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Magazin für Theologie und Ästhetik


Der Kult der Freiheit

"Easy Rider" und die Religion

Jörg Herrmann

Was hat der Film "Easy Rider" mit Religion zu tun? Was haben diese vergnügungssüchtigen Motorrad-Hippies, die kiffen, Trips schmeißen, vom Drogenhandel leben und auf dem Weg zum Karneval in New Orleans sind, mit einer so ernsten Sache wie Religion zu tun? Eine Menge, glaube ich. Ich will versuchen, Ihnen diese These nahezubringen und dabei auch einige filmhistorische Bemerkungen über "Easy Rider" einflechten. Einen ersten Hinweis auf die religiöse Dimension dieses Road Movie erhält der Zuschauer gleich zu Beginn. Peter Fonda, alias Captain America, entledigt sich seiner Armbanduhr und wirft sie weg. Diese Geste markiert einen Aufbruch in einen Erfahrungsraum jenseits der Normalzeit, in einen ekstatischen Raum. Dafür steht auch das Ziel der Reise: der Karneval. Dafür stehen die Drogen, der mythische Ort New Orleans, die ekstatischen Naturerfahrungen.

Doch bevor ich die religiösen Spuren weiter verfolge, sind noch ein paar religionshermeneutische Vorbemerkungen notwendig. Das Thema der Religion ist vieldimensional. Elementar ist zunächst die Unterscheidung zwischen kulturell objektivierter und subjektiv gelebter Religion, zwischen den religionshermeneutisch aufweisbaren religiösen Sinnstrukturen in kulturellen Texten auf der einen Seite also und der Rezeption und Aneignung dieser Sinnstrukturen durch die Rezipienten auf der anderen Seite: ihrer Aufführung gewissermassen. Was diese Rezeptionsseite angeht, so ist "Easy Rider" ein exponiertes Beispiel. Der Film gilt nämlich als Kultfilm, "der Kultfilm einer ganzen Generation" heißt es auf der Hülle meiner Videokassette. Ich will meine religionshermeneutische Betrachtung von "Easy Rider" mit einigen Beobachtungen und Überlegungen zu diesem Kultstatus des Films beginnen. Zunächst: Was ist eigentlich ein Kultfilm?

Kultfilme lassen sich – so viel ist klar - nicht planen, produzieren, vorhersehen. Sie werden ganz allein vom Publikum gemacht. Es sind oft Kassenerfolge, aber nicht jeder Kassenerfolg ist schon ein Kultfilm. Was ist also das Geheimnis des Kultfilms?

Kultfilme treffen einen Nerv des Publikums. Eine Äußerung von Wim Wenders zeigt, wie weit das gehen kann. Wenders beschreibt, was er fühlte und dachte, als er 1969 aus einer Vorstellung von "Easy Rider" kam: "Ich habe vor dem Columbia-Haus gestanden und gemerkt, dass ich tatsächlich so aussehe wie die Leute in dem Film, dass ich die Musik von Jimi Hendrix mag, dass ich in vielen Lokalen nicht bedient werde, dass auch ich wegen Nichts im Gefängnis gesessen habe. Irgendwann werden die Leute auch schiessen, habe ich gedacht."

Aber Kultfilme bringen nicht nur eine Zeit und ein Lebensgefühl auf den Punkt. Ihre Wirkung geht weiter. Sie schaffen es, ihre Zuschauer in bestimmter Weise zu aktivieren, ihre Kreativität zu mobilisieren. Sie erreichen eine solche Nähe zum Lebensgefühl ihrer Zuschauer, sie verkörpern so treffend ihre Sehnsüchte und Werte, ihre Ideale und ihren Geschmack, dass die Zuschauer sie immer wieder sehen wollen, sie sozusagen immer wieder an sich drücken wollen - wie ein Kind seinen geliebten Teddybären. Die Liebe der Kultisten zu ihrem Film äußert sich dabei in vielfältiger Weise: Dialoge werden mitgesprochen, Szenen durch Jauchzen oder Johlen kommentiert, manchmal nachgespielt. Oft spielen Requisiten eine wichtige Rolle in der Praxis der Kultisten: Gegenstände aus dem Film oder die Kleidung der Protagonisten. Der Film wird so zum Drehbuch für das eigene Leben. Er löst kreative Nachahmung aus.

Kultfilme müssen also vor allem Identifikationsmöglichkeiten bieten. Das ist ein wesentliches Kriterium. Ein anderes scheint die Abweichung von der Norm zu sein. Normgerechtes Verhalten schafft keinen Kult. Aber das Anderssein fasziniert. Es schockiert die Mehrheit und fasziniert die Minderheit der Kultisten. Kultfilme markieren darum oft kulturelle Umbrüche. So auch "Easy Rider".

