

Es gibt einen schönen Satz von Diedrich Diederichsen, der zu "Buch der Könige 1" schrieb: Das ist so was wie die Vorarbeit zu einem Kapital der Liebes- und der Kunstproduktionsbeziehungen. Antje Vollmer hat mich mal nach Bonn eingeladen, dass ich solches der Grünenfraktion vortrage. Ich habe aber damals eine Menge Reaktionen bekommen, besonders von Künstlerfrauen und Künstlern. Viele Männer schrieben "dieser Orpheus, den sie beschreiben, das ist genau mein Umgang mit einer Kette von Frauen." Diese Thematik ist systematisch wieder beseitigt worden aus dem Öffentlichen. Die Frau eines Künstlers, die heutzutage sagte, mein Mann beutet mich aus, würde ausgelacht. Godard ist einer der wenigen, die diese Frage nach den alltäglichen Produktionsprinzipien nicht fallen gelassen haben, wie Leben und Arbeit und Lieben und Wohnen zusammenhängen, Beziehungen, Kunst, Kinder, Medien, politische Macht und Frauen. Wenn ich aber das deutsche Feuilleton angucke: Ich kenne keinen einzigen Text, in dem der Begriff der Produktionssexualität auch nur mal aufgegriffen worden wäre. Da wird das ewige Beschwören von, Nichtgenies, Klein- oder Großgenies und ihren inspirierenden Musen stupide fortgesetzt. Das Feuilleton wird von nichts Wirklichem erreicht.

MG: Im Gegenteil, da gibt es eher eine Wiederkehr der Großkünstler, Großpolitiker und ihrer "Co- Subjekte".

KT: Oder auch des Großphilosophen, wie Sloterdijk ihn gibt.

MG: Schreiben Sie ein Buch über das Verhältnis von Filmbildern und realer Gewalt wie "Deutschlandfilme" mit bestimmten Lesern vorm Auge, oder ist das heute komplett diffus, nicht mehr fassbar?

KT: Das ist nicht fassbar. Wie gesagt, bei "Buch der Könige 1" wusste ich genau für welches Publikum ich schreibe, bei "Buch der Könige 2" dachte ich es zu wissen, es hat sich aber nicht recht realisiert. Erst recht nicht bei den Pocahontas-Büchern. Gut besprochen, aber wenig Leser. Amerika historisch interessiert hier nicht. Alles Wounded Knee und Winnetou. Aber zurück zum "Buch der Könige 2": Die zwischenmenschlichen und die Staat-Mensch-Machtverhältnisse, die Thema dieses Buches sind, sind mehrbödig, kompliziert. Sie verlangen eine Offenheit, ein Entgegenkommen der Leserschaft, eine Bereitschaft zur Selbstreflexion und zum Eingestehen gewisser eigener Verhaltens- und Verfahrensweisen. Machtmenschen, zu denen ich auch die Journalisten zähle, lieben solche Beschreibungen eigener Verfahren gar nicht. Journalisten sind der Berufszweig, der eine Problematisierung seines Berufes noch weniger zulässt als Politiker und Juristen. Bei manchem Automechaniker, Arzt oder Ingenieur wird man dann und wann kritische Blicke auf sich selbst antreffen, bei Journalisten nicht. Total dicht. Vor der letzten Wahl fing Franz Müntefering seinen Streit mit BILD an, weil das Blatt Schröder offen bekämpfte, ihn abwählen wollte, nachdem sie vorher wunderbar kollaboriert hatten. Plötzlich machte BILD die Sachen mit den Bonusflugmeilen öffentlich und Münte ein Riesentheater, weil Personalia und Privates von Politikern veröffentlicht wurden. Er versuchte, BILD das zu verbieten. Da hat fast die gesamte Presse, von der Süddeutschen Zeitung über TAZ und FAZ sich sofort solidarisch erklärt mit den Helden von BILD. Dabei wäre ein solches Gesetz vollkommen in Ordnung. Natürlich muss den Presseschurken untersagt werden, in jede private Geschichte reinzufingern, nur weil ein Politiker sich einen Freiflug ergattert hat und er ein angeblich öffentlicher Mensch ist. Aber alle schrieen, die Pressefreiheit solle unterminiert werden. Was für eine Dreckskaste. Ein solcher Korpsgeist wie in der deutschen Presse findet sich allenfalls noch bei alten Wehrmachtsoffizieren. Künstler dagegen lassen wirklich manchmal etwas an Selbstwahrnehmung zu - wenn sie nicht Günter Grass heißen und in der Nobel-Liga spielen. Ich habe noch nie so viel Geschwurbel über Sprache und das Dichterische gelesen von Elfriede Jelinek, wie nach ihrem Erhalt des Nobelpreises. Wie ein waidwunder Hirsch. Schwer getroffen von der Einsicht, dass sie nun nie wieder für Geld würde schreiben müssen. Eine Katastrophenfaszination. Von diesem Untergang wird sie sich hoffentlich erholen.


© Girke/Theweleit 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 39/2006
https://www.theomag.de/39/mg6.htm