Filmkulte haben dabei immer Züge einer neuen Religion. Die Nähe zum Religiösen wird schon durch den Begriff Kult angezeigt. Denn der Begriff stammt ja aus der Sphäre des Religiösen. Er bezeichnet die geregelte Form des Umgangs mit dem Göttlichen, die Pflege und Verehrung des Heiligen: den Gottesdienst, könnte man auch sagen. Zwei Gesichtspunkte sind dabei wichtig: die rituelle Praxis, also das Moment der Wiederholung, und die zentrale Stellung der Gottheit, die Orientierung an einem Heiligen also, das im Mittelpunkt der Kulthandlung steht.

Beim Filmkult nimmt der Film diesen zentralen Platz ein. Ihm wird gehuldigt und nachgelebt, er steht für letzte Werte und Sinnstrukturen. Dabei ist die Wirkung eines Kultfilms in der Regel zeitlich begrenzt. Manchmal ist der Hype Jahre später kaum noch nachvollziehbar. "Tut mir leid, aber ich weiß echt nicht, was an diesem Film so toll sein soll", schreibt eine junge Frau auf den Internetseiten von film.de über "Easy Rider". Ihr sei der Film einfach zu langweilig. Doch ihre Stimme ist eher eine Ausnahme. "Easy Rider" hat sich gut gehalten. Verbreiteter ist auch heute noch das ebenfalls auf den film.de-Seiten zu findende Urteil: "Einfach Kult – muss man gesehen haben." Sogar im Olymp der Lieblingsfilme heutiger Jugendlicher ist "Easy Rider" noch anzutreffen. Das zeigt u.a. die Medienbiographie eines im Rahmen einer empirischen Studie von 2001 befragten 19-jährigen Abiturienten. Für ihn verkörpert "Easy Rider" das Gefühl des Aufbruchs in ein eigenes Leben.

Die Kultwirkung reicht bei "Easy Rider" so weit, dass im Frühjahr 2003 - 34 Jahre nach dem amerikanischen Kinostart im Juli 1969 - mit der Arbeit an einer Fortsetzung begonnen wurde. Dieses Vorhaben ist sicher auch im Zusammenhang einer gewissen Konjunktur der 1960er und 1970er Jahre zu sehen.

Der Film verkörpert zentrale Elemente des Lebensgefühls der 68er Generation. Er kam unter chaotischen Bedingungen zustande, wurde der US-Einspielhit des Jahres 1969 (etwa 500.000 $ gekostet und knapp 20 Millionen $ eingespielt) und markierte eine Zäsur in der amerikanischen Filmgeschichte. "Easy Rider" bildete nämlich den Auftakt für das sogenannte "New Hollywood"-Kino, für die gegenkulturelle Erneuerung Hollywoods. Der Film half den Weg zu bahnen für Regisseure wie Coppola, Scorsese, Altman, Spielberg und Lucas, für Filme wie "Der Exorzist", "Der weisse Hai", "Taxi Driver", "Krieg der Sterne", "Apocalypse Now" und "Wie ein wilder Stier".

Dennis Hopper wurde 1969 in Cannes als der beste Debütregisseur ausgezeichnet. Jack Nicholson wurde für einen Oscar nominiert. Dennis Hopper und Peter Fonda (zweiter Hauptdarsteller, Mitautor und Mitproduzent) konnten nie wieder an diesen Erfolg anknüpfen. Für Nicholson hingegen brachte die Oscarnominierung einen Karriereschub. Für ihn ging es jetzt erst so richtig los. Dabei war seine Mitwirkung zunächst gar nicht vorgesehen. Er kam erst später hinzu, als Hopper meinte, eine massenkompatible Identifikationsfigur integrieren zu müssen.

Viele Elemente des Films wurden erst on the road erdacht, Teile der Geschichte, Figuren, Dialoge. Dabei gab es immer wieder Streit und viel Haschisch und Alkohol. Peter Biskind, Autor eines filmhistorischen Mammutwerkes über die New Hollywood-Ära, schreibt:

"Auf gewisse Weise war "Easy Rider", wie Buck Henry meint, ein Werk ohne Autor, eine Art Écriture automatique der Gegenkultur. Er (Henry) sagt: 'Niemand wusste, wer der Autor, wer der Regisseur und wer der Cutter des Films war. Erst sollte Rip mitspielen, doch dann wurde er durch Jack ersetzt. Der Streifen sieht aus, als sei er aus Hunderten von Schnittresten diverser Filme zusammengestückelt, die durch einen Soundtrack aus der besten Musik der Sixties verbunden werden. Doch er schlug eine Bresche. Von da an saßen die Kinder von Dylan an den Schalthebeln."

Über die Arbeit am Schnitt berichtet einer der Produzenten: "Wir hatten jeden Tag ein Screening. Dabei wurden Unmengen von Dope geraucht, doch es gab kaum einen Fortschritt im Sinne von 'Dies wird herausgenommen, und das wird noch mal überarbeitet’. Dennis liebte den Film, so wie er war, in seiner ganzen Länge." Diese Fassung dauerte viereinhalb Stunden. Nach einem Jahr ohne Ergebnis schickten die Produzenten Dennis Hopper in einen verlängerten Weihnachtsurlaub und ließen den Film auf 94 Minuten schneiden. Hopper tobte. Schließlich akzeptierte er.

Zur Premiere in Cannes erschien Fonda in der Uniform eines Kavalleriegenerals der Unionstruppen und mit einem falschen Vollbart. Niemand konnte sich darauf einen Reim machen. Fonda wollte mit seiner Maskerade ausdrücken, dass er sich und seine Generation mitten in einem Bürgerkrieg sah.

"Easy Rider" ist also auf jeden Fall ein Dokument der Zeitgeschichte. Aber welche Bezüge hat der Film zum Religiösen? Sein Kultfilmcharakter ist zumindest schon einmal ein Indiz für seine Religionshaltigkeit. Doch welcher Kult wird mit "Easy Rider" gefeiert? Welche Religion wird in ihm verkündet?

Um diese Frage noch genauer zu beantworten, will ich eine weitere religionshermeneutische Unterscheidung machen. Es handelt sich um die Differenzierung zwischen expliziter und impliziter Religion. Dabei geht es zum einen darum, sich ein Bild davon zu machen, wie religiöse Traditionen und Motive in Filmen explizit aufgegriffen und verarbeitet werden. Gibt es Zitate aus dem Bereich religiöser Traditionen in Form von Texten oder Bildern? Zum anderen geht es um das Herausarbeiten der impliziten Religion, man könnte auch sagen: der unsichtbaren Religion des Kinos. Gemeint sind damit diejenigen Sinnstrukturen, die erst auf der Basis eines spezifischen Religionsbegriffes als religiös erscheinen.

Ein solcher Religionsbegriff muss von den konkreten Gestalten der Religionskultur abstrahieren. Er muss eine gewisse Weite haben, darf aber auch nicht so weit sein, dass er mit dem Kulturbegriff zusammenfällt, keinen Differenzierungsgewinn mehr erbringt und das Spezifische des Religiösen so ganz aus den Augen verliert. Substantielle Begriffe von Religion sind für diesen Zweck zu eng gefasst. Geeignet ist ein funktionaler Begriff von Religion, der für substantielle Näherbestimmungen offen ist. In der Praktischen Theologie hat man sich in dieser Frage an religionssoziologischen und religionsphilosophischen Konzepten orientiert. Wilhelm Gräb hat vor diesem Hintergrund den Vorschlag gemacht, Religion als "die Kultur der Symbolisierung letztinstanzlicher Sinnhorizonte" zu verstehen.[1] Religion ist, mit etwas anderen Worten, die Kultur der symbolischen und poetischen Auseinandersetzung mit der Rätselhaftigkeit und den letzten Fragen des Daseins. Diese Auseinandersetzung findet in unterschiedlichen Medien statt: in der Bibel, in der Philosophie, im Roman, im Film. Wenn letzte Fragen berührt werden, wenn es um einen letzten Sinn, einen letzten Gedanken geht, lässt sich in dieser Perspektive von Religion sprechen. In einem weiten Sinne.

Die Begriffe implizite und explizite Religion markieren dabei ein Spektrum, das natürlich nicht übergangslos ist. Im Grenzbereich liegen zum Beispiel strukturelle Parallelen. Eine den Evangelien verwandte narrative Struktur mag aus der Sicht unseres umgangssprachlichen Religionsverständnisses und unseres normalen Zuschauerblicks nicht unbedingt an Christliches erinnern. Auf den zweiten Blick kann sie jedoch als ein wichtiges Merkmal im Ensemble der Verwandtschaften zwischen traditioneller Religionskultur und heutiger Filmkultur erscheinen. Auch "Easy Rider" lässt sich in dieser Hinsicht in den Blick nehmen. So könnte man auch hier fragen, ob die narrative Grundstruktur von Hoppers Film nicht manche Ähnlichkeit mit der biblischen Erzählung vom Leben und Sterben Jesus hat. Sind nicht beide Geschichten Passionsgeschichten mit langer Einleitung wie ein Theologe die Evangelien einmal genannt hat? Stehen nicht Billy und Captain America wie Jesus für eine Revolte gegen leere Traditionen und überkommene Machtverhältnisse und für ein neues, anderes und freieres Leben? Und sind sich die Biker und Jesus nicht auch im Tod ähnlich? Darin, dass das Neue, das sie verkörpern, als bedrohlich erfahren wird und ausgelöscht werden muss?

Eindeutiger als auf dieser strukturellen Ebene lassen sich die Bezüge im Bereich der expliziten Religion aufweisen. Es gibt allerlei Gebete und christliche Texte in dem Film. Ich nenne die Stellen der Reihe nach: Da ist zunächst das Tischgebet des Familienvaters, bei dem sie einen Reifen wechseln; ein weiteres Gebet spricht ein Mitglied der Landkommune, die sie später aufsuchen. Interessant ist, dass bei diesem Gebet offen bleibt, an wen es sich richtet. Es wird um das Aufgehen der Saat gebetet und für die Kraft gedankt. Ein weiteres Versatzstück der Tradition ist das gesungene "Kyrie Eleison", das während des Essens nach dem Tod Hensons eingespielt wird. Im Anschluss wird der Bordellbesuch wie ein letzter Wille des Verstorbenen vollstreckt. Und ausgerechnet in diesem Bordell findet sich der Satz installiert: "Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden." Der christliche Soundtrack setzt sich fort, als die Protagonisten sich dem Mardi Gras-Umzug anschließen - wenn ich es richtig im Ohr habe mit "When the Saints go marching in". Ein ganzes Feuerwerk an christlicher Tradition wird schließlich in der darauf folgenden Friedhofsszene abgebrannt: Eine der Prostituierten rezitiert das Glaubensbekenntnis, immer wieder sind Kreuze im Bild, später ist dann auch das Gebet "Gegrüsset seist du Maria" zu hören und darauf das Vaterunser. Der LSD-Trip, der biographische Krisen auslöst (eine der Prostituierten möchte Mutter werden, Fonda hingegen rechnet mit seiner Mutter ab), wird mit religiöser Semantik aufgeladen. Hier verwirbelt sich alles: Drogenvisionen, Generationskonflikte und Religion. Man kann diese Szene als Vorausdeutung auf den nahen Tod der Hauptfiguren lesen, als, will man das Augenmerk weiterhin auf die Parallelität zur Jesusgeschichte legen, letzte Leidensankündigung. Aber auch ohne so weit zu gehen, verstärken die vielen christlichen Zitate den Eindruck der Nähe der Protagonisten zur Figur Jesu.

In welcher Mission sind sie nun unterwegs auf ihrem Trip durch Amerika? Welches Evangelium verkündet "Easy Rider"? Um es gleich und deutlich zu sagen: Das Evangelium der Freiheit. Diese frohe Botschaft, diese implizite und unsichtbare Religion von "Easy Rider" wird dabei zu großen Teilen audiovisuell vermittelt. Ich denke dabei vor allem an die Bilder der Freiheit, die dieser Film immer wieder zeigt: das Fahren durch die Weite der Landschaft, durch Canons, Täler, Berge. Der Blick, der immer wieder in den Himmel geht, die Musik, die das wilde, das freie Leben beschwört. Diese Freiheitsbilder haben naturreligiöse Akzente. Es ist ja schließlich ein Sichbewegen in der freien Natur, ein Verschmelzen (Transzendieren), wie es zum Beispiel deutlich wird, als sie zu dritt losfahren und Henson alias Nicholson hinten auf dem Motorrad sitzend mit den Armen Flügelbewegungen nachahmt oder als die Kamera sich immer wieder in einen sonnendurchfluteten Baum richtet, ein Motiv, das flashartig wiederkehrt, die Sonne immer näherbringend und sich zum Schluss in Unschärfe auflösend. Es geht um "Anschauung des Universums", könnte man mit Schleiermacher auch sagen. Auch das Baden im Natursteinbad am Fluss hat naturreligiöse Qualitäten, erinnert an Paradiesmotive. Eschatologisch-apokalyptisch kommentiert und unterfüttert wird diese naturreligiös konnotierte Freiheitsreligion durch Hensons erste Lagerfeuerrede: Er spricht über Außerirdische, die angeblich unter uns seien und die von einem Planeten unseres Sonnensystems kämen, auf dem es keine Kriege mehr gibt, kein Geldsystem und keine Regierung. Diese Venusmenschen (Naturreligion!) seien unter uns, um die Menschheit auf ihrem Weg zur Gottesebenbildlichkeit zu beraten. Ziel seien Verhältnisse, in denen sich jeder frei entfalten könne. Die Bezüge zum 21. Kapitel in der Offenbarung des Johannes liegen auf der Hand. Aber klar ist auch: es gibt kein richtiges Leben im falschen, jedenfalls nicht auf Dauer. An ihrem letzten Abend fahren die beiden Biker in den Sonnenuntergang hinein.

Insbesondere im Blick auf das nun folgende Ende fiel mir auf, dass der Film nicht nur viel mit Religion, sondern auch einiges mit einem anderen Film zu tun hat, in dem es ebenfalls um Amerika geht und der gerade unlängst in unseren Kinos lief: Ich meine den Dokumentarfilm "Bowling for Columbine" von Michael Moore. Erlauben Sie mir einige spekulative Bemerkungen zu diesen intermedialen Bezügen. So wie Moores Film in mancher Hinsicht als prophetische Vorausdeutung auf den Irak-Krieg gelesen werden konnte, könnte man auch "Easy Rider" als Vorausdeutung auf spätere Entwicklungen interpretieren. Viele werden heute jedenfalls der Äußerung von Jack Nicholson in der Rolle des versoffenen Anwaltes Henson zustimmen, der am Abend vor seinem Tod am Lagerfeuer zu den beiden Bikern über Amerika sagt: "Wisst ihr, das war mal ein ganz herrliches Land, ich kann gar nicht verstehen, was auf einmal damit los ist." Hopper in der Rolle des Billy antwortet: "Tja Mann, alle haben sie Schiss, das ist, was los ist. Wir kommen nicht mal in ein zweitklassiges Motel. Sie denken, wir schneiden ihnen die Kehle durch." Es lohnt sich, diesen Lagerfeuerdialog über Angst und Freiheit noch etwas ausführlicher in Erinnerung zu bringen. Henson fährt fort: "Sie haben keine Angst vor dir. Sie haben Angst vor dem, was du für sie repräsentierst." Billy: "Alles, was wir für sie repräsentieren, ist nur jemand, der sich nicht die Haar schneidet." Henson: "Oh nein, was du repräsentierst, ist Freiheit." Billy: "Was haben sie denn gegen Freiheit? Darum dreht sich doch alles."

In der Nacht, die auf diesen Dialog folgt, werden die drei überfallen. Henson wird dabei zu Tode geprügelt. Wenig später werden auch die beiden Übriggebliebenen getötet, vom Motorrad geschossen. Vor dem Hintergrund des oben zitierten Dialoges interpretiert der Film diese Gewalttaten als Reflex einer unbestimmten Angst vor dem Anderen. An der Wurzel der Gewalt diagnostiziert er Angst. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch "Bowling for Columbine": eine in die amerikanische Kultur eingeschriebene Paranoia, ein ständiges subkutanes Sich-Bedroht-Fühlen macht den Unterschied, führt dazu, dass den Amerikanern die Waffe so locker sitzt – weit lockerer eben als den Kanadiern zum Beispiel, die Moore bei seinen Recherchen über Feuerwaffen und ihren Gebrauch zum Vergleich heranzieht.

In "Easy Rider" siegt die Angst, der Hass. Aber natürlich nur, um dem Plädoyer für die Freiheit umso mehr Nachdruck zu verleihen. Der oberste Wert, der letzte Sinn ist Freiheit. Die Freiheit zur individuellen Entfaltung, die individuelle Freiheit, man selbst zu sein. "Ich wollte noch niemals jemand anders sein", bekennt Captain America so ziemlich zu Beginn ihrer Reise. Man kann dieses Freiheitspathos des Films auch als einen spezifischen Ausdruck der Zivilreligion Amerikas und diese wiederum als Transformationsgestalt eines besonders freiheitssensiblen Protestantismus deuten. Wie breit das Spektrum dieser Civil Religion allerdings auch ist, zeigt die ebenfalls religiös konnotierte Freiheitsrhetorik der Bush-Administration. Religion ist eben nicht gleich Religion. Man muss auch hier kritisch urteilen. "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen", empfiehlt das Neue Testament. Ist die 68er Revolte – ein globales Phänomen übrigens – auch politisch weitgehend gescheitert, kulturell hat sie sich als Befreiungsimpuls erwiesen. Daran hat "Easy Rider" Anteil.

Anmerkungen
  1. Wilhelm Gräb, Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998, 51.

© Jörg Herrmann 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 38/2005
https://www.theomag.de/38/jh11.htm

